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Ausgabe:

Juli/August/2008

Spalte:

778–780

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Çinar, Hüseyin Ilker

Titel/Untertitel:

Maria und Jesus im Islam. Darstellung anhand des Korans und der islamischen kanonischen Tradition unter Berücksichtigung der islamischen Exegeten.

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz 2007. 303 S. gr.8° = Arabisch-Islamische Welt in Tradition und Moderne, 6. Geb. EUR 48,00. ISBN 978-3-447-05589-5.

Rezensent:

Friedmann Eißler

Der in Heidelberg promovierte Islam- und Erziehungswissenschaftler will »eine wissenschaftlich fundierte Beantwortung« der Frage nach der Bedeutung von Maria und Jesus im Islam vorlegen, die zu einem besseren Verständnis zwischen Judentum, Christentum und Islam beitragen und so den interreligiösen Dialog befördern soll (11). Dazu stellt er in klar gegliederten Blö-cken Texte aus Koran und islamischer Tradition in deutscher Übersetzung vor, zum Teil direkt zitierend mit Transliteration und Übersetzung, zum Teil referierend in Paraphrase und Zusammenfassung. Die vier Hauptkapitel behandeln Maria und Jesus je »im Koran« sowie »in der islamischen kanonischen Tradition«. Vorangestellt bzw. zwischengeschaltet sind einleitende Kapitel, einmal zu den drei durchgehend berücksichtigten Ko-rankommentatoren (aṭ-Ṭabarī [st. 923], az-Zamaḫšarī [st. 1144], ar-Rāzī [st. 1210], deren Einführung knapp und informativ den gängigen Referenzwerken entnommen wird), zum andern zu den kutub as-sitta, den »Sechs Büchern« der traditionell anerkannten Hadithsammlungen (deren Autoren bzw. Kompilatoren kurz vorgestellt werden, nicht aber die Kommentatoren hierzu, die direkt herangezogen werden: vor allem an-Nawawī [st. 1253], al-‘Ainī [st. 1451], al-Qasṭālānī [st. 1517], al-Mubārakfūrī [st. 1934], .Ibrahim Canan [geb. 1940]). Schließt schon jedes Kapitel mit einer Zusammenfassung, so gilt dies auch für das Buch insgesamt (Kapitel 5, Überblick). Nach dem sich anschließenden Literaturverzeichnis wird als Exkurs ein nicht in den Titel aufgenommenes, aber thematisch in der Tat unmittelbar zugehöriges Kapitel über »Zacharias und Johannes im Koran« hinzugefügt, das methodisch in gleicher Weise vorgeht und seinerseits noch einmal mit einem knappen Literaturverzeichnis abgeschlossen wird.
Das große Verdienst des Buches ist die Aufarbeitung und gut verständliche, flüssige Erschließung insbesondere des nachkoranischen Materials zum Thema für ein breiteres Publikum, sowohl was die Korankommentare, als auch was die Auswahl aus den Überlieferungssammlungen sowie deren Kommentierungen anbetrifft. Wir haben bisher eine Menge an Arbeiten zu unterschiedlichen Aspekten der koranischen Texte (vgl. etwa M. Bauschke, L. Hagemann, H. Räisänen, G. Riße u. v. a.), aber kaum solche, die die islamische Traditionsliteratur auch nur annähernd mit einbeziehen (vgl. immerhin Tarif Khalidi, Der muslimische Jesus. Aussprüche Jesu in der arabischen Literatur, Düsseldorf 2002 [engl. Original 2001]; Nimetullah Akın, Untersuchungen zur Rezeption des Bildes von Maria und Jesus in den frühislamischen Geschichtsüberlieferungen, Edingen-Neckarhausen 2002; in Ansätzen die Broschüre von Ah­mad von Denffer, Der Islam und Jesus, Schriftenreihe des Islamischen Zentrums München Nr. 18, 3. Aufl. München 2000; oder Ahmed Ginaidi, Jesus Christus und Maria aus koranisch-islamischer Perspektive. Grundlagen eines interreligiösen Dialogs, Stuttgart 2002, die Letzteren freilich wissenschaftlichen Ansprüchen nicht genügend), und bisher praktisch gar keine, die beides in so vorbildlicher Weise und in größerem Umfang verbinden. Dazu kommt die Aufwertung der bislang allzu vernachlässigten Gestalt der Maria in diesem Kontext.
