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Ausgabe:

Juli/August/2008

Spalte:

815–817

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Schäfer, Christian, u. Martin Thurner [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Mittelalterliches Denken. Debatten, Ideen und Gestalten im Kontext.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2007. IX, 221 S. gr.8°. Geb. EUR 59,90. ISBN 978-3-534-20101-3.

Rezensent:

Dominik Perler

Der Band versammelt zwölf Texte, die aus einer Vortragsreihe am Martin-Grabmann-Forschungsinstitut der Universität München hervorgegangen sind und sich alle auf die Frage konzentrieren, welche besonderen Denkformen und -gestalten das Mittelalter auszeichnen. Den Leitgedanken bildet die These, dass die »Herausstellung des Theologischen als Form gebende Mitte des ›Mittelalters‹« (VII) zu verstehen ist, wie die Herausgeber im Vorwort betonen. Diese Aussage weckt sogleich den Verdacht, dass hier sämtliche intellektuellen Strömungen auf die Theologie bezogen werden und das philosophische Denken einmal mehr als bloße »Magd der Theologie« aufgefasst wird. Dieser Verdacht verflüchtigt sich aber bei der Lektüre der anregenden Texte, die ganz unterschiedliche Zugänge zu einer Fülle von mittelalterlichen Autoren und Traditionen bieten. Vier konzeptionelle Punkte sind dabei bemerkenswert.
Erstens fällt auf, dass den Beiträgen ein weiter Begriff von Theo-­logie zu Grunde gelegt wird. Es geht nicht primär um das monastische oder universitäre Reden über Gott, sondern um die Art und Weise, wie die Schöpfung und Gottes Präsenz in der Schöpfung insgesamt konzipiert wurden. Daher steht die Frage im Vordergrund, mit welchen Begriffen und Ordnungsstrukturen verschiedene Denker im Mittelalter operierten, wenn sie die Schöpfung zu be­schreiben versuchten. Zweitens ist bemerkenswert, dass der Blick nicht nur auf Denkformen des 12. bis 14. Jh.s gerichtet wird, wie dies häufig der Fall ist, wenn das Verhältnis von philosophischen und theologischen Denkansätzen untersucht wird. Die Beiträge decken das Mittelalter im Sinne einer »longue durée« ab, die von Hieronymus im 4. Jh. bis zu Cusanus im 15. Jh. reicht. (Auffällig ist nur, dass so prägende Autoren wie Augustinus oder Abaelard nicht berücksichtigt werden. Fraglich ist zudem, warum bei Cusanus ein Endpunkt gesetzt wird und die Spätscholastiker des 16. Jh.s sowie die Reformatoren nicht mehr berücksichtigt werden. Gerade bei diesen Autoren ließe sich prägnant zeigen, wie genuin mittelalterliche Denkmodelle transformiert wurden.) Drittens ist zu beachten, dass die unterschiedlichen Denkformen nicht nur aus der Perspektive der beiden Disziplinen Philosophie und Theologie untersucht werden. Es ist ein großer Gewinn für den Band, dass mit den Beiträgen von M.-A. Aris, W. Steck, S. Haering und W. Haug auch kirchenhistorische, kirchenrechtliche und literaturwissenschaftliche Analysen einbezogen werden. Schließlich fällt viertens wohltuend auf, dass die mittelalterliche Welt nicht mit dem christlichen Westeuropa gleichgesetzt wird, wie dies in vielen Gesamtdarstellungen leider immer noch üblich ist. Mit dem Aufsatz von G. Avvakummov, der das Verhältnis zwischen Ost- und Westkirche beleuchtet, und dem Text von M. Riedenauer, der die konfliktreiche Auseinandersetzung des Christentums mit dem Islam untersucht, werden die geographischen und religiösen Grenzen bewusst erweitert.
Die Beiträge weisen keine homogene Struktur auf, sondern be­dienen sich unterschiedlicher Verfahren, um Denkformen zu rekonstruieren. Einige – etwa U. Horsts Aufsatz zu Thomas von Aquin – skizzieren mittels einer biographischen Methode sehr anschaulich die Denkentwicklung eines Autors, gehen dabei aber nicht über den bekannten Forschungsstand hinaus. Andere erläutern die Kerngedanken eines Denkers, die trotz der biographischen Veränderungen konstant geblieben sind. So betont H. Schröcker in seinen Ausführungen zu Ockham, dass sich der Individualitäts- und der Allmachtsgedanke wie ein roter Faden durch das ganze philosophische und kirchenpolitische Werk ziehen. Er erläutert diese Gedanken mit großer Klarheit und didaktischem Geschick, fügt den bekannten Forschungsperspektiven (vor allem dank der Arbeiten von W. Courtenay, M. McCord Adams und V. Leppin) aber keine neue hinzu. Innovativ ist in philosophiehistorischer Hinsicht vor allem der Beitrag von Ch. Schäfer, der kurz vorgestellt werden soll.
Der Autor diskutiert Anselms berühmten Gottesbeweis, bietet aber im Gegensatz zu den meisten Interpreten nicht einfach eine Re­konstruktion und Evaluation der Argumentation. Er konzentriert sich zum einen auf die Ideale, die Anselm mit diesem Beweis verfolgt, zum anderen auf dessen Ausgangssituation und Erkenntnisinteresse. Eine minutiöse Textanalyse führt Schäfer zu der gut begründeten These, dass Anselm die ganze Argumentation im Rahmen einer »existentiellen Phänomenologie« (54) entwickelt. Als Glaubender nimmt Anselm nämlich nicht einen objektiven Standpunkt ein, um die Existenz Gottes nachzuweisen, sondern versucht sich seines eigenen subjektiven Standpunktes zu vergewissern. Daher besteht sein Ziel nicht in einer »probatio« im Sinne eines hieb- und stichfesten Beweises, sondern vielmehr in einer »rationalen Erprobung des Glaubens« (66). Schäfer weist auch überzeugend nach, dass sich in der sprachlichen Formulierung dieser Erprobung zahlreiche mystische Motive finden, etwa wenn vom anwesend-abwesenden Gott oder von der Gottesschau die Rede ist. Dies be­deutet freilich nicht, dass Anselm einfach die Haltung eines esoterischen Mystikers einnimmt, der auf rationale Ansprüche verzichtet. Im Gegenteil: Er strebt eine rationale Auseinandersetzung mit dem Gottesproblem an, möchte mit den mystischen Motiven aber verdeutlichen, dass man existentiell ergriffen sein muss, um das Problem in seiner Tragweite erkennen zu können. Mit dieser Interpretation zeigt Schäfer auf geschickte Weise, dass sich mystische und rationale Elemente nicht ausschließen, sondern ergänzen.
Dieser Aufsatz verdeutlicht auf exemplarische Weise, dass sich mittelalterliche Denkformen nicht einfach mit den Etiketten »Mystik« oder »rationale Theologie« erfassen lassen. Es bedarf einer sorgfältigen, auf einzelne Denker bezogenen Analyse, wenn man der Komplexität der jeweiligen Denkform gerecht werden will.