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Ausgabe:

Juni/2008

Spalte:

701–703

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Günther, Ralf

Titel/Untertitel:

Seelsorge auf der Schwelle. Eine linguistische Analyse von Seelsorgegesprächen im Gefängnis.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005. 357 S. gr.8° u. CD-Rom = Arbeiten zur Pastoraltheologie, 45. Kart. EUR 54,00. ISBN 3-525-62382-8.

Rezensent:

Barbara Städtler-Mach

In seiner Dissertation – 2002 in Leipzig angenommen – reflektiert Ralf Günther verschiedene Seelsorgegespräche aus seiner Arbeit mit Häftlingen im Gefängnis. G. ist Pfarrer der Kirchenprovinz Sachsen und liefert mit diesem Werk einen Beitrag zur Theorie der Seelsorge im Gefängnis. Das Ziel der Dissertation ist kein geringeres als »eine Erweiterung ihrer (i. e. der Seelsorgetheorie) Interdisziplinarität über den Bezug zu Philosophie, Psychologie und Soziologie hinaus« (14). Anhand der Analyse von Gesprächen im Gefängnis nach linguistischen Theorien und entsprechender Methodik soll die Bedeutung von Sprache im Gefängnis und darüber hinaus allgemein für das Seelsorgeverständnis fruchtbar gemacht werden. Die Besonderheit des Gefängnisses als Institution würdigt G. bereits im Titel: »Seelsorge auf der Schwelle« charakterisiert grundsätzlich den Ort des Geschehens, der hinsichtlich der Bedeutung der Sprache, um die es hier schwerpunktmäßig geht, ohnehin eine eigene Gesetzlichkeit und Dynamik beinhaltet.
Um es gleich vorweg zu sagen: Der im Einleitungskapitel ge­nannte angestrebte »Gewinn« der »Lektüre für Menschen in der seelsorgerlichen, sozialarbeiterischen und supervisorischen Praxis« (13) ist hart zu erarbeiten. In der mir zugänglichen wissenschaftlichen Seelsorgeliteratur der letzten Jahre habe ich kaum ein Buch so schwer gelesen und – so scheint es mir – verstanden. Ohne ein auch nur grundsätzliches Interesse, sich als Theologin – in der Regel kommen Seelsorger und Seelsorgerinnen aus dieser Disziplin – in ein völlig anderes Wissenschaftsgebiet einzuarbeiten, wird man das Buch schnell aus der Hand legen.
Worum geht es? G. hat aus der Fülle der Gespräche, die er mit Inhaftierten geführt hat, eine Reihe herausgegriffen. Die Gespräche sind mit Tonband aufgenommen und anschließend nach linguistischer Methode transkribiert. Anhand der Transkriptionen, für die eine dem Buch beigefügte CD anzusehen ist, können diese Gespräche nach linguistischen Begrifflichkeiten analysiert werden. Diese Transkriptionen zu »lesen« bedeutet, sich mit der Schreibweise von Linguistik sehr vertraut zu machen. Heben und Senken der Stimme, Betonung der Worte, Pausen und nonverbale Äußerungen fließen in den »Text« mit ein. Für Anfänger in linguistischen Transkriptionen, zu denen die meisten Seelsorgerinnen und Seelsorger zu rechnen sein werden, bedeutet diese Lektüre eine große Anstrengung.
Dazu