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Ausgabe:

Juni/2008

Spalte:

708–711

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Nethöfel, Wolfgang, u. Klaus-Dieter Grunwald [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Kirchen­reform jetzt! Projekte – Analysen – Perspektiven.

Verlag:

Hamburg-Schenefeld: EB-Verlag 2005. 388 S. m. Abb. u. Tab. 8° = Netzwerk Kirche, 1. Kart. EUR 19,80. ISBN 3-936912-31-9.

Rezensent:

Ralph Kunz

Schon seit geraumer Zeit ist die Kirchenreform ein wichtiges Thema in Kirchenleitungen, Akademien und Theologischen Fakultäten. Deshalb erstaunt es nicht, dass sich der badische Landesbischof Dr. Ulrich Fischer im Vorwort zu diesem Sammelband genötigt sieht, die Publikation einer weiteren Serie von Reformvorschlägen mit einem »jetzt!« im Titel zu verteidigen, indem er den Kritikern gleich den Wind aus den Segeln nimmt: »›Und wieder wird das Rad neu erfunden!‹ Wie oft haben wir diesen Klageruf schon gehört oder selbst ausgesprochen – ganz besonders, wenn es gilt, Reformprozesse in der Kirche anzustoßen … Dabei könnten wir so viel voneinander lernen, uns in der Kirche geistlich bereichern, wenn nur die Vernetzung besser klappen und Ideen besser miteinander kommuniziert würden.« (7 f.) Diesem Anliegen soll der vorliegende Band und sollen nachfolgende Bände dienen. Dem »Netzwerk Kirche«, über dessen Gründung, Zielsetzung und Arbeitsstrukturen die Herausgeber in ihrer Einleitung berichten (34–38), geht es neben solchen Publikationen grundsätzlich um die Förderung der Kommunikation über Reformprozesse. Das Netzwerk, das 2001 in Darmstadt gegründet wurde, verbindet 30 Theologen und einige Soziologen und Juristen – Frauen und Männer. Im Fokus ist die kirchliche und religiöse Situation in den urbanen Gebieten Deutschlands. Gearbeitet wird interdisziplinär, mit Praxisbezug, im kollegialen Austausch und mit ökumenischem Bezug. Die Netzwerkidee zielt auf eine Art Gedankenbörse, durch die »Lernprozesse von neuer Qualität« (37) in Gang gesetzt werden können. Einige der 18 Beiträge, die W. Nethöfel und K.-D. Grunwald in den fünf Kapiteln eingeordnet und gesammelt haben, erfüllen diesen Anspruch. Andere lösen in der Tat ein Déjà-vu aus, gerade weil der Anschein erweckt wird, dass wieder einmal das Rad neu erfunden wurde. Der Rezensent beschränkt sich darauf, vier gewichtige Beiträge zu besprechen.
In ihrer Einleitung plädieren die Herausgeber für ein »Aggiornamento im Reformbetrieb« (9–38). Das Plädoyer enthält auch eine Analyse des Scheiterns bisheriger Reformbemühungen. Reformwellen werden unterschieden und neue Reformherausforderungen benannt. Dabei scheuen die beiden Autoren nicht vor markigen Äußerungen zurück. Sie meinen: »Vor dem Hintergrund faktischen Organisationsversagens wird kirchlicher Provinzialismus zur eigentlichen Herausforderung.« (11) Welche Ursachen dieser Provinzialismus hat und welche Folgen er zeitigt, wird mit ebenso markigen Sätzen erläutert. Es sind die Reformverlierer, die mit ihren »Blockierungsaktivitäten« eine »Mikropolitik des Machterhalts« betreiben und eine »Verweigerungsmehrheit« schaffen. Ekklesiologisch laufe das auf die Erhaltung des Status quo hinaus. »Der gewohnte Gottesdienst, zuverlässige Amtshandlungen, in­tensive Seelsorge und die Aufrechterhaltung eines hochschwelligen Clubangebots scheinen den Erhalt jeden einzelnen kirchlichen Gebäudes und aller Plan- und Kostenstellen zu erzwingen, obwohl die Zielgruppen immer älter und immer kleiner werden.