Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2008

Spalte:

786–788

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Schulze Wessel, Martin [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Nationalisierung der Religion und Sakralisierung der Nation im östlichen Europa.

Verlag:

Stuttgart: Steiner 2006. 272 S. gr.8° = Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa, 27. Geb. EUR 40,00. ISBN 978-3-515-08665-3.

Mit einer Mischung aus Verständnislosigkeit, Erschrecken, aber durchaus auch dem Gefühl der Überlegenheit reagieren nicht selten Menschen in West- und Mitteleuropa auf Nachrichten über die Verbindungen und Verschmelzungen von Nation und Religion im östlichen Europa. Mit Interesse greift man daher zu diesem Sammelband, dessen Beiträge versuchen, zur Entwirrung jener Verhältnisse im Blick auf das 19. Jh. beizutragen.
Der Herausgeber unterstreicht in seiner differenzierten Einleitung (7–14) zu Recht, dass der Nationalismus nicht einfach an die Stelle der Religion trat; dass die Moderne die Religion nicht nur herausforderte, sondern gleichzeitig von ihr geprägt wurde; dass der Gegensatz zwischen einem primär politischen Nationalismus im Westen und einem betont kulturellen im Osten die Realität nicht trifft. Aber bietet die theoretisch überzeugende Unterscheidung zwischen der Sakralisierung der Nation bzw. der Nationalisierung der Religion ein handhabbares Instrumentarium, um die komplizierten Bezüge zu erhellen?
Auf eher allgemeine Bemerkungen über konfessionelle Konflikte (Th. Bremer, 15–28) folgen zwölf sehr unterschiedliche Beiträge zum Thema. Vier nehmen Vorgänge in Polen in den Blick, je zwei beschäftigen sich mit Russland, der Ukraine und Ungarn. Ein Artikel ist Rumänien gewidmet und ebenfalls einer Serbien. Versucht man, die Vielfalt dieser Studien sachlichen Gesichtspunkten zuzuordnen, belegen drei die Anpassung und Umformung nationaler Legenden und Heiligengestalten an die sich wandelnden historisch-politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Polen und Deutschland (St. Laube, Nationaler Heiligenkult, 31–49), in Russland (F. B. Schenk, Alexandr Nevskij, 51–71) sowie in Krakau (H. Binder, Nationale Festkultur, 121–140). Von dem Bestreben, ethnische und religiöse Differenzen, Spannungen und Gegensätze durch den Nationalismus zu überlagern, handeln Hans-Christian Maner im Blick auf Siebenbürgen (75–88) und Christoph Mick hinsichtlich des Kultes des Unbekannten Soldaten in Polen (181–200). Aufschlussreich ist, dass diese Politik keineswegs die religiösen Be­sonderheiten aufzulösen vermochte, sondern lediglich eine andere neue Ebene darüber schuf. Insofern gelang die angestrebte nationale Integration auch nur begrenzt.
Besonders spannungsreich verlief dieser Prozess in der Ukraine. Von verschiedenen Seiten her beleuchten John-Paul Himka (89-99) und Ricarda Vulpius (101-118) den Zusammenprall eines betont säkularen Nationalismus im Osten des Landes mit dem stark religiös aufgeladenen Nationalismus im Westteil des Landes einerseits und andererseits die quer dazu verlaufenden Auseinandersetzungen zwischen einer an Moskau gebundenen Orthodoxie und einer eigenständigen orthodoxen Kirche der Ukraine.
Über die Haltung des ungarischen Protestantismus im Ersten Weltkrieg informiert sodann Juliane Brandt (155–179). Bemerkenswert sind neben den europäischen Gemeinsamkeiten die nationalen Besonderheiten: Nachdrücklich hoffte man, je länger der Krieg andauerte, desto intensiver, auf eine religiös-moralische Erneuerung. Die calvinistische Neoorthodoxie predigte schließlich diese individuelle Umkehr als das Entscheidende. In Serbien dagegen vollzog sich eine regelrechte Sakralisierung der Nation. Klaus Buchenau zeigt auf, wie sich die unterschiedlichsten religiösen, politischen und kulturellen Elemente in diese Konzeption einschmelzen ließen (203–232).
Zuletzt sind drei ausgesprochen spezielle Beiträge zu nennen. Joachim von Puttkamer zeigt, dass die Wirkung der staatlich verordneten ungarischen Schulfeste ausgesprochen gering war (141–152). Dass es russischen Intellektuellen bei ihrer Proklamation der Überlegenheit des Ostens gegenüber dem Westen nicht um eine rationale Analyse ging, sondern um die Abgrenzung gegen-über dieser negativen Folie, belegt Vera Urban (233–253). Dirk Uffelmann schließlich interpretiert ein Werk des polnischen romantischen Dichters Zygmunt Krassi´nski, in dem die Analogie Christus/Polen deutlich dargelegt, aber gleichzeitig im Sinn eines antizipatorischen Erlebens gebrochen wird (255–272).
Alle diese Studien bieten reiche Informationen über Regionen, deren Geschichte zumeist wenig bekannt ist. Sie tragen insofern auch zur eingangs formulierten Themenstellung bei. Aber die Untersuchungen sind andererseits doch allzu speziell und auch disparat, als dass sie eine Verifizierung oder Falsifizierung der vom Herausgeber umrissenen Fragen bieten könnten. Hier liegt die Grenze dieses anregenden Bandes.