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Ausgabe:

Juli/August/2008

Spalte:

812–815

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Telscher, Guido

Titel/Untertitel:

Opfer aus Barmherzigkeit. Hebr 9,11–28 im Kontext biblischer Sühnetheologie.

Verlag:

Würzburg: Echter 2007. 315 S. gr.8° = Forschung zur Bibel, 112. Kart. EUR 36,00. ISBN 978-3-429-02891-6.

Rezensent:

Wolfgang Kraus

Bei der an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Freiburg i. Br. eingereichten Dissertation geht es »um eine Ortsbestimmung der Aussagen des Hebr zum Opfer Jesu in der Theologiegeschichte des Urchristentums und zwar vor dem Hintergrund des Alten Tes­taments und des Frühjudentums«, d. h. um eine »Einordnung des Hebr in die Traditionsgeschichte des Urchristentums« (9 f.). Die Arbeit gliedert sich nach Inhaltsverzeichnis, Vorwort und Einführung (Abschnitte 1–3) in vier Hauptteile (Abschnitte 4–10; diese Hauptteile werden im Inhaltsverzeichnis leider nicht gekennzeichnet). Abkürzungs- und Literaturverzeichnis, Register und Nach­wort (Abschnitte 11–14) schließen die Arbeit ab.
Hauptteil 1 (= Abschnitt 4) setzt ein mit einem Überblick über wichtige Positionen der jüngeren Forschung zum Thema Opfertod im Hebr und schließt mit offenen Fragen (13–69).
Hauptteil 2 (Abschnitt 5) lautet: »Textbefund: Opferchristologie im Hebr«. Dieser Teil beginnt mit einer Auflistung relevanter Texte des Hebr (71–76). Dabei vermisse ich Hebr 9,17–24, wo auf den Blut-ritus in Ex 24 Bezug genommen wird und in 9,23 das Stichwort thysia auftaucht. Anschließend folgt eine motivlich-sprachliche Un­tersuchung (77–93). Hier kommt der Vf. leider ohne jegliches Gespräch mit anderer Forschungsliteratur aus. Das ist ungewöhnlich, man denke nur an die Diskussion um das Verständnis von Hebr 10,20. Die »Untersuchung« mündet in ein Raster, welches das Opfer als »Motiv« zu beschreiben versucht (94–96), und gipfelt in einer These, wonach der Hebr ein neues Motiv bilde, welches laute: »Jesus opfert sich als Hoher Priester selber. Dabei wird Jesus als Priester und Opfer in einer Person verstanden und logische Unstimmigkeiten [werden] in Kauf genommen.« (97)
Hauptteil 3 (Abschnitte 6–7) stellt Texte zum Thema Opfer aus dem Alten Testament und Qumran vor. Das Ziel lautet: »Wir wollen einen möglichst verlässlichen Eindruck vom Kult gewinnen, wie er zur Zeit Jesu am Tempel von Jerusalem abgehalten wurde, damit die Aussagen zum Opfer Jesu angemessener eingeordnet werden können.« (99) Dieser Teil bietet im Wesentlichen einen Überblick über fünf Opferarten (Olah, Sebach Schelamim, Mincha, Chattat und Ascham; 101–112), sodann Ausführungen über das Ritual am Jom Kippur (112–120), über das Pascha (121–125), das Problem des Menschenopfers im Alten Testament (125–133), über Mose als Bundesmittler nach Ex 24 (134–137), Opferkritik im Alten Testament (138–143) und schließlich einen Exkurs über Texte aus Qumran zum Opferkult (144–158; warum als »Exkurs«?). Er schließt mit zusammenfassenden Definitionen zum Opfer (158–164). Die Problematik dieses Abschnittes liegt (abgesehen von manchen nicht präzisen Details oder Simplifizierungen [102, Anm. 207] und grammatischen oder historischen Fehleinschätzungen [ Olah ist nicht Neutrum; der Plural von Olah ist nicht Olah, 102.103; den Tempel von Ez 40 ff. hat es wohl nicht gegeben, 104]) darin, dass der Vf. in seiner Darstellung die neueste Forschung nur unzureichend rezipiert hat und dass er weniger problemorientiert, sondern in erster Linie thetisch vorgeht. Die Opferarten werden dargestellt, ohne dass z. B. eine Diskussion um die Funktion der einzelnen Elemente in einiger Breite geführt wird.
