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Ausgabe:

Juli/August/2008

Spalte:

825–827

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Pohlig, Matthias

Titel/Untertitel:

Zwischen Gelehrsamkeit und konfessioneller Identitätsstiftung. Lutherische Kirchen- und Universalgeschichtsschreibung 1546–1617.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2007. XIV, 589 S. gr.8° = Spätmittelalter, Humanismus, Reformation. Neue Reihe, 37. Lw. EUR 99,00. ISBN 978-3-16-149191-7.

Rezensent:

Dirk Fleischer

Dass Geschichtsschreibung für die Identität sozialer Gruppen von zentraler Bedeutung ist, ist seit Langem bekannt. Durch die Anerkennung gemeinsamer Vorstellungen über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft begreift sich die Gruppe – trotz aller individuellen Unterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedern – als ein Zusammenschluss von Menschen, die sich im Wandel der Zeit als Gruppe behaupten wollen. Die Beschäftigung mit der Geschichte dient dann der Selbstvergewisserung der Gruppe. Diesen Sachverhalt nimmt Matthias Pohlig in seiner im April 2005 von der Philosophischen Fakultät I der Humboldt-Universität zu Berlin angenommenen Dissertation »Zwischen Gelehrsamkeit und konfessioneller Identitätsstiftung« auf und rekonstruiert auf der Grundlage umfangreichen Materials die sich entwickelnde ›konfessionelle Identität‹ des frühen Luthertums.
Im Anschluss an seinen Doktorvater, Heinz Schilling, der be­kanntlich mit Wolfgang Reinhard für das gesellschaftsgeschichtliche Paradigma der Konfessionalisierung steht, fragt er jedoch nicht nur nach dem Einfluss historischer Deutungsarbeit auf den Prozess der Identitätsbildung, sondern vor allem auch nach dem Zusam­men­hang von Historiographie und Konfessionalisierung. Dabei versteht er unter einer Konfessionalisierung von Geschichtsschreibung »mehr und anderes« als die Tatsache, »daß auch lutherische Autoren Geschichte schrieben« (31). D. h., eine solche Konfessionalisierung kommt durch spezifische Inhalte und durch eine po­lemische bzw. konfessionsstabilisierende Funktion der Ge­schichts­schreibung zum Ausdruck. Heuristisch geht P. bei seiner Analyse der Geschichtsdeutung im frühen Luthertum nicht von der alten Vorstellung von der Orthodoxie als einem monolithischen Block aus, vielmehr versteht er das Luthertum mit Thomas Kaufmann »als in sich plurale Konfession« (8).
Der Untersuchungszeitraum der Studie reicht von Luthers Tod im Jahre 1546 bis zum ersten Reformationsjubiläum im Jahre 1617. Das Reformationsjubiläum dient P. als Endpunkt, weil »zu diesem Zeitpunkt alle für das konfessionelle Zeitalter relevanten und später immer wieder aufgerufenen Modelle lutherischer Geschichtsschreibung ausgebildet waren« (7). Alle untersuchten Quellen stammen aus dem deutschsprachigen Raum, wobei dies natürlich lateinische Werke einschließt. Dabei handelt es sich vor allem um zwei Gruppen von Quellen: die Universal- und die Kirchengeschichtsschreibung. Ein Personen- und ein Sachregister runden eine gelungene Untersuchung ab.
Die Untersuchung beginnt mit einem kurzen Überblick über die Entwicklung der Geschichtsschreibung vom Mittelalter über den Humanismus und die Reformationszeit bis zum konfessionellen Zeitalter, um so die Spezifika der protestantischen (Kirchen-)Ge­schichtsschreibung des 16. Jh.s besser darstellen zu können. Bereits dieser knappe Überblick verdeutlicht, dass weder die reformatorische noch die konfessionelle Geschichtsschreibung einen methodischen, d. h. wissenschaftsspezifischen Zugriff auf das Quellenmaterial vornahm. Die Geschichte wird aus didaktischen Gründen erzählt und ist dem aus der Antike übernommenen Topos der historia magistra vitae verpflichtet. Daneben vertraten die Gelehrten die Auffassung, dass aus der Geschichte auch das Verhältnis der Menschen zu Gott erkannt werden kann. Folgerichtig bestand eine enge Verbindung zwischen der Theologie und der Historiographie. Die Geschichte konnte so als »apologetisches, polemisches oder auch exegetisches Instrument« genutzt werden (79).
Dass Luthers Geschichtstheologie der Ausgangspunkt für die geschichtstheoretische Reflexionsarbeit vieler lutherischer Historiker war, kann nicht überraschen. Die für die weitere Entwicklung des Geschichtsdenkens im Luthertum maßgeblichen Gesichtspunkte werden daher von P. aus der Theoriebildung Luthers herausgearbeitet und auf den Geschichtsdiskurs des frühen Luthertums bezogen.
Von zentraler Bedeutung im Identitätsdiskurs des frühen Lu­thertums war für die lutherischen Historiker die Frage nach dem Umgang mit den vorreformatorischen Quellen und Ge­schichts­werken. Sie beantworteten diese Frage ganz im Sinne der vormodernen Geschichtsauffassung: Bei ihnen erfolgte die historische Erinnerungsarbeit durch Kompilation, d. h. durch das Sammeln, Auswerten und Kopieren wichtiger Quellen oder bedeutender Geschichtswerke. Es stellt sich somit auf Grund dieses methodischen Verfahrens die Frage, wie eine spezifisch lutherische Iden­tität ausgebildet werden konnte.