« (12) Dem morphologischen Fundamentalismus entspreche eine Theologie, »die sich von der Empirie abgekoppelt hat und die prinzipiell nicht auf physische, organisatorische und soziale Prozesse reagieren oder einwirken kann« (13). Die Folgen seien fatal. Es gebe weder eine Weiterentwicklung der Ekklesiologie durch die Verarbeitung praktischer Erfahrung noch eine Theorie, die es Praktikerinnen und Praktikern erlauben würde, ihre Reformarbeit zu reflektieren. Wachstumsphänomene in anderen Kirchen der Welt werden ignoriert, Geistliche werden in der Ausbildung nicht auf ihr »leader­ship« vorbereitet und Einzelkämpfer werden ausgebrannt. Das alles zusammen führe zu einem Reformstau, der überwunden werden soll – durch ein Aggiornamento (17). Nethöfel und Grunwald leihen sich das Signal der konziliaren Reform, um die Stoßrichtung ihrer Reform der Reform zu markieren. Dazu hätte man noch mehr sagen können. Interessant wäre eine Begründung der Beobachtung, dass die »reformträgen Organisationen … schlecht feiern und ehren [können]« (16). Für bedenkenswert halte ich auch die Be­hauptung, dass sich hinter dem Reformstau ein spirituelles Versagen verbirgt, eher für bedenklich die nähere Bestimmung dieses Versagens »als Gefährdung des Markenkerns«. In der Einleitung wird statt einer Kriteriologie eine Art praxeologische Skizze entworfen (29). Die Reformerzählungen sind nach einem bestimmten Raster entstanden, das – zu Recht – als »praktisches Ordnungs- und Verständigungsschema« bezeichnet wird. Daraus mehr »Theorie« abzuleiten, wäre falsch. Nethöfel und Grunwald verzichten be­wusst darauf, eine starke Innovationstheorie oder eine Methodik zu entwerfen. Sie wollen ermutigen »zu einer kirchlichen Praxeologie, die sich auszeichnen sollte durch Faktenfreudigkeit und Fehlerfreundlichkeit, praktische und theoretische Anschlussfähigkeit, Überlegungsgleichgewicht, dichte Beschreibung, begrenzte Reichweite und mittlere Axiome« (33).
Zu den Trouvaillen des Bandes gehört der Beitrag von Peter Scherle, Professor für Kirchentheorie und Kybernetik am Theologischen Seminar in Herborn. Man mag bedauern, dass vieles nur abgekürzt formuliert blieb, und sich über das Geflecht der Fußnoten ärgern. Die Redundanzverknappung im Text hat andererseits den Vorteil, dass die Substanz und das hohe Anregungspotential von S.s Überlegungen deutlich zu Tage treten. Die Basis bildet eine Analyse von 150 Projekten, die von Vikarinnen und Vikaren im Rahmen ihrer Ausbildung entwickelt wurden. S. identifiziert vier Faktoren, die für die Kirchenentwicklung eine Rolle spielen (43): Orte, Personen, Situationen und Inhalte. S. spricht von Faktoren, »weil durch sie Menschen ›erreicht‹ werden, weil sie zentral sind, um Zugänge zum christlichen Leben und Handeln zu eröffnen oder zumindest nicht zu verstellen« (ebd.). Die untersuchten Projekte der Vikare und Vikarinnen lassen erkennen, dass in der universitären Ausbildung (noch) wenig getan wird, um dieses Wissen fruchtbar zu machen und das Bewusstsein für die kontinuierliche Reformarbeit in der Kirche zu fördern. Es sei aber nicht nur ein Defizit hinsichtlich der Rezeption der kybernetischen Fach­diskussion festzustellen, sondern es seien auch Lücken in der Theorie der Kirchenentwicklung zu erkennen (46). S. bemängelt vor allem die gesellschaftstheoretische Fundierung der Ekklesiologie und verweist auf Bourdieus Mi­lieutheorie: »Bemerkenswert für unseren Zusammenhang der Kirchenreform ist, dass die Erkenntnis von Milieustudien, wonach die ›Profile kirchlicher Zielgruppen‹ den Bericht der ›unterprivilegierten Volksmilieus‹ vollständig preisgeben, keine Rolle zu spielen scheint« (48). Anregend sind auch die kurzen Bemerkungen zu den räumlichen und zeitlichen Strukturen. S. verwendet das Bild des Netzes, um die Pointe dieser Sichtweise zu verdeutlichen. Es spreche wenig dafür, die Maschen weiter zu machen. »Vielversprechender, weil missionarische Kraft stärkend, scheint eine neue Netz-Struktur, die sich um wirkmächtige sakrale Räume und Orte verdichteten christlichen Lebens als Knotenpunkte bilden« (51).
