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Ausgabe:

Juli/August/2008

Spalte:

822–824

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Gilmont, Jean-François, et William Kemp [Éds.]

Titel/Untertitel:

Le livre évangélique en français avant Calvin. Études originales, publications d’inédits, catalogues d’éditions anciennes. The French Evangelical Book Before Calvin. Original Analysis, Newly Edited Texts, Bibliographic Catalogues.

Verlag:

Turnhout: Brepols 2004. 391 S. m. Abb. gr.8° = Nugae humanisticae sub signo Erasmi, 4. Kart. EUR 40,00. ISBN 2-503-51705-6.

Rezensent:

Christoph Strohm

Thema dieses Werkes sind die reformatorischen bzw. reformorientierten Schriften, die vor der ersten französischsprachigen Ausgabe der Institutio Calvins von 1541 in Frankreich gedruckt wurden. Da sich das Interesse der reformationsgeschichtlichen Forschung seit alters her auf Calvin konzentriert, ist über die frühen reformatorischen Texte vor und neben Calvins Institutio wenig be­kannt. Drei Beiträge des Bandes sind einem Text gewidmet, der in den letzten Jahren zu Recht Aufmerksamkeit gefunden hat: die im Mai 1539 gedruckte Epistre tresutile envoée à la Royne de Navarre der ehemaligen Nonne Marie d’Ennetières (Dentière). Diese floh um 1526 aus ihrer Heimatstadt Tournai nach Straßburg, heiratete dort den ehemaligen Augustinermönch Simon Robert und schloss sich mit diesem 1528 Guillaume Farel in Aigle und Bex an. Nach dem Tod ihres Mannes heiratete sie den Mitstreiter Farels, Antoine Froment, und ging mit diesem 1535 nach Genf. Anhand der inmitten der reformatorischen Umbrüche in Genf verfassten Epistre tresutile arbeitet Isabelle C. Denommé das theologische Profil Marie d’Ennetières’ und der Reformatoren im Umkreis Farels heraus (La vision théologique de Marie d’Ennetières et le ›Groupe de Neuchâtel‹, 179–197). Der Text, der die großen Themen der frühen Reformation »Heil allein durch den Glauben an Jesus Christus«, »Autorität der Heiligen Schrift«, »Abendmahl« und »Missbräuche in der römisch-katholischen Kirche« behandelt, wird mit Olivetans französischsprachiger Bibel, der an die Schlafzimmertür des Königs gehefteten Declaration de la Messe Antoine Marcourts von 1534 und anderen in Neuchâtel gedruckten Texten in Beziehung ge­setzt. Zahlreiche, bis zu wörtlichen Übernahmen reichende Parallelen zu Schriften Farels fallen auf. Diane Desrosiers-Bonin vergleicht den an die Schwester des französischen Königs gerichteten »offenen Brief« Marie d’Ennetières’ mit anderen Texten, die ebenfalls Mitgliedern der Königsfamilie gewidmet sind (L’Epistre Marie d’Ennetières et les dédicaces évangéliques offertes à la famille royale avant 1540, 199–211). Meist ist der Zweck solcher Texte, zur Ausbreitung der Reformation aufzufordern.
Im weiteren Sinne auf die Schrift d’Ennetières’ bezogen ist William Kemps Analyse der insbesondere im Reformschrifttum gerne verwendeten Formel »lisez et puis jugez« (L’Épigraphe Lisez et puis jugez. Le Libre examen dans la Réforme française avant 1540, 241–273). Hier kommt ein zentrales reformatorisches Anliegen sichtbar zum Ausdruck. Die Beiträge von Myra D. Orth und James P. Carley behandeln Texte, die mit dem Wirken von Frauen hohen Rangs im Zusammenhang stehen: Reconsidering Radical Beauty. Marguerite de Navarre’s Illuminated Evangelical Catechism and Confession (Arsenal, MS 5096), 87–97; James P. Carley, French Evangelical Books at the Court of Henry VIII, 131–145.
