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Ausgabe:

Juni/2008

Spalte:

706–708

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Lörsch, Martin

Titel/Untertitel:

Kirchen-Bildung. Eine praktisch-theologische Studie zur kirchlichen Organisationsentwicklung.

Verlag:

Würzburg: Echter 2005. 443 S. m. Abb. gr.8° = Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge, 61. Kart. EUR 35,00. ISBN 3-429-02743-8.

Rezensent:

Herbert Lindner

Die Arbeit ist aus einer Dissertation an der Wiener Katholisch-Theo­logischen Fakultät aus dem Jahre 2001 hervorgegangen. Sie verbindet ein konkretes Projekt der Gemeindeentwicklung, nämlich die Bildung einer Seelsorgeregion aus fünf katholischen Gemeinden in Bad Kreuznach, mit theoretischen Überlegungen zur »Kirchenbildung«. Die Entwicklung von fünf Jahren wird reflektiert und evaluiert. Leitinteresse der Untersuchung ist die Frage, welchen Beitrag eine systemische Organisationsentwicklung für solche Prozesse der strukturellen Neugestaltung leisten kann und welches methodische Instrumentarium sich im Einzelnen als hilfreich erweist.
Im ersten Kapitel werden das Vorgehen, Grundlagen und Begriffe erläutert. Kirchenbildung wird bei L. zum Programmbegriff einer welt-offenen »Volk-Gottes-Ekklesiologie«, die sich der »Bildung« im Sinne von organisationalem Lernen verpflichtet weiß (21 f.). Er will damit die Reformimpulse des II. Vatikanischen Konzils aufgreifen und sichern und die Diskussion um die »Ekklesiogenese« (L. Boff; P. M. Zulehner) aufnehmen. Durch Maßnahmen der Organisationsentwicklung soll für die katholische Kirche in Bad Kreuznach eine Erhöhung ihrer »Selbsterneuerungsfähigkeit« erreicht werden (32). Als Rechtsfigur für die Umgestaltung dient der Canon 517 §1 CIC von 1983. Er erlaubt die Übertragung der Leitung mehrerer Gemeinden einem Team von Priestern mit einem »Moderator« genannten Verantwortlichen. Die Notwendigkeit wird betont, angesichts des vielfältigen Forschungsgegenstandes auf einen breiten Methodenkanon zurückzugreifen. Zu ihm gehören der Dreischritt »sehen-urteilen-handeln«, das Modell der »Aktionsforschung«, ein »Helix-Modell« der systemischen Organisationsentwicklung und das »Systemische Interventionsmodell«.
Im zweiten Kapitel wird die Entwicklung des Seelsorgebezirks Bad Kreuznach in seiner Stellung im Bistum Trier mit Hilfe des vorgestellten »Helix-Modells« detaillierter geschildert. Die Ziele sind verbindliche Kooperation im Sozialraum, eine kooperative Leitungsstruktur, ein Zusammenspiel von Leitbild-, Organisations- und Personalentwicklung und ein geistlicher Erneuerungsprozess (93 f.). Durch die Ordnung des Seelsorgebezirks wird die Strukturseite der Organisationsentwicklung bearbeitet. Nach einem Jahr werden die OE-Struktur erneuert (102), die Ordnung auf breitere Basis gestellt und ein Fest des Seelsorgebezirks – der »Tabortag« – eingerichtet und gefeiert. Ein Teilprojekt Kinder- und Jugendarbeit und zwei Angebote zum Thema »geistliches Wachstum« werden in Angriff genommen.
Dem wichtigen Thema der Kooperationskompetenz ist der dritte Abschnitt dieses Kapitels gewidmet. Die Kooperationskultur im Pastoralteam wird von den Beteiligten positiv eingeschätzt. Bei den Gründen wird vor allem kooperationsförderndes Verhalten der Leitung und des Leitungssystems genannt (121). Die Suche nach einem gemeinsamen pastoralen Projekt wird ausführlich – und als Doppelung zu den Seiten 103 ff. – geschildert. Das Ergebnis des Kinder- und Jugendprojekts sind im »Spiel ohne Grenzen« 30 Teilnehmende aus der Zielgruppe (126) – für einen so langen Prozess kein überwältigender Erfolg. Im dritten Abschnitt des zweiten Kapitels wird eine theoretische Anreicherung der Praxisbeispiele vorgenommen. Weitere Einsichten werden durch einen Exkurs in die OE-Literatur gewonnen. Als besonders ertragreich wird eine empirische Untersuchung von A. Hillig (132 ff.) vorgestellt, die Fusionen von Großunternehmen auswertet. Der bisherige Prozess wird nun diesen Kategorien noch einmal zugeordnet und zum Schluss des Kapitels wird der Bündnisgedanke in den Bundesschlüssen des Alten und Neuen Testaments verankert.
Im dritten Kapitel werden unter der Überschrift der »Kairologie« drei ausgewählte praktisch-theologische Entwürfe vorgestellt: die »Kirche als Wahlheimat« von A. Wollbold, die »Gemeinde in mobiler Gesellschaft« von F. P. Tebartz-van Elst und der Entwurf von M. N. Ebertz »Von der Pfarrkirche zur Kommunikationskirche« als am Lebensraum orientierte Pastoral, die die Begrenzungen der örtlichen Gemeinde entschlossen hinter sich lässt. Alle drei werden positiv-kritisch gewürdigt, ohne dass eine Entscheidung getroffen wird. Unter »Kriteriologie« wird als Nächstes ein Schritt angekündigt, die Herausforderungen der Zeit mit theologischen Kriterien zu verbinden. Die Kriterien werden aus den Hauptlinien der konziliaren Ekklesiologie und ihrer Rezeption gewonnen, also durch einen Rückbezug auf eine gesamtkirchlich-dogmatische Setzung.