Dies ist angesichts des nach wie vor vergleichsweise wenig be-­ackerten Feldes der zumeist in herkömmlichen unkritischen Ausgaben vorliegenden Traditionsliteratur eine nicht zu unterschätzende und dankbar anzuerkennende Leistung.
Die Arbeit entspricht daher ihrem Selbstverständnis, bereits existierenden Studien ergänzend zur Seite zu treten (14), ja, sie setzt einen wichtigen neuen Impuls zur Füllung einer spürbaren Lücke. Nicht entspricht sie allerdings dem explizit formulierten An­spruch, »eine inhaltliche Interpretation der Texte« zu leisten (15), es sei denn, reine Textdarstellung verstehe man als solche.
Vor dem Auge des Lesers ziehen Szenen aus dem Leben der Protagonisten vorüber – thematisch gleichsam biographisch-chronologisch angeordnet –, die jeweils mit den Aussagen der entsprechenden Kommentatoren beleuchtet und entfaltet werden. So er­fährt man im Koranteil etwas über Marias Familie, Marias Geburt ebenso wie über »Maria als Vorbild für die Gläubigen« oder »Maria als auserwählte Frau unter den Frauen«; Jesu Geburt, seine Wundertaten, seine Erhebung in den Himmel sind ebenso Thema wie sein Verhältnis zu Adam oder zu Muhammad oder auch der muslimische Widerstand gegen Jesus und verschiedene christliche Lehren. Be­sonders interessant, weil unbekannter, sind die Ausführungen zu den Überlieferungen: »Maria als Herrin des Paradieses«, »Ist Maria der islamischen Theologie zufolge eine Prophetin?« oder »Der Teufel berührt Maria und ihr Kind Jesus bei der Geburt nicht« Sie stehen neben Abschnitten über die äußere Erscheinung Jesu, wie Muhammad sie im Traum schaute, oder »Jesus als ein Element des Jüngsten Tages« und »Jesus als mahdī«, als endzeitliche Erlösergestalt. Hier spielen auch die Texte eine Rolle, die Jesu Wiederkunft in Damaskus, das Töten der Schweine und die Beseitigung der Kruzifixe bis hin zu seinem Begräbnis neben dem Prophetengrab zum Gegenstand haben. Ein prophetologischer Kosmos voller literarischer und poetischer Verflechtungen und intertextueller Verweisungen gewinnt Gestalt, der islamische Lebenswelten mit ihrem eigenen Gepräge aufschließt – oder aufschließen könnte.
Denn dieser Reichtum wird nun allerdings kaum transparent. Steckt in den wiedergegebenen Kommentaren selbstverständlich ›Interpretation‹ der Ausgangstexte, so wird diese gleichwohl nicht selbst in den Blick genommen, die »wissenschaftliche Methodik« (17 und öfters betont) scheint im Wesentlichen nicht über die sinnvolle systematische Anordnung der Texte hinauszugehen. So bleibt der Vf. ganz auf der Ebene der Texte, ohne analytische Tiefenschärfe, wenn er beispielsweise das im Kontext der Geburt Marias vorkommende Bait al-Maqdis mit allerlei in Verbindung bringen kann (Moschee, Tempel, Kirche oder gar Kloster?, 31 ff. und noch andere), nur nicht mit dem naheliegenden Hinweis auf Hebräisch Bet ha-miqdash als Ausdruck für den Jerusalemer Tempel; wenn er ganz unkritisch auch Hebräisches aus der islamischen Literatur zitiert (z. B. mašīḥan für hebräisch mašiaḥ, 207); oder – gravieren-der – wenn völlig unklar bleibt, welche der vorgetragenen Traditionen etwa in der Bibel oder im außer- und nachbiblischen Schrifttum bekannt sind, welche hingegen aus muslimischer Feder stammen und in welcher Weise man sich die Verhältnisse vorstellen kann. Schade ist dies z. B. in Bezug auf Jesus (»Widerstände gegen die Verkündigungen Jesu«, 97 ff.), wenn die positivistische Textaufnahme etwa zu Anfeindungen Jesu durch die Juden vom