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Ausgabe:

Juli/August/2008

Spalte:

793–794

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Vette, Joachim

Titel/Untertitel:

Samuel und Saul. Ein Beitrag zur narrativen Poetik des Samuelbuches.

Verlag:

Münster: LIT 2005. IX, 251 S. gr.8° = Beiträge zum Verstehen der Bibel, 13. Kart. EUR 24,90. ISBN 3-8258-8897-5.

Rezensent:

Georg Hentschel

Die Dissertation bei Manfred Oeming unternimmt es, die Erzählungen über Samuel und Saul in 1Sam 8–12 auf neue und durchaus überraschende Weise zu lesen. Da die Erzählanalyse bzw. der narrative criticism »im deutschsprachigen Raum kaum rezipiert« sei, möchte Joachim Vette dieser Methode zum Durchbruch verhelfen, ohne den Dialog mit der historisch-kritischen Forschung aufzugeben. V. stellt darum seine Methode ausführlich vor (7–61), diskutiert ihre Grundlagen (63–84) und weist auf die bisherigen narrativen (87–101) wie historisch-kritischen Arbeiten (101–107) zur Exegese der Erzählungen über Saul und Samuel hin.
V. hofft, vor allem mit der »Unterscheidung zwischen Stimmen und Erzählperspektive und der Profilierung einzelner Figuren im Erzählgeschehen« einen eigenständigen Beitrag liefern zu können. Wie hilfreich ist es, die Stimmen der einzelnen Figuren und die Perspektive des Erzählers zu unterscheiden? Dazu einige Beispiele: In Samuels Augen führt die Begegnung Sauls mit den Propheten dazu, dass der Geist Jhwhs auf Saul überspringt, Letzterer in Ekstase gerät und in einen anderen Menschen verwandelt wird (1Sam 10,6). Der Erzähler schildert jedoch, dass Gott das Herz Sauls verwandelt hat, bevor er auf die ekstatischen Propheten trifft (10,9). Anschließend führt der Erzähler aber die Ekstase auf den Geist Gottes zurück (10,10). Was kann der Leser dieser Stimmenvielfalt entnehmen? Ist die Ekstase geistgewirkt (10,6.10) oder überflüssig (10,9)? In 1Sam 8 unterscheidet V. zwischen der Stimme Jhwhs und derjenigen Samuels und sieht darum keinen Grund, die Warnung vor den ökonomischen Folgen der Monarchie (8,11–18) mit Frank Crüsemann (Der Widerstand gegen das Königtum, 1978, 73) als eine ältere Polemik zu verstehen, die sich an wohlhabende israelitischen Bauern richtet. »Die Profilierung der unterschiedlichen figürlichen Stimmen macht eine diachrone Beziehung unnötig, da textliche Spannungen im kontrapunktischen Spiel der Figuren sinnvoll werden.« (118) Ist damit wirklich eine Medizin gefunden, um die biblischen Erzählungen nicht mehr »sezieren« zu müssen? Dass Samuel zweimal bekannt gibt, dass sich die Eselinnen eingefunden haben (9,20a; 10,2), ist auch für V. »auffällig«. Lässt sich einer der Widersprüche in den Ankündigungen Samuels dadurch auflösen, dass Samuel Saul nur im prophetischen Bereich freie Hand gibt (10,7), ansonsten aber »seinen eigenen Führungsanspruch deutlich« macht (10,8)?
Wenn man auf die Stimmen der Figuren und die Perspektive des Erzählers achtet, dann lassen sich nach V. die Figuren genauer profilieren. Samuel betont in seiner Rede (12,2), dass der König Samuels Rolle übernommen hat. Hier werde »die ›Wachablösung‹ Samuels von Saul sehr schön zum Ausdruck gebracht« (204). Saul übernehme die Rolle eines Richters, die Samuel bislang ausgefüllt habe (vgl. 11,1–13). Das bedeute für 1Sam 9,16: »Der Auftrag Gottes zielt also auf eine Wachablösung, eine Amts- bzw. Autoritätsübergabe.« Genau dagegen sträube sich Samuel aber schon in der vorangehenden Erzählung: Er schickt – trotz dreimaliger Aufforderung, dem Volk einen König zu geben (8,7a.9a.22a) – die Israeliten nach Hause (8,22b). Die gleiche »Verzögerungstaktik« beobachtet V. in der Er­zählung über die Eselinnensuche (9,1–10,16). Nirgendwo teilt Samuel Saul ausdrücklich mit, dass er Israel aus der Hand der Phi-lister befreien soll. Musste Samuel aber den Auftrag von 9,16 wirklich wiederholen? Samuels Abneigung gegenüber Saul kommt nach V. auch darin zum Ausdruck, dass er ihn mit den »Mitteln einer kriminellen Überführung«, d. h. mit dem Los bestimmen lässt, mit dem man sonst (Jos 7,10–18 und 1Sam 14,38–42) Schuldige überführt hat. Die Szene in Mizpa sei nur dort »königsfreundlich«, wo Samuel übergangen wird (10,22.23). In seiner Abschiedsrede (1Sam 12) dränge sich Samuel hingegen als Mittler zwischen Gott und Israel massiv in den Vordergrund. Ebenso ließe sich fragen, ob man Saul schon deshalb absprechen muss, eine »Führungspersönlichkeit« zu sein, weil er als junger Mann auf andere hört (9,5–8.12–13.19.22.26.27; 10,8). Was ist mit der Abwertung der biblischen Gestalten gewonnen? Geht dabei nicht der Bezug zum geschichtlichen Hintergrund der Erzählungen verloren? Es ist bezeichnend, dass V. keine befriedigende Antwort auf die Frage findet, warum Samuel dem Volk einen König geben soll, obwohl das Königtum den Abfall von Jhwh einschließt (8,7–9; 10,19). Musste der Autor nicht auf die nachfolgenden Erzählungen und die geschichtliche Tatsache der Monarchie Rücksicht nehmen? V. bleibt leider den angekündigten Dialog zwischen narrativ-poetischer und historisch-kritischer Exegese schuldig. Das mindert den Wert eines solchen Impulses, die vorliegende Gestalt der Saulerzählungen ernst zu nehmen, keineswegs. Es ist überaus lohnend, aber auch ernüchternd, mit V. die Erzählungen in 1Sam 8–12 als literarische Einheit zu lesen.