Die »Communio-Eklesiologie« als zentrale innerkirchliche Orts­bestimmung muss durch die Volk-Gottes-Ekklesiologie und durch die Evangelisierung ergänzt werden (227 f.), wobei die ordnende Mitte die Volk-Gottes-Ekklesiologie ist (Schaubild, 233). Im vierten Abschnitt dieses Kapitels werden unter der Überschrift »Praxeologie« noch einmal die praktisch-theologischen Ansätze aufgenommen. Zur Begründung für die Entwicklung des Seelsorgebezirks als einer neuen Organisationsform von Kirche dient die Zielvorstellung, dass Kirche sich vorrangig an den Fragen der Menschen in ihren Lebensräumen zu orientieren habe und nicht an den vorhandenen territorialen Strukturen (248). Noch einmal werden in einer gewissen Redundanz die methodischen Schritte unter der Trias von Leitbildentwicklung, Organisations- und Personalentwick­lung in Auseinandersetzung mit der Literatur beschrieben (254 ff.).
Im vierten Kapitel wird der Prozess evaluiert und diese Evaluation gleichzeitig als Maßnahme der kirchlichen Organisationsentwicklung dargestellt. Nach einem Überblick über die Theorie der Evaluation (270–288) und einer – wiederum recht breit geratenen – Verlaufsbeschreibung (288–317) werden vier Maßnahmen vorgestellt: eine Gottesdienstbefragung, eine Befragung der beteiligten Pfarrgemeinderäte, Telefoninterviews und Interviewgruppen, die wichtige Verantwortungsträger der katholischen Kirche mit den Kooperationspartnern im Lebensraum zusammenbringen. Die Grundstimmung ist positiv, allerdings treten die Begrenzungen in der Reichweite des Prozesses in die Breite der Gemeinde deutlich zu Tage. Die Telefoninterviews überwinden die binnenkirchliche Perspektive. Nur für eine Minderheit der Befragten ist die Organisation des Seelsorgebezirks von Bedeutung (363). Umso bedauerlicher ist es, dass diese Ergebnisse in den Gremien »nicht die Aufmerksamkeit erhalten, die sie eigentlich verdient« hätten (362).
Im abschließenden fünften Kapitel wird diskutiert, ob Kirche als lernende Organisation begriffen werden kann. Nicht nur zur Verbesserung ihrer Abläufe, sondern aus theologischen Gründen ist das Lernen als eine Gestalt der Umkehr konstitutiv für die Kirche. Ein Bericht über die Visitation in Bad Kreuznach durch den Trierer Generalvikar schließt das Kapitel. Die Evaluation des Reorganisationsprozesses erlaubt eine neue und komprimierte Form der Visitation, da die Fragestellungen vorbereitet und die entsprechenden Foren eingeübt sind.
Die Verbindung von Praxis und theoretischen Reflexionen verspricht einen Erkenntnisgewinn für beide Bereiche. L. ist zu danken, dass er diese Verbindung mit dem eigenen Erleben im Hintergrund einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich macht. So finden sich zusammengefasste Überblicke über den Stand der Diskussion zu wichtigen Fragen der kirchlichen Organisationsentwicklung, ein Einblick in die katholische Diskussion zum Thema und ein Praxisbericht eines Reorganisationsversuchs in einer Mittelstadt. Doch die Inhalte erschließen sich nur mit Mühe. Die Berichte aus Bad Kreuznach sind nicht immer klar geordnet. Weil L. aus dem Prozess durch die eigene Mitarbeit so viele Details zur Verfügung stehen, erliegt er immer wieder der Versuchung, diese relativ breit einzufügen. Nicht jeder Name und jeder Zeitplan ist außerhalb von Bad Kreuznach noch von Interesse. Zudem ist die vorgelegte Fülle der Theorie-Perspektiven mit ihren unterschiedlichen Be­grifflichkeiten eher verwirrend als bereichernd.
Die Fülle der theoretischen Ansätze bringt die Versuchung mit sich, relativ einfache Vorgänge mit großer Bedeutung zu versehen. Es beginnt mit dem Anspruch im Titel des Buches, von Ekklesiogenese oder Kirchenbildung zu berichten. Was geschildert wird, ist ein nach den Regeln der Kunst durchgeführter Restrukturierungsprozess von – zurzeit noch – geringem inhaltlichem Erneuerungswert. Ob das schon die Bedingungen einer Kirchenbildung erfüllt, mag unterschiedlich beurteilt werden.
Aber gerade weil den konkreten Bericht eine theoretische Reflexion begleitet, ist der Ansatz für eine immanente »Relecture« gegeben. Die Theorie zwingt immer wieder zu kritischen Anmerkungen. Sie selbstkritischer zu bewerten, wäre eine Möglichkeit gewesen. Dann hätten die Tatsache, dass der Anstoß für den Prozess eben doch »von oben« kam, das Fehlen einer Vision und der späte Einbezug des Lebensraums erst in der Evaluation einen anderen Stellenwert bekommen. Auch die Grenzen des bisher Erreichten im Be­wusstsein der kirchennahen und erst recht der kirchenfernen Mitglieder wären dann wohl gewichtiger aufgenommen worden. Ob die Kriteriologie zureichend nur aus Konzilstexten gespeist werden kann, mag einen konfessionellen Unterschied markieren. So steht zu hoffen, dass die theoretische Begleitreflexion für die weitere Entwicklung auch nach der beschriebenen Phase neue Impulse gibt. Auf jeden Fall trägt das Buch zur Diskussion wichtiger Fragen gegenwärtiger Organisationsentwicklung in den Kirchen der Bundesrepublik bei.