Ebenso anregend sind auch die ekklesiologischen und missionstheologischen Überlegungen, die S. im Anschluss an Sundermeiers (1996) Unterscheidung von primärer und sekundärer Religion entfaltet (52–58).
Im Anschluss an S. sollte der Bericht von Eberhard Hauschildt gelesen werden, weil in diesem Reformprojekt für das evangelische Wiesbaden Milieutheorien (hier nach Schulze, Vögele/Bremer/Vester) Verwendung gefunden ha­ben. Statt die Netze der Region zu weiten, versuchte das Projektteam, eine Angebotslandkarte zu schaffen (223–244). Hauschildt formuliert die offenen Fragen: »Was ist die spezifische christliche Botschaft für ein bestimmtes Milieu? Und was ist das Besondere, das dieses Milieu in die Kirche einbringt? Haben wir milieuspezifische Zielgruppen? Oder möchten wir versuchen, mit einem Angebot mehrere Milieus miteinander zu verknüpfen? Wo lässt sich in unseren Angeboten etwas davon ahnen, dass die christliche Botschaft für alle Menschen von Bedeutung ist und alle angeht?« (234)
Das Gliederungsprinzip des Buches ordnet die Reformprojekte auf den drei Ebenen der Gemeinde, der Region und der Landeskirche. Das ist sehr sinnvoll. Die Beiträge sind freilich von recht unterschiedlicher Machart. Zur Lektüre wenig einladend sind z. B. die vielen Listen im Artikel von Herbert Asselmeyer (199–219). Girschner­-Woldts Bericht über die Reform des Kirchenkreises Uslar Mitte der 1990er Jahre vermittelt einen guten Eindruck von den Schwierigkeiten eines regionalen Reformprozesses (173–198). Anregend und im Blick auf mögliche Anwender griffig gemacht ist der Schlussartikel über die Visitationsordnung der Evangelischen Landeskirche in Baden von Jörg Seiter und Herbert Lindner (349–373). Das meiste wird hier von oder für die Werkstatt berichtet und zum Teil recht technisch gefasst. Anderes ist grundsätzlicher formuliert. Zum Beispiel Klaus-Dieter Grunwalds Erörterung der theologischen, rechtlichen und strukturellen Aspekte der Gemeinde im Pluralismus. Die Auseinandersetzung über diese Frage ist von so zentraler Bedeutung und Grunwalds Überlegungen sind so gründlich, dass sie eher in den Theorieteil gehören. Klipp und klar wird die protestantische Ekklesiologie aufgefordert, »die Gleichung Gemeinde gleich Parochie … aufzulösen und ihr ein Modell eines erweiterten Gemeindebegriffs entgegenzusetzen, das die unterschiedlichen Gestalten und Sozialformen christlichen Lebens in ein produktives Spannungsverhältnis setzen kann« (90). Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch der Beitrag von Volker Roschke. Er berichtet über den wichtigen Versuch der Arbeitsgemeinschaft Missionarische Dienste, Erfahrungen der anglikanischen Kirche mit der Gemeindegründung in den landeskirchlichen Verhältnissen umzusetzen (128–150). Das Thema Gemeindegründung ist nicht nur relevant – es ist in der parochial verfassten Volkskirche auch brisant und verlangt nach einer eingehenderen systematisch-theologischen Diskussion.
Der Band ist für die kybernetische Diskussion zweifellos ein Gewinn. Dass die Herausgeber das Gewicht auf die Publikation von (meist gelungenen) Reformprojekten legten und auch Werkpapiere in den Band aufgenommen haben, lässt sich nachvollziehen. Die praxeologische Skizze weckt Erwartungen. Vielleicht sollte in einem Folgeband der Theoriebildung mehr Platz eingeräumt und diese noch stärker mit der theologischen Grundlagenarbeit verknüpft werden. Dem Netzwerk wird die Arbeit so schnell nicht ausgehen.