Die neueren Studien von Chr. Eberhart und I. Willi-Plein werden beispielsweise zitiert, aber eben nicht diskutiert. Man ist versucht zu sagen: Abschnitt 6 hätte entweder viel kürzer ausfallen können oder müsste viel ausführlicher sein. Was bedeutet das, wenn es bei der Darstellung des Jom Kippur Rituals lapidar heißt: »Hingewiesen sei auf den frühjüdischen Mischna-Traktat Joma zu Lev 16, der einige weitere Einzelheiten des Rituals enthält« (112)? Der Satz steht wie ein erratischer Block da. An keiner Stelle werden diese Einzelheiten (welche?) thematisiert. Inwiefern ist mJom überhaupt einschlägig für die Erhellung des Kontextes von Jesu Opfer im 1. Jh.? Die Darstellung des Versöhnungstages (Lev 16) erfolgt im Wesentlichen anhand von B. Janowski, Sühne als Heilsgeschehen (1. Auflage!). Hier wäre es wirklich weiterführend gewesen und würde nicht nur Bekanntes rekapitulieren, die Analysen von Chr. Eberhart und F. Hartenstein intensiv heranzuziehen, etwa bei der Diskussion um die Funktion der Handaufstemmung. Auch Janowski selbst (RGG, 4. Aufl., Bd. III, 1408, oder Sühne als Heilsgeschehen, 2. Aufl.) hätte weitergeführt. Aber das Programm, das der Vf. sich vorgenommen hat, ist schlicht zu umfangreich, um hier mehr ins Detail zu gehen. Die zusammenfassenden Definitionen, die er am Ende dieses Abschnitts gibt, stehen nur bedingt in Zusammenhang mit dem vorher Dargestellten.
Abschnitt 7 bietet »Weitere alttestamentliche Texte und Traditionen«, die für »die Theologie und die Christologie des Hebr wichtig erscheinen« (165–175). Dabei wird auf Ps 110, Ps 8, Jes 52,13–53,12 und schließlich 2 und 4Makkabäer eingegangen. Ich habe nicht verstanden (abgesehen von dem kaum begründeten Prinzip der Textauswahl), warum der Vf., nachdem er in Abschnitt 6 stets den MT zu Grunde gelegt hat, jetzt in 7.1 die LXX heranzieht und dann in 7.2 (Jes 53) sich wieder auf den MT bezieht (wobei die Unterschiede zwischen Jes 53 LXX und MT evident sind, vor allem was die Stellvertretungsaussage angeht).
Für den Hebr wäre in jedem Fall die LXX die entscheidende Grundlage. Was auf S. 170, Anm. 420, behauptet wird, dass die »wesentliche Textaussage [des MT in Jes 53] ... aber auch in der griechischen Übersetzung gewahrt« bleibe, ist entweder oberflächlich oder schlicht falsch. In Abschnitt 7.3 folgen Überlegungen zu 2Makk und 4Makk (174 f.), die ebenfalls sehr an der Oberfläche bleiben (der Vf. liest auf S. 175 m. E. mit Recht [gegen Rahlfs] in 4Makk 17,22 hilasterios thanatos, aber man würde gern erfahren, warum).
Hauptteil 4 der Arbeit (Abschnitte 8–10; 177–295) bringt nach wenigen Bemerkungen zu Einleitungsfragen des Hebr (8.1.; 177 f.) Überlegungen zum Thema Jesus und der Tempel (8.2.; 179–211). Dabei spielen Mk 10,45 par; Mk 11,15–19 par; Mk 14,22–25 par; Mk 14,58 par und Mk 15,37–39 par eine Rolle. Ein Fazit schließt diesen Unterabschnitt ab: »Der historische Jesus von Nazareth starb in Folge seiner ureigenen Vergebungspraxis und in diesem Sinne für die ›Vergebung der Sünden‹. Man kann vermuten, dass der historische Jesus sich am ehesten als ›Märtyrer‹ für das Reich Gottes und die bedingungslose Vergebungspraxis verstanden haben wird. Dem Martyrium wurde im Judentum seiner Zeit stellvertretende Sühnewirkung zugesprochen (vgl. 4Makk).« (210) Im Abschnitt vorher (174, Anm. 435) hatte der Vf. 4Makk noch auf die Zeit um 100 datiert. Wie passt das zusammen? Ist mit einem solchen Fazit das Selbstverständnis Jesu getroffen?
In Abschnitt 8.3 geht es um Paulus und die sühnende Stellvertretung Christi (212–247). Nacheinander werden 1Kor 11,23b–26 (mit Exkurs Bund bei Paulus); Röm 8,32; Gal 1,14; Gal 2,20; Röm 5,8; 2Kor 5,21 (mit Exkurs Versöhnung in der paulinischen Theologie); Gal 3,13; Röm 4,25; 1Kor 15,3b–5; Röm 3,25; Röm 8,3b; Röm 8,34; Phil 2,6–11 (Exkurs zu Präexistenz, Erniedrigung und Erhöhung Jesu) und 1Kor 5,7 besprochen. Dem Kundigen ist klar, dass bei dieser Fülle zentraler Texte des Neuen Testaments und ihrer Probleme nur eine an der Oberfläche verbleibende oder bestenfalls eine auf sehr wenige Referenzautoren sich zurückbeziehende Darstellung möglich ist. Für eine Dissertation ist das fragwürdig.