Vf. unkommentiert bleibt. Was der Koran bzw. Muhammad mit den Jesusüberlieferungen macht, wird mit keiner Silbe problematisiert. Keinerlei Hinweis auf Parallelen auch dort, wo sie unmittelbar auf der Hand liegen, etwa dass »auch der Sohn« die eschatologische Stunde nicht kennt (Mk 13, s. 220). Auch wo es dezidiert um das Judentum geht, wird nicht nur ein wahrscheinlicher Bezug wie der zwischen Rabb al-‘ālamīn und hebräisch Ribbon ha-‘olam(im) »Herr der Welt(en)« nicht hergestellt, sondern eben dieser Ausdruck mit 38 koranischen Belegen zudem nachgerade als Gegenkonzept zum »Gott der Juden« in Stellung gebracht (237). Wie wenig der Vf. sich von seinem Stoff distanzieren kann, zeigen etwa auch Stellen wie die durchaus brisante Debatte über Abrogation und Bestätigung der Offenbarungsschriften (96 f.) oder »Die Erhebung Jesu in den Himmel« (112 ff.) oder die krausen Jesusgeschichten, 84 f., die ohne jede reflektive Intervention dargestellt werden, als ob – auch und gerade für den Dialog – jeglicher Kontext ausgeblendet werden könnte.
Die behauptete Ausrichtung auf den Dialog und die Rede vom angemessenen Umgang mit Gemeinsamkeiten und Unterschieden erleiden Einbußen, wenn die Enthistorisierung und die Kerygmatisierung der Überlieferungen durch die islamische Tradition eine unkritische Fortsetzung unter wissenschaftlichem Vorzeichen erfahren.
Nutzen und Gewinn auf der Ebene der Texte auch im Sinne des gegenseitigen Kennenlernens werden – es sei betont – dadurch nicht geschmälert, auch nicht durch eine Reihe von Doppelungen und z. T. wörtlichen Wiederholungen (54–56/75–77; 55, Anm. 83 = 76, Anm. 12; 56/77; 56 f./79 f.; 69 f., Anm. 2 u. 3 = 277 f., Anm. 1 u. 2; 211, Anm. 34/31 f., Anm. 8; 194 f./231 f.; 215, Anm. 49 entspricht Haupttext 193 f.; mit Angabe der Parallele 34–38 = 278–282) sowie etliche kleinere Unstimmigkeiten und Fehler. Diese betreffen neben (heute fast schon üblichen) Unstimmigkeiten bei der Transliterierung und Vokalisierung des Arabischen manche Übersetzungen: Sinnentstellend ist »Geist der Helligkeit« (86), ebenso die Punktierung istiḍlāl an Stelle istidlāl (219); gelegentlich wird die Schärfe des Originaltextes abgeschwächt (190 in Bezug auf Frauen: »wenige« an Stelle »keine«); der äthiopische ›Negus‹, an-Nağāšī, wird als Eigenname verstanden, das christliche Nağrān im Süden der Arabischen Halbinsel mit Äthiopien verwechselt (74.229.263). – Fraglich erscheint, wie sinnvoll es ist, für Erklärungen von Grundbegriffen ausschließlich auf arabisch- und türkischsprachige Sekundärliteratur zu verweisen (14, Anm. 8; 15, Anm. 9; 25, Anm. 38; 31, Anm. 8; 69 f., Anm. 3 = 277, Anm. 1 u. ö.). – Wäre ein Index (etwa für die Koranstellen) immerhin wünschenswert gewesen, so fehlen in den beiden Literaturverzeichnissen doch so wichtige Titel wie Neal Robinson, Christ in Islam and Christianity. The representation of Jesus in the Qur’an and the classical muslim commentaries, Basingstoke 1991; Roberto Tottoli, Biblical proph-ets in the Qur’an and Muslim literature, Richmond 2002, oder der schon erwähnte Tarif Khalidi, Der muslimische Jesus. Man hätte auch an Olaf Schumann, Der Christus der Muslime. Christologische Aspekte in der arabisch-islamischen Literatur, 2. Aufl., Köln u. a. 1988, oder H. und H. Josua, »Sie haben ihn nicht getötet und sie haben ihn nicht gekreuzigt.« Die Kreuzigung Jesu im Islam, in: H. Josua (ed.), Allein der Gekreuzigte. Das Kreuz im Spannungsfeld zwischen Christentum und Islam, Holzgerlingen 2002, 107–160, denken können, nicht zuletzt auch an die Textsynopsen von J.-D. Thyen und neuerdings S. J. Wimmer/S. Leimgruber.