Zu Recht widmen sich mehrere Beiträge dem Werk und der Theologie Guillaume Farels. Gleichermaßen einführend wie neue Erkenntnisse zur Theologie dieses in den Schatten Calvins geratenen Reformators erschließend untersucht Reinhard Bodenmann die Druckgeschichte der Schriften Farels (Farel et le livre réformé fran-çais, 13–39). Sämtliche bislang bekannten Drucke von Schriften Farels werden, mit knappen Beschreibungen versehen, aufgelistet. Dadurch wird zum ersten Mal das Profil Farels als eines fast ausschließlich in französischer Sprache, d. h. an einem größeren Leserkreis ausgerichtet schreibenden Reformators deutlich. Calvin hat mit der französischen Ausgabe der Institutio von 1541 der Wirkungsgeschichte der zuvor wichtigsten Gesamtdarstellung der reformierten Glaubenslehre in französischer Sprache, Farels zum ersten Mal 1529 gedruckter Summaire et briefve declaration d’aucuns lieux fort necessaires à ung chascun Chrestien, ein Ende bereitet. Francis Higman untersucht diesen Text mit literaturwissenschaftlichen Methoden und kommt zu dem Ergebnis, dass Farels Summaire eines der ersten Beispiele einer nun sich ausbreitenden Literaturform gewesen ist (Farel’s Summaire. The Interplay of Theology and Polemics, 71–85). Die Summaire habe den Stoff nicht mehr einfach im Sinne des traditionellen Katechismus zusammengefasst, sondern in einem durchaus polemischen Sinn knapp die wesentlichen Inhalte der »neuen« Lehre im Unterschied zur vorgefundenen falschen Lehre herausgestellt. Isabelle C. Denommé und William Kemp bieten die Edition eines in den 20er Jahren des 16. Jh.s in Paris gedruckten Textes und weisen ihn, eine alte Hypothese überprüfend, mit hoher Wahrscheinlichkeit Guillaume Farel zu ( L’Epistre chrestienne tresutile [c. 1524], un écrit de Guillaume Farel?, 41–69). Weitere Beiträge sind Druckern gewidmet, die in der frühen Reformation im französischsprachigen Bereich reformatorisch orientierte Texte auf den Markt gebracht hatten (Jean-Fran-çois Gilmont, La production typographique de Martin Lempereur [Anvers, 1525–1536], 115–129). Hervorzuheben ist hier der zu Un­recht wenig bekannte Pierre de Vingle, der in Neuchâtel und Genf gewirkt und unter anderem so wichtige Werke wie die Olivetan-Bibel gedruckt hat (William Kemp, La redécouverte des éditions de Pierre de Vingle imprimée à Genève et à Neuchâtel [1533–1536], 147–177). Ein einziger Beitrag ist einem römisch-katholischen Text gewidmet und zeigt gleichsam die Kehrseite des Erfolges des reformatorischen Schrifttums: den Niedergang der römisch-katholischen Erbauungsliteratur (Eric H. Reiter, The Decline of a Catholic Bestseller during the Early Reformation. The Stella clericorum in the sixteenth Century, 275–299). In seinem Schlussbeitrag stellt Jean-François Gilmont die Frage, ob man aus den relativ geringen Spuren, die die frühen reformatorischen Schriften im französischsprachigen Bereich hinterlassen haben, schließen kann, dass es sich hier nur um sehr begrenzte Milieus gehandelt habe (En guise de conclusion. Le livre évangelique de la langue française avant Calvin, 301–329). Er verneint sie, da andernfalls die rasante Ausbreitung der Reformation nicht erklärbar sei. Schließlich ist zu fragen, welche Rolle gedrucktes Schrifttum überhaupt bei der Verbreitung reformatorischen Gedankengutes gespielt hat. Hier sieht Gilmont in den Jahren 1520 bis 1540 nur begrenzte Wirkungen, unter anderem weil den reformorientierten Kreisen die Infrastruktur für eine intensive Nutzung des Buchdrucks wie in Deutschland gefehlt habe.
Das sich auch durch ein besonderes Druckbild empfehlende Werk bietet nicht zuletzt auf Grund seines interdisziplinären Zu­gangs zahlreiche neue Erkenntnisse zur frühen französischen Reformationsgeschichte.