Ich greife zwei Beispiele heraus: 1. Auf S. 229–233 schreibt der Vf. über Röm 3,25. Er greift dabei weitgehend auf Ergebnisse zurück, die ich in meiner Arbeit ›Der Tod Jesu als Heiligtumsweihe‹ (1991) dargestellt habe. Die Vielzahl der in diesem Text enthaltenen bzw. mit seiner Interpretation verbundenen Probleme wird beim Vf. auch nicht ansatzweise deutlich. Das kann aber für eine wissenschaftliche Dissertation, die nicht nur bereits Bekanntes wiederholen möchte, nicht ausreichen – und es kann auch den Rezensenten nicht erfreuen, wenngleich er, wie jeder Mensch, sich über Bestätigung eigentlich freuen würde. 2. Auf S. 236–241 schreibt der Vf. (in einem Exkurs) über Jesu Präexistenz, Ernied­rigung und Erhöhung nach Phil 2,6–11. Er verwendet dabei Wengst (1972), Söding (1992), Strecker (zit. nach Wengst 1972), Gnilka (1968) und Bauer (Wörterbuch 1963). Auf S. 241, Anm. 651, lese ich dann die Entschuldigung, »aus Platzgründen« nicht näher auf Gegenargumente eingehen zu können.
In Abschnitt 9 kommt der Vf. dann auf den Hebr zu sprechen. Nach dem Buchtitel erwartete man etwas zu Hebr 9,11–28. Der Vf. be­ginnt mit Überlegungen zur Komposition des Hebr (9.1), jedoch wiederum nicht problemorientiert, sondern deskriptiv nach Chr. Rose. Es folgen ein Überblick (9.2) über den Kontext (Hebr 9,1–10 und 10,1–18) und eine Feingliederung von Hebr 9,11–28 (9.3). Unterabschnitt 9.4 ist gedacht als Kommentar zu Hebr 9,11–28 (254–275). Dieser Kommentar bleibt aber bei entscheidenden Streitfragen der Interpretation sehr blass. Unterabschnitt 9.5 ist überschrieben »Opferchristologie im Kontext von Hebr 9,11–28« und bietet einen »Überblick über weitere, zentrale Stellen im Hebr ..., die in der Sache wichtig erscheinen« (275). Es werden Hebr 2,5–18; 5,7–10; 7,26–28; 12,2; 13,10–12 angesprochen. Das Fazit lautet: »Hebr 9,11–28, bes. 9,14 ist im Vergleich mit Hebr 2,5–18; 5,7–10; 7,27 und 13,10–12 keineswegs singulär. Der Autor entwickelt in seinem Schreiben eine ausgeprägte Opferchristologie, die er verbindet mit einer christologischen Interpretation von Ps 110,4. Jesus, der menschgewordene Sohn Gottes, opfert sich dem Vater selber, um so den Menschen dauerhafte Sühne und Erlösung zu verschaffen. Die gehorsame Hingabe seines Leibes am Kreuz, gemäß dem Willen des Vaters, ist der tiefste Punkt von Jesu eigener Erniedrigung, das postmortale Durchschreiten der Himmel jedoch seine Erhöhung. Der Verfasser des Hebr deutet mit Hilfe der ihm überkommenen Tradition Karfreitag als den eschatologischen Jom Kippur, an dem Gott und Mensch endgültig versöhnt wurden. Damit aber ist der Kult mit seinen blutigen Opfern von Gott her aufgehoben.« (284 f.) Dieses Fazit bietet kaum neue Erkenntnisse.
Der letzte Abschnitt (10) des vierten Hauptteils soll eine »zusam-­menfassende Auswertung« bringen unter der Überschrift »Kontinuität und Innovation im Hebr« (286–295). Die Auswertung schließt mit »Zusammenfassende[n] Thesen zum Selbstopfer Jesu im Hebr« (293–295). Über die Frage, inwiefern diese Thesen wirklich eine Zusammenfassung des vorher Erarbeiteten sind, lässt sich streiten. Jedenfalls sind sie auch das Ergebnis der Gedanken, die sich der Vf. noch zum Hebr gemacht hat. Warum das Buch den Titel trägt »Opfer aus Barmherzigkeit«, ist mir nicht klar geworden. Spätestens in den Abschlussthesen hätte man hierzu eine Erklärung erwartet. Das Stichwort »barmherzig« taucht zwar in These 10 auf (295), jedoch keineswegs besonders betont und wird auch keineswegs näher entfaltet. Dabei würden manche in der Auswertung geäußerten Bemerkungen (etwa: »Das komplexe Ritual des Jom Kippur dient dem Verfasser lediglich als Bildmaterial, um die Erniedrigung des Sohnes im solidarischen Leiden darzustellen.«; 293) geradezu zur Entfaltung einladen. Der Vf. hat sich ein umfassendes Programm vorgenommen, er wollte alles ansprechen und musste so vielfach an der Oberfläche bleiben. Weniger – und dies detaillierter – wäre in diesem Fall mehr gewesen.