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Ausgabe:

März/1997

Spalte:

268 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Junghans, Helmar

Titel/Untertitel:

Martin Luther und Wittenberg.

Verlag:

München-Berlin: Köhler & Amelang 1996. 222 S. gr.8°. Pp. DM 39,80. ISBN 3-7338-0206-3.

Rezensent:

Martin Brecht

Die Luther- und die Reformationsforschung sowie wissenschaftlich interessierte Besucher bedürfen einer historischen Stadtbeschreibung der Stadt Wittenberg, um sich gegebenenfalls auf dem Boden der Tatsachen zurechtfinden und diese verorten zu können. Einer der ausgewiesenen Kenner von Wittenberg als Lutherstadt ist fraglos der Leipziger Kirchenhistoriker Helmar Junghans, der für das von ihm herausgegebene monumentale Sammelwerk "Leben und Werk Martin Luthers von 1526 bis 1546" den eröffnenden, materialreichen Aufsatz "Luther in Wittenberg" beigesteuert hatte (2 Bde., Berlin 1983, 11-37 und 723-732). Bereits 1979 hatte er eben unter dem Titel "Wittenberg als Lutherstadt" ein Buch herausgebracht (Berlin; Lizenzausgabe Göttingen, Neuauflage 1982; vgl. die Rezension von Hans Georg Thümmel, ThLZ 106, 1981, 426 f.). Diese Veröffentlichung wurde jetzt in überarbeiteter und erweiterter Gestalt zum 450. Todestag Luthers neu vorgelegt. Dabei sind die Abbildungen aktualisiert und um farbige Aufnahmen ergänzt worden, dazu ist ihre möglichst nahe Zuordnung zum dazugehörigen Text erfolgt. Diese Neufassung war schon deshalb fällig, weil sich der Autor nunmehr frei und ohne Auflagen artikulieren kann. Die Änderung des Titels wird im Vorwort damit begründet, daß über Luthers Beziehung zur Stadt hinaus über sein Leben, Denken, Glauben und Wirken sowie über sein innerhalb der Lutherrezeption exemplarisches Nachwirken in Wittenberg informiert wird.

Die Darstellung macht zunächst modellhaft klar, wie stark die Reformation durch das Mittelalter vorbedingt ist. Mit der Entwicklung Wittenbergs zur kurfürstlichen Residenz kommt es zu den Gründungen des Franziskanerklosters und des Allerheiligenstifts, später noch der Augustinereremiten. Die Residenz läßt eine bürgerliche Siedlung entstehen, deren kirchliches Zentrum die Stadtkirche wird. Anfang des 16. Jh.s erfolgt dann mit dem Ausbau des Schlosses samt der Schloßkirche sowie der Gründung der Universität der Aufschwung zu einem kursächsischen Zentrum, attraktiv auch für eine Gestalt wie den Maler Lukas Cranach.

In diese Stadt führt Luthers Weg, der seit 1514 auch der Prediger an der Stadtkirche ist. Im Zusammenhang mit Luthers reformatorischer Entdeckung wird das Problem, wo sich das Turmerlebnis ereignet hat, sehr sachlich und plausibel erörtert. Die Faktizität des Thesenanschlags wird prinzipiell positiv behandelt; danach wird der Fall Luther zunächst bis zur Verbrennung der Bannandrohungsbulle vor dem Elstertor verfolgt. Die Reform und der Erfolg der Universität waren auch städtische Ereignisse. So wurde das Buchgewerbe zum Wirtschaftsfaktor. Gut gesehen ist, daß die wirtschaftlichen Veränderungen eine neue, von den Betroffenen freilich nicht immer akzeptierte Wirtschaftsethik Luthers erforderlich machten. Die Umsetzung des reformatorischen Programms in der Wittenberger Bewegung 1521/1522 wird als wichtige Phase der Stadtreformation vorgeführt, anschließend wird auf Luthers Ordnung von Schule und Kirche eingegangen. Zur Umgestaltung gehört auch die von Luthers Kloster und des Melanchthonhauses; dazu kommt die neue künstlerische Ausgestaltung Wittenbergs durch Lukas Cranach.

Man kann sagen, Luther ist Wittenberg zum Schicksal geworden. Zu seinem Erbe mußte die Stadt sich verhalten und damit umgehen, wie kundig dokumentiert wird. Nach der Aufhebung der Universität 1816 wird dies zu einer Pflege der reformatorischen Erinnerungen. So läßt sich anhand von Gedächtnisfeiern, Gründungsversammlungen, Gedenkstätten, Denkmälern, Namensverleihungen und schließlich endend in der Lutherhalle eine eindrückliche und vielfach am vorhandenen Bestand verifizierbare Rezeptionsgeschichte vorführen, die immer wieder und nicht selten bedrängend in die Zeitgeschichte mündet. Für die Forschung dürften somit die beiden abschließenden, wirkungsgeschichtlichen Kapitel am meisten Neues bieten. An Wittenberg zeigt sich, daß die Geschichte der Stadtreformation u.U. keineswegs im 16. Jh. zu Ende war.