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Ausgabe:

Juli/August/2008

Spalte:

798–802

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Fiedler, Peter

Titel/Untertitel:

Das Matthäusevangelium.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2006. 440 S. gr.8° = Theologischer Kommentar zum Neuen Testament, 1. Kart. EUR 35,00. ISBN 978-3-17-018792-4.

Rezensent:

Martin Vahrenhorst

In den vergangenen 15 Jahren vollzog sich in der Matthäusforschung ein tiefgreifender Wandel: Mit dem Erscheinen von Ulrich Luz’ großem Matthäuskommentar hatte sich die Einsicht durchgesetzt, dass es sich beim MtEv um ein durch und durch jüdisch geprägtes Werk handelt, das die vor Kurzem vollzogene Trennung einer judenchristlichen Gemeinde vom Judentum theologisch verarbeite. Motiviert durch eine differenzierte Wahrnehmung des Judentums im 1. Jh. nach der Zeitenwende, das sich nicht als monolithischer Block oder gar als organisierter Synagogenverband darstellt, von dem die mt Gemeinde sich hätte trennen können, versuchten zuerst Arbeiten aus dem angelsächsischen Sprachraum, das MtEv als Dokument einer jüdischen Gemeinschaft zu lesen, die mit anderen jüdischen Gemeinschaften in einem Konkurrenzverhältnis zueinander stand (exemplarisch sind Andrew J. Overman, Matthew’s Gospel and Formative Judaism: The Social World of the Matthean Community [Minneapolis: Fortress 1990] und Anthony J. Saldarini, Matthew’s Christian Jewish Community [Chicago Studies in the History of Judaism; Chicago and London: Chicago University Press 1994] zu nennen). Untersuchungen auch aus der deutschsprachigen Forschung traten ihnen mit eigenen Akzentsetzungen zur Seite (die wichtigsten Arbeiten finden sich in der Bibliographie des zu besprechenden Bandes [16 f.]).
Der an der PH Freiburg lehrende katholische Neutestamentler Peter Fiedler legt nun einen deutschsprachigen Kommentar vor, der den beschriebenen Forschungswandel konsequent mitvollzieht. F. liest das MtEv als »Momentaufnahme« einer innerjüdischen Auseinandersetzung »um brennende Fragen der jüdischen Lebensweise«, die »in den Kontext des Judentums des 1. Jh.s« gehöre (24). Dieses Judentum (F. hält sogar die Redeweise von »Judentümern« im Plural für gerechtfertigt [ebd.]) kenne noch keine normativen Gruppen, vielmehr rängen verschiedene Gruppen um den Führungsanspruch in der Situation nach der Zerstörung des Tempels. Eine davon sei die Gemeinde, für die und in die hinein Mt spreche, eine andere – ihr besonders nahestehende – Gruppe sei die, aus der sich später das rabbinische Judentum entwickeln werde. Ihre Repräsentanten seien die Schriftgelehrten »pharisäischer Richtung« (25). Die große inhaltliche Nähe zwischen beiden Gruppen erkläre die scharfe Polemik, die sich im Evangelium unbestreitbar findet.
Besonders nahe seien sich beide Gruppen bei ihrer Einstellung zur Tora (27). Die Kardinalstelle, auf die F. sich in diesem Zusam­menhang immer wieder beruft, ist Mt 23,2.3a (vgl. 20.25.26.29.127 u. ö.). Hier bekunde Mt »die vorbehaltlose Anerkennung pharisäisch-schriftgelehrter Tora-Auslegung« (345). F. weist die in der Forschung vorgeschlagenen Abschwächungen dieser Anerkennung (aus der Sicht des Rezensenten mit Recht) zurück und nimmt Mt beim Wort: »[P]harisäische Schriftgelehrte« besitzen »für Alltagsprobleme, die es in seiner Gemeinde zu lösen gibt und wofür von Jesus nichts überliefert sein konnte, eine selbstverständliche Autorität« (26 [so auch 268]). Die »Identität der Gemeinschaft« bestimme sich also nicht an »der Frage der Auslegung des Gotteswillens« (29), der in der Tora grundgelegt ist. Zur Tora bekennt sich auch der mt Jesus ohne Einschränkungen (5,17 ff. [vgl. 125]).
