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Ausgabe:

Juni/2008

Spalte:

703–706

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. v. G. Ueding. Red.

Titel/Untertitel:

A. Hettiger, G. Kalivoda, F.-H. Robling u. Th. Zinsmaier. Bd. 6: Must – Pop.

Verlag:

Tübingen: Niemeyer 2003. VI S., 1592 Sp. m. Abb. 4°. Geb. EUR 145,00. ISBN 3-484-68106-3.

Rezensent:

Wilfried Engemann

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. v. G. Ueding. Red.: G. Kalivoda, F.-H. Robling, Th. Zinsmaier u. S. Fröhlich. Bd. 7: Pos – Rhet. Tübingen: Niemeyer 2005. VI S., 1768 Sp. m. Abb. 4°. Lw. EUR 145,00. ISBN 3-484-68107-1.


Nunmehr liegen zwei weitere Bände des Historischen Wörterbuchs der Rhetorik vor, dessen Prinzipien bereits im Zusammenhang der Besprechung der Bände 1–5 ausführlich erörtert und ge­würdigt wurden (vgl. ThLZ 127 [2002], 104–107). Band 6 und 7 bestätigen den Eindruck, den die bereits geleistete Editionsarbeit hin­terlassen hatte: Das von Gert Ueding und seinen Mitarbeitern angegangene wissenschaftliche Großprojekt ist nicht nur für Fachgelehrte der Rhetorik relevant, sondern erschließt die europäische Geistes-, Bildungs- und Kulturgeschichte anhand ihrer Schlüsselbegriffe für alle, die auf den entsprechenden Feldern arbeiten oder sich für sie interessieren. Dass ausgerechnet ein Wörterbuch der Rhe­torik dies leistet, hängt mit der engen Verflechtung und Vernetzung der rhetorischen Kategorien und Begriffe mit den Argumentationsmustern zahlreicher anderer Geisteswissenschaften in Geschichte und Gegenwart zusammen. Die Kommunikations- und die Literaturwissenschaft, die Sozial- und die Kulturwissenschaften, die Theologie, die Philosophie, die Musik- und Medienwissenschaft – sie alle profitieren gleichermaßen von diesem Standardwerk.
In den unter der Redaktion von Sandra Fröhlich (Bd. 7), Andreas Hettiger (Bd. 6), Gregor Kalivoda (Bde. 6 u. 7), Franz-Hubert Robling (Bde. 6 u. 7) und Thomas Zinsmaier (Bde. 6 u. 7) erschienenen Bänden wurde das strukturale Element der drei Artikeltypen beibehalten, das das Historische Wörterbuch vom ersten Band an bestimmt hat. Dadurch wird der substantiellen Unterscheidung von zentralen und peripheren Aspekten der Rhetorik Rechnung getragen, eine Unterscheidung, für die u. a. die Rezeption bzw. die nachweisbare Bedeutung eines Begriffs für die Entwicklung rhetorischer Konzeptionen geeignete Anhaltspunkte bietet. Diese Art der Differenzierung wirkt sich im wissenschaftspraktischen Alltag ausgesprochen positiv auf die Lesbarkeit der Artikel und die Zugänglichkeit des in nunmehr sieben Bänden gespeicherten Wissens aus.
So findet man 1. kurze Definitionsartikel über Begriffe, die eine weitgehend gleichbleibende Bedeutung aufweisen oder in engen, überschaubaren Zeiträumen auftraten (wie z. B. »Palindrom«, »Pa­ränese«, »Paranomasie«, »Pasquill«, »Proklamation«, »Promissio«). Das Wörterbuch bietet ferner 2. umfangreichere Sachartikel zu Begriffen, denen auf Grund ihrer geschichtlichen Entwicklung und systematischen Differenzierung in der Sprache der Rhetorik und der an sie angrenzenden Gebiete ein erhöhter Stellenwert zukommt (z. B. »Mythos«, »Nonverbale Kommunikation«, »Parodie«, »Parlamentsrede«, »Patristik«, »Pietismus«, »Polemik«, »Puris­mus«). Darüber hinaus findet man 3. in jedem Band regelrechte Forschungsartikel, die enzyklopädisch angelegt sind und sich zentralen Theorie- und Epochenproblemen der Rhetorik sowie Kate­gorien widmen, »welche aufgrund ihrer Bedeutung, Aktualität oder multidisziplinären Bestimmung eine herausragende Begriffsgeschichte vorweisen« (G. Ueding, Bd. 1, VII). Hierbei handelt es sich um Artikel wie »Philosophie«, »Poetik«, »Predigt«, »Redner/ Red­nerideal« und – last but noch least – »Rhetorik« selbst.
