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Ausgabe:

Juli/August/2008

Spalte:

817–818

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Sturlese, Loris

Titel/Untertitel:

Homo divinus. Philosophische Projekte in Deutsch­land zwischen Meister Eckhart und Heinrich Seuse.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2007. XII, 263 S. gr.8°. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-17-019790-9.

Rezensent:

Karl-Hermann Kandler

»Das philosophische Leben um 1250–1350 in Deutschland ist der Ge­genstand dieses Buches. Dieser Zeitraum fällt chronologisch ungefähr mit dem ›Zeitalter der deutschen Mystik‹ zusammen, und Meister Eckhart ist die hervorragendste Gestalt, die damals im deutschsprachigen Kulturraum tätig war« (IX). Mit diesem Satz beginnt S. sein Buch, in dem er Aufsätze zusammengestellt hat, die zwischen 1981 und 2005 erschienen sind. Geordnet sind sie nach dem zeitlichen Rahmen, in dem sie stehen, also von Albertus Magnus an bis hin zu Heinrich Seuse. Von Albert sagt S., er habe »die deutsche philosophische Kultur am tiefsten« geprägt (12). Beigegeben sind das sog. Gedicht auf Meister Eckhart und Texte zu den in einem Aufsatz behandelten Florilegien.
Es ist schon erstaunlich, wie S. als Italiener sich intensiv mit der deutschen Philosophie dieser Zeit befasst. So hat er ja auch zwei Gesamtdarstellungen geliefert: »Storia della filosofia tedesca nel medioevo« (1990, deutsch 1993: »Die deutsche Philosophie im Mit­telalter«, sie umfasst die Zeitspanne von Bonifatius bis Albertus Magnus), und »Storia della filosofia tedesca nel Medioevo. Il secolo XIII«, die leider noch nicht auf Deutsch erschienen ist. Dem Rezensenten ist kein deutschsprachiger Philosophiehistoriker bekannt – außer Kurt Flasch –, der sich so intensiv mit der Philosophie in Deutschland im Mittelalter beschäftigt hat. S.s Aufsatzsammlung ist gut geeignet, in seine »Werkstatt« zu blicken, auch wenn sie nicht die Übersetzung der zweiten Gesamtdarstellung ersetzen kann.
Im Mittelpunkt steht Meister Eckhart. So bekannt er im deutschen Sprachraum ist, außerhalb ist er es kaum. So war das auch schon unter seinen Zeitgenossen (107 ff.). Spuren seines Denkens finden wir fast nur in Deutschland. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass »es zur Zeit Eckharts ein sehr vielfältigeres philosophisches Leben in Deutschland gab, als bisher angenommen wurde« (X). Die vor 30 Jahren begonnene Edition deutscher Denker dieser Zeit, die alle aus der Schule Alberts des Großen hervorgegangen sind (»Corpus Philosophorum Teutonicorum Medii Aevi«), liefert die Voraussetzung dafür, dass diese künftig mehr in das Bewusstsein der Philosophiehistoriker treten. Das gilt für Eckhart ebenso wie für Dietrich von Freiberg und Berthold von Moosburg, die darum auch in S.s Studien neben Eckhart den wichtigsten Platz einnehmen. Durch die Genannten wurde ein neues Bewusstsein vom Menschen und seiner Stellung in der Welt artikuliert. Als Bild Gottes erscheint nun der Mensch als Intellekt, als forschende Vernunft; durch sie wird er selbst und wird die Natur untersucht. Dietrich spricht vom Wort als einer intellektuellen Geburt; er versteht den Menschen als »ad imaginem« Gottes geschaffen, »weil er das Bild Gottes ... in seiner Seele« besitzt (40). Dadurch, dass er seine Vernunft gebraucht, kommt der Mensch zu sich selbst. Von der Gotteserkenntnis führt der Weg zur Selbsterkenntnis des Menschen als »homo divinus«, ein Ausdruck, der sich bei Eckhart häufig findet (146). Das Denken ist »schöpferische Tätigkeit« (43). Während für Dietrich das Prinzip der menschlichen Vernunft ein »geschaffener Intellectus agens« ist, versteht Eckhart sie als »de[n] seinen Sohn intellektuell gebärende[n] Gott selbst« (45).
Eckhart weiß, dass er »subtil« predigt, er versteht seine Predigten als Anleitung zum Verständnis subtiler Gedanken (52 f.). Seine Predigten setzten neue Akzente. Weil wir keine Predigten von Diet-rich überliefert bekommen haben, wissen wir freilich nicht, ob solche schon bei ihm zu finden sind. Gegen S. (81) meint der Rezensent, dass das im Anhang abgedruckte Gedicht das vermuten lässt, werden doch in ihm beide eng beieinander gesehen (232).
Immer wieder wird gefragt, ob das Denken der Genannten als »Mystik« bezeichnet werden soll. Ekstatische Erlebnisse finden sich bei ihnen kaum. Berthold spricht von einer »divinissima philosophia« (150), Dietrich unterscheidet zwischen einer theologischen und einer philosophischen Theologie, zwischen einer »nostra divina sanctorum scientia« und einer »scientia divina sapientium huius modi« (vgl. K.-H. Kandler: Theologie und Philosophie nach Dietrich von Freibergs Traktat »Die subiecto theologiae«, in: MM XXVI, 1998, 642–647). Berthold setzt »dem ›gesunden Menschenverstand‹ der Thomisten und der ›mystischen Flucht‹ der Franziskaner« seine »divinissima philosophia« entgegen (153).
Die beiden letzten Beiträge befassen sich mit Tauler und Seuse. Tauler ersetzt die intellektuale Schau von Albert, Dietrich und Eckhart durch das »transintellektuelle Einswerden des ›göttlichen Menschen‹ mit Gott« (193). Seuse betont das »Bewußtwerden der radikalen Abhängigkeit von Gott« (229).
Mit seinen Beiträgen hat S. wichtige Arbeiten zum Verständnis der Philosophie (und Theologie) in Deutschland im 13. und 14. Jh. geliefert. Sie müssen stärker als bisher beachtet werden. Das Denken im Mittelalter ist vielfältiger, als es der Neuthomismus uns einreden wollte.