Eine erste Antwort auf diese Frage liefert das Lutherbild, das im frühen Luthertum von den Historikern entwickelt und als Identitätsangebot vertreten wurde. Zu Recht bezeichnet P. dieses Lutherbild als charismatische Stilisierung (100). Luther wird hier als Heiliger, Prediger und Prophet (dritter Elias) erinnert und dargestellt. Diese Stilisierung hat zweifelsohne maßgeblich zur Entstehung einer lutherischen Geschichtskultur beigetragen. Allerdings reichte diese Luthermemoria nicht aus, um eine dauerhafte Identität der Lutheraner zu konstituieren. Daher war eine »Einbindung der Reformation in größere Zusammenhänge« zwingend notwendig (132), die jedoch zwangsläufig dazu führen musste, »Luther seine charismatische Sonderposition« abzuerkennen (ebd.) und diesen heilsgeschichtlichen Rahmen auf die Geschichte selbst zu übertragen. Diese Aufgabe übernahm die Universal- und die Kirchengeschichtsschreibung. Diese historische Erinnerungsarbeit setzte einen identitätsstiftenden Diskurs in Gang, an dessen Ende eine konfessionelle Identität der Lutheraner stand. Diskursbegründer war Melanchthon, dessen Leistungen für die lutherische Ge­schichtskultur von P. eingehend gewürdigt werden.
Überzeugend werden die Unterschiede, aber auch die Gemeinsamkeiten der Universal- und Kirchengeschichtsschreibung dargestellt. Ein wichtiger Differenzierungsaspekt war dabei die Zweireichelehre. Wichtig im Hinblick auf die Kirchengeschichte war zudem die Aufwertung der Dogmengeschichte durch die Lutheraner im Vergleich zur traditionellen katholischen Kirchengeschichtsschreibung, die sich stärker auf die Institution Kirche und deren Veränderungen konzentrierte. »Kirchengeschichte wurde also als Geschichte der wahren Lehre konzipiert« (152).
Interessant ist in diesem Zusammenhang die Frage, warum gerade im Luthertum eine so intensive Beschäftigung mit der Universalgeschichte erfolgte, die auch noch im Zeitalter der Aufklärung so gegeben war. Nach P. hängt dies mit dem ungebrochenen Biblizismus der Lutheraner zusammen. Dieser Biblizismus »scheint die prophetisch inspirierte Universalgeschichte letztlich doch zu einem ihnen [d. h. den Lutheranern] adäquaten Diskurs gemacht zu haben« (160).
Ausführlich stellt P. den universal- und den kirchengeschichtlichen Diskurs im frühen Luthertum dar. Kenntnisreich werden wichtige Werke (z. B. Johannes Sleidans Geschichtswerke, die Magdeburger Zenturien, der Catalogus testium veritatis oder Kaspar Hedios Euseb-Fortsetzung), aber auch weniger bekannte Werke wie Robert Barnes’ Papstgeschichte oder Johannes Pappus’ Thesen de monarchiis dargestellt und im Hinblick auf die Identitätsbildung im frühen Luthertum analysiert. Mit dem Erscheinen der Magdeburger Zenturien (1559–1574), dem Catalogus testium veritatis (1556 ff.) und Melanchthons und Caspar Peucers Chronicon Carionis (1558 ff.) kann man mit Recht von einer lutherischen (Kirchen-) Geschichtsschreibung in dem Sinne sprechen, dass sie als »konfessioneller Identitätsdiskurs lesbar« ist (501). Vier zentrale Deutungshinsichten auf das vergangene Geschehen sind dabei die Grundlage für das lutherische Geschichtsbild: die heilsgeschichtliche Bedeutung der Reformation, die Deutung des Papstes als Antichrist, die Hochschätzung der deutschen Kaiser sowie die prophetisch-biblizistische Grundlage der Geschichtsdeutung. Diesen letztgenannten Aspekt beschreibt P. auch prägnant in einem eigenen Kapitel über die Apokalypsenkommentare als Geschichtsschreibung.
P.s Untersuchung zeigt anschaulich, dass der lutherische Identitätsdiskurs »nicht als einfache Einspeisung konfessioneller Inhalte in das Medium der Historiographie, sondern eher als vielgestaltige Vermischung neuer Deutungsparameter mit konventionellen Formen oder Inhalten« beschrieben werden muss. Dabei muss dieser Geschichtsdiskurs dem Prozess der Konfessionalisierung zugeschrieben werden. Allerdings war die Konfessionalisierung der Historiographie kein linearer Prozess, wie P. überzeugend belegen kann.
Zu Recht stellt P. am Ende seiner lesenswerten Studie fest, dass die konfessionelle Identität der Lutheraner nicht allein das Werk der historischen Erinnerungsarbeit war, sondern, wie das Beispiel der Postillenpredigten zeigt, auch andere Quellen hatte.
Mit dieser klar strukturierten ausgezeichneten Studie steht für die Geschichtskultur des frühen Luthertums eine Darstellung zur Verfügung, die nicht nur eine Fülle von Anregungen bietet, sondern auch die jeweiligen Forschungsprobleme in einer präzisen Analyse auf den Punkt bringt.