Jeder, der sich vor einem sozial- oder politikwissenschaftlichen, kommunikationswissenschaftlichen, philosophischen oder theologischen Horizont mit Fragen der Zeit auseinandersetzt, läuft Gefahr, sich in diesem Lexikon festzulesen. Denn es verknüpft auf frappierende, meist unmittelbar einleuchtende Weise Themen und Gesichtspunkte, die sonst in ganz unterschiedlichen fachspezifischen Lexika und Enzyklopädien ihren Ort haben und (scheinbar) nur einem bestimmten Forschungszweig zugehören. Die rheto­rische Perspektive, die das gesamte Ausdrucks-, Stil- und Kommunikationspotential einer Kultur in den Blick nimmt, hat – ob­schon sie sich mit konkreten soziokulturellen Phänomenen wie z.B. »dem Neuen«, dem »Pathos«, der »Photorhetorik«, dem »Plakat«, der »Parlamentsrede« oder der »Popularphilosophie« auseinandersetzt – immer komplexe Kommunikationssituationen im Blick; sie vermag daher zu zeigen, wer wem was, mit welchen Mitteln, in welcher Absicht, mit welcher Wirkung mitteilt.
Die Beiträge für den zentralen Begriff des Wörterbuchs – für die Rhetorik – ergeben auf Grund der wohlüberlegten Gesamtstruktur ein ausgesprochen kohärentes Bild und bieten zusammengenommen eine prägnante Gesamtdarstellung des gegenwärtigen Diskurses auf allen Gebieten rhetorischer Argumentation. Die schwierige Aufgabe, rhetorische Praxis und problem- bzw. theoriegeschichtliche Probleme gleichermaßen zu berücksichtigen, ohne einfach nur additiv vorzugehen, bewältigen die Herausgeber, indem sie – nach historischen und aktuellen wortgeschichtlichen Erörterungen des Begriffs »Rhetorik« und seiner Bedeutung – folgende Systematik an­wenden: I. Quellengeschichte, II. Begriffsgeschichte (beide in mehreren Unterkapiteln jeweils von der Antike bis ins 20. Jh. dargestellt), III. Systemgeschichte (Antike, Mittelalter, Frühe Neuzeit, 18. Jh.), IV. Rezeptionsgeschichte (Philosophie, Ästhetik, Poetik, Linguistik, Sozial- und Kommunikationswissenschaften) sowie V. Neuzeitliche Institutionengeschichte (Italien, Frankreich, Spanien/Portugal, La­teinamerika, Niederlande, Deutschland, Großbritannien, Skandinavien, Slawischer Sprachraum, Nordamerika).
Bevor ich auf einzelne, für die in der ThLZ verhandelten theologischen Themen besonders relevante Artikel eingehe, eine Bemerkung zum Artikelbestand insgesamt: Wie schon aus den Beispielen in der oben erläuterten Artikelklassifizierung hervorgeht, ist das Historische Wörterbuch der Rhetorik eine Art Enzyklopädie der kommunikativen Funktionen der verschiedenen Gestalten des soziokulturellen Kommunikationspotentials einer Ge­sellschaft. Die Erarbeitung eines Artikelindexes für ein solches Lexikon setzt ebenso viel Fachkompetenz wie Phantasie voraus, und dem Tübinger Germanisten, Literaturwissenschaftler und Rhetorikforscher Gert Ueding und seinen Mitarbeitern scheint beides nicht zu fehlen. Es gibt sonst kein Lexikon, das dem klassischen Begriffsrepertoire der Geisteswissenschaften die gleiche Aufmerksamkeit und wissenschaftliche Strenge zukommen ließe wie Phänomenen des »offenen Briefes«, der »Photorhetorik«, dem »Plakat« oder der »Phy­sio­gnomik«. Der zuletzt genannte, glänzend geschriebene und reich bebilderte Forschungsartikel des Ber­liner Sprachwissenschaftlers Hartwig Kalverkämpers (von ihm stammt auch der ebenso exzellent recherchierte Beitrag zur »Nonverbalen Kommunikation«) sei als Beispiel für die hohe Qualität der Artikel genannt: Die regelmäßige Einbeziehung be­grifflicher Kontexte, mentalitäts- und ideologiegeschichtlicher Er­kenntnisse, historischer Epochen, nationalgeschichtlicher Hin­ter­gründe, aktueller gesellschaftlicher Kontexte und in­ter­disziplinärer Aspekte geben dem Leser stets das sichere Gefühl, gut informiert zu werden.