Wenn Mt Jesus sagen lässt, er sei gekommen, die Tora zu erfüllen, dann bezieht sich das nach F. auf Jesu Torapraxis: »Der Sinn von plērōsai kann … nur ›verwirklichen, ausführen, tun‹ sein« (124). Diese Deutung verträgt sich trotz F.s Hinweis, dass das Tun vom Lehren nicht getrennt werden dürfe (124), nur schlecht mit den folgenden Versen, die F. statt Antithesen sehr treffend »Beispielhafte Weisungen Jesu zum Handeln« nennt. Hier wäre einer Deutung, die (Er)füllen im rabbinischen Sinn als Verstehen und Konkretisieren eines ansonsten leeren (also bedeutungslosen) Schriftwortes versteht (vgl. SifDev § 336 [Finkelstein], 385), vielleicht der Vorzug zu geben.
Da, wo Mt gegen die Auslegungen der schriftgelehrten Pharisäer zu polemisieren scheint, favorisiere er – darin ist F. sicherlich zuzustimmen – in Wahrheit eine von mehreren pharisäischen Positionen, die zu seiner Zeit noch offen diskutiert wurden: »Was Jesus bei Mt tut, ist nichts Anderes, als für eine bestimmte Position innerhalb der pharisäischen Schuldiskussionen autoritativ Partei zu ergreifen« (280 [zu Mt 15,1–20], ähnlich 250 [zu 12,1–14]).
Nicht nur die Toraauslegung seiner Konkurrenten würdige Mt positiv, sogar ihre Torapraxis zeichnet sich in seinen Augen durch »spirituellen Reichtum und tatkräftige Mitmenschlichkeit« aus, so »dass ihre dikaiosynē im Überfluss vorhanden sei«, wie F. Mt 5,20 übersetzt (127).
F. beobachtet, dass Mt kein einfaches Verb für »vorhanden sein« wählt, sondern perisseuein. Wenn nun auf Seiten der Jünger Gerechtigkeit »mehr im Überfluss vorhanden sein« soll »als bei den Anderen«, dann müsse das bedeuten, dass auch auf Seiten der Gegner Gerechtigkeit nicht einfach nur vorhanden, sondern im Überfluss vorhanden sei. Dass zwischen der Gerechtigkeit, die Mt hier fordert, und der, die er bei den schriftgelehrten Pharisäern wahrnimmt, ein quantitativer – und kein qualitativer – Unterschied besteht, ist sicher richtig gesehen. Ob sich das von Mt gewählte Verb hingegen wirklich auf die Pharisäer bezieht und nicht vielmehr die Jünger dazu auffordert, »mehr« zu leisten, bleibt zu fragen.
Das hohe Gewicht, das in F.s Matthäusexegese dem Bogen von 5,17ff. zu 23,2.3a zukommt, wirkt sich auf sein Bild von der mt Gemeinde aus Juden und Nichtjuden aus. Die unbedingte Treue zur Tora auch in ihrer pharisäisch-rabbinischen Konkretisierung lasse es wahrscheinlich erscheinen, dass Mt davon ausging, auch Nichtjuden, die sich der Christus bekennenden Gemeinschaft anschließen wollten, seien selbstverständlich in den von der Tora beschriebenen Lebensraum eingetreten und hätten die jüdische Lebensweise angenommen bzw. seien Juden geworden: »der vollständige Übertritt zum Judentum« stelle »die angemessene Konsequenz der Annahme des Christus-Bekenntnisses dar. Denn damit wird nicht nur die Hinwendung zum Gott Israels vollzogen (vgl. 1Thess 1,9), sondern auch die Überzeugung zur Erfüllung jüdischer Endzeithoffnung geteilt« (21). »Dem widerspricht nicht die Tatsache, dass Mt die Beschneidung nicht erwähnt. … Gerade sein Schweigen zu dieser Frage spricht für eine andere Folgerung, dass der Übertritt zum Judentum für die nichtjüdischen Männer das Übliche war – und das bedeutete eben, sich beschneiden zu lassen« (21). F.s Beschreibung der mt Gemeinde changiert zwischen den in Apg 15,5 (vollständige Konversion) und Apg 15,13–21 (Befolgung der Jakobusklauseln) beschriebenen Positionen (21 f.). Eine Spannung zu Mt 5,17–19 sieht F. auch im zweiten Fall nicht gegeben, denn auch dann, wenn Heiden im Status der Gottesfürchtigen blieben, orientierten sie sich an der Tora, und so bliebe der »jüdische Cha-rakter der Christus-Gemeinschaft« gewahrt (22).
Im Blick auf den jüdischen Charakter der Gemeinschaft ge­winnt nun die Petrusverheißung in Mt 16,18 ihr besonderes Profil: Sie beschreibt Petrus als Fundament, auf dem Gott seine Gemeinschaft erbauen wird. Dieses Fundament steht nun aber konkret »für die jüdische Identität der Urkirche, der sich auch ihre jüdischen Mitglieder unterzuordnen haben« (289). Nach F. macht sich das in besonderer Weise an der historischen Gestalt des Petrus fest, näherhin an seiner Rolle in der Debatte um die Notwendigkeit der Beschneidung und seiner grundsätzlichen Bejahung der »Missionspraxis von Antiochien« (»Einhalten eines Minimums der Reinheitstora« [289]), wie sie sich in Apg 15 und Gal 2 spiegeln.
Wegen der exemplarischen Bedeutung der Petrusgestalt und ihrer Präsenz in Antiochien (Gal 2,11 ff.) spricht sich F. für eine Verortung des MtEv in dieser Stadt aus (20).
Petrus steht also für ein Gemeindekonzept, das an der jüdischen Identität der Christusgemeinschaft festhält und in Treue zur Tora lebt. Darin hätte – so F. – das antike Judenchristentum das mt Erbe wohl treuer bewahrt als die heidenchristlich geprägte Großkirche (290).
Aus alledem ergibt sich, dass der Konflikt zwischen der mt Ge­meinde und ihrer Konkurrenzgruppe nicht in einer unterschiedlichen Haltung zur Tora bestanden haben könne. Was die Einstellung zur Tora anbelange, sei es »im positiven Sinne ›gleich-gültig‹«, ob man sich der einen oder der anderen Gemeinschaft zuwende (27). Dieses sehr harmonische Bild wirft allerdings zwei Fragen auf. Worin bestand der Konflikt zwischen der mt Gemeinde und der konkurrierenden Gruppe? Wie ist das Verhältnis der mt Ekklesia im Kontext anderer jüdischer Gruppen bzw. des ganzen Volkes Israel zu bestimmen?
Die erste Frage lässt sich nach F. sehr eindeutig beantworten: Streitpunkt sei das Bekenntnis zu Jesus. Nur weil die Konkurrenten der mt Gemeinde »das Christus-Bekenntnis ablehnen, verweigern sie sich in den Augen des Mt dem Willen Gottes, laden also Schuld auf sich. Da nützt ihnen ihre ganze Lehrautorität nicht – solange sie sich in diesem Punkt als ›blind‹ erweisen, haben sie bei(m Jesus des) Mt keine Aussicht darauf, dass ihre (ernsthafte Suche nach) Gerechtigkeit unvoreingenommen gewürdigt wird« (26). Dabei achtet F. mit Recht darauf, dass Mt zwischen dem Volk und der schriftgelehrt-pharisäischen Konkurrenz unterscheidet. Das zeige sich z. B. in Mt 21,33–46: »Weil sich seine pharisäischen Gegner Jesus Chris-tus verweigern, droht Mt ihnen damit, dass Gott an ihrer Stelle der Messias-Jesus-Gemeinschaft die Verantwortung für das Reich Gottes übertragen wird …« (332). Mt differenziert: »›Die Volksscharen‹ stehen auf der Seite Jesu (vgl. 16,14; außerdem 21,26)« (323), es sind die Konkurrenten des Mt, denen seine Kritik gilt. Ihre Lehre (über Jesus) sei der Sauerteig (Mt 16,11 f.), vor dem sich die Gemeinde in Acht zu nehmen habe (285).
Die christologischen Ausführungen des Evangeliums begegnen dann konkreten Anfragen von außen und aus dem Raum der Gemeinde, indem sie »das Bekenntnis zu Jesus als Christus, als Sohn Davids, als Sohn Gottes, als Menschensohn(-Richter)« unterstreichen »und die ihm übertragene Funktion zu verteidigen« suchen, »der endzeitliche Repräsentant Gottes, der Emmanuel zu sein« (29).
Wenn es nun die Bedeutung Jesu war, die im Zentrum der Auseinandersetzung zwischen Mt und seinen Gegnern stand, dann fällt auf, dass Mt das Christusbekenntnis doch nicht zum entscheidenden Kriterium im Endgericht macht. Dort geht es nicht um das Bekennen, sondern um das Tun (Mt 7,21 f.24 ff.; 25,31 ff.). Überhaupt entscheidet sich für F. das endzeitliche Geschick der Glieder des Volkes Israel nicht an der Annahme oder Ablehnung des Bekenntnisses zu Jesus bzw. an der Zugehörigkeit zur Ekklesia.
Damit gerät eine zweite Kardinalstelle in den Blick, auf die F. immer wieder verweist: Mt 23,39 (31.359 ff. u. ö.). Dieser Vers be­schreibe die »Parusie Jesu Christi« als »Heilsgeschehen für ganz Israel« (358). In der Rede von der Begrüßung des wiederkommenden Christus liege eine »›un-bedingte‹ Verheißung« (359) vor, nämlich zur Rettung ganz Israels – auch wenn es Christus zuvor abgelehnt habe. F. geht davon aus, dass Mt in der Sache »keinen anderen Standpunkt einzunehmen« vermochte »als der Paulus von Röm 9,4 f.; 11,28 f. und 15,8. Gott erweist Israel durch Jesus Christus seine Treue« (359).
F. führt für diese Deutung zwei Hauptargumente ins Feld: Erstens sei Mt in der biblischen Grundüberzeugung verwurzelt, »dass Gott seinem Volk zwar zürnen kann, doch wenn er es tut, dann nicht auf Dauer« (359). Zweitens sei »ein Messias, der sich von seinem Volk abwendet, sich gegen es wendet … ein Widerspruch in sich selbst« (31). Es sei die Aufgabe des Messias, »Gottes Treue gegenüber Israel zu erweisen«, und darum könne der Messias nur als der kommen, »der Israel in seiner Gesamtheit wieder herstellt« (32).
Demgegenüber kann man natürlich fragen, ob andere neutestamentliche Schriften, die im Kontext des Judentums entstanden sind, das Bekenntnis zu Jesus nicht doch zum zentralen Kriterium machen – ja, ob die Verkündigung der ersten Jesusanhänger im Judentum nicht von der Gewissheit getrieben war, dass die Zugehörigkeit zu Jesus heilsrelevant war (vgl. nur Apg 2,38; 4,12; 13,38 aber auch Mt 10,15.33). Das ändert aber nichts daran, dass Mt im Blick auf das Endgericht andere Maßstäbe anvisiert hat als das Bekenntnis zu Christus.
Für die Missionsbestrebungen der mt Gemeinde ergibt sich daraus eine paradoxe Situation: Einerseits hält Mt »die Tür zur Umkehr stets offen« und ist weit davon entfernt, »die Verantwortlichkeit des einzelnen Menschen … für belanglos« zu erklären, andererseits weiß er darum, dass »die Erlösung letztlich allein durch das Erbarmen Gottes kommt« (359) und darum nicht von der Antwort des Menschen abhängig gemacht werden darf.
Die Ekklesia, die Mt vor Augen hat, ersetzt nicht das Volk Israel (288), ist nicht der einzige Raum, in dem Heil zu finden ist und stellt auch nicht das »wahre Israel« dar (31). Sie sei vielmehr »so etwas wie der Kristallisationskern des endzeitlich zu sammelnden Gottesvolkes Israel, von dem aber die nicht ausgeschlossen sind, die Jesus als Messias (noch) nicht annehmen« (289).
F. legt einen theologisch klar profilierten Kommentar vor, in dem gerade sonst vernachlässigten Versen eine tragende Rolle zukommt (Mt 23,2.3a und 23,39). Beide Verse – wie das gesamte 23. Kapitel des MtEv – eröffnen ja in der Tat Einblicke in den Konflikt zwischen einer christusgläubigen und einer nicht christusgläubigen Gruppe im Judentum vor dem Auseinandergehen der Wege von Judentum und Christentum. Es liegt am Profil der Kommentarreihe, dass manche exegetische oder philologische Einzelentscheidung nicht in der gebotenen Ausführlichkeit diskutiert werden kann. Schade ist das im Blick auf die Bedeutung rabbinischer Texte für die Auslegung des MtEv, die methodisch durchaus umstritten ist. F. zieht sie häufig heran, begründet das aber nur in einer sehr knappen Fußnote (24, Anm. 15); er hätte sich hier besser gegen den Verdacht der »Parallelomanie« absichern können. In der Einleitung eines solchen Kommentares wären außerdem einige Hinweise zum Aufbau und zu weiteren theologischen Schwerpunkten des MtEv hilfreich gewesen.
Andere Unschärfen (für welches Modell messianisch-jüdischer Existenz steht Petrus nun genau?) lassen sich wohl nicht vermeiden, weil es sich beim MtEv nicht um eine dogmatische Abhandlung handelt. So bleibt Raum für kritische Nachfragen. Dafür ist der Kommentar klar und benutzerfreundlich geschrieben, so dass er neueste exegetische und hermeneutische Einsichten in die breite interessierte Öffentlichkeit hinein zu vermitteln vermag. Dass er darüber hinaus solche Einsichten für die Fachwelt bündelt und fruchtbar macht, ist nicht das geringste Verdienst dieses Buches.