Dass dieses Nachschlagewerk für Theologen unmittelbar relevant ist, ergibt sich – über das bereits Erörterte hinaus – allein schon aus der Liste folgender ausgewählter Lemmata, die sich auch in theologischen Lexika finden: Band 6: Mystik – Mythos – Narratio – Öffentlichkeit – Officium – Oppositio – Oratorie – Ordo – Pädagogik– Parabel – Paradoxe, das – Paränese – Paraphrase – Patristik – Persona – Phänomenologie – Phantasie – Philologie – Philosophie – Pietismus – Platonismus – Poetik. Band 7: Postmoderne – Predigergesellschaften – Predigt – Prolog – Propädeutik – Prophetenrede – Pro­sa– Psalm – Psychoanalyse – Psychologie – Publikum – Querelle – Quodlibet – Rechtfertigung – Redaktor – Rede – Redeangst – Redesituation – Redewendung – Redner/Rednerideal – Reformation – Res-verba-Problem – Rezeptionsästhetik – Rhetorik.
Einige Artikel seien besonders hervorgehoben: In dem von Reinhard Breymayer verfassten Artikel Pietismus kommt in einzigartiger Weise die besondere kommunikative Leistung pietistischer Theologie zur Geltung, die u. a. darin besteht, angemessene, nämlich individuelle Ausdrucksformen für die Versprachlichung des Glaubens und Denkens zu finden, dem Einsatz der Persönlichkeit des Redners gebührend Aufmerksamkeit zu schenken und das »Reden mit Herz« als ein Kriterium wirksamer Rede zu erkennen. Der Beitrag Philosophie (von mehreren Autoren verfasst) bietet in Systematik und Ausführung nicht weniger als eine – auf die sprachlichen Profile der klassischen und modernen Philosophie zugeschnittene – Monographie zu diesem Thema. Meines Wissens ist an noch keiner Stelle so deutlich herausgearbeitet worden, was allein schon durch die Sprachfindung der Philosophie der christlichen Spätantike, des Mittelalters, der Renaissance, der Reformation, der Aufklärung usw. an theologischer Argumentationskultur geschaffen wurde. Der Artikel macht überdies deutlich, in welchem Maße ein großer Teil der Hermeneutik des 18., 19. und 20. Jh.s ohne entscheidende Impulse aus der Rhetorik kaum vorzustellen bzw. als Ausdruck auch rhetorischer Entwicklungen zu begreifen ist. Josef Kopperschmidt krönt diesen Beitrag mit einer Erschließung der anthropologischen Implikationen konkreter rhetorischer Entwicklungen – ein Unterfangen, das diesen Beitrag insgesamt als Forschungsartikel klassifiziert.
Artikel wie Predigt, Psalm, Rechtfertigung können mit entsprechenden Einträgen in theologischen Wörterbüchern nicht nur mithalten. Sie rezipieren diese selbstverständlich und gehen in ihrem interdisziplinären Interesse an bestimmten Punkten noch darüber hinaus. So arbeitet Henning Schröer die Funktion des Psalters als »poetische Mitte der Bibel und Summe der Offenbarung heraus«, deren Bedeutung »in der steten Vermittlung von Liturgie und Poesie, Wort und Ton, Schrift und Tradition auf der Basis von Affekterfahrung des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung« (Bd. 7, Sp. 402) liege. Philipp Stoellger wirft in seiner Darstellung der theo­logischen und religiösen Dimension des Begriffs der Rechtfertigung u. a. die für die Ökumene wichtige Frage auf, ob eine Einigung­ über das Thema der Rechtfertigung tatsächlich (wie versucht) »in der Methode einer Addition von Differenzen oder dem Unterschreiten erreichter Präzision in einer Rhetorik der Entdifferenzierung erreicht werden kann« (Bd. 7, Sp. 693). Der umfangreiche Artikel zur Predigt (Bd. 7, Sp. 54–96) ist u. a. insofern von besonderem Interesse für den aktuellen homiletischen Diskurs, als er sich auch mit der – nur mit großem Aufwand zu erforschenden, allzu oft mit fragwürdigen Klischees charakterisierten – Predigtgeschichte auseinandersetzt. Einige der Stereotypen werden in dem sorgfältig recherchierten Artikel von Udo Sträter (vor allem die Aufklärung betreffend) richtiggestellt. Es ist freilich zu bedauern, dass auf eine genauere Wahrnehmung der neueren, rhetorisch höchst aufschlussreichen Predigtgeschichte der letzten 50 Jahre weitgehend verzichtet wird.
Somit lässt sich auch für die beiden neu vorgelegten Bände des Historischen Wörterbuchs der Rhetorik resümieren, dass sie höchs­ten wissenschaftlichen Ansprüchen genügen. Dem Münsteraner Kirchenhistoriker Albrecht Beutel, der für die Vergabe und das Redigieren der theologischen Beiträge verantwortlich zeichnet, gebührt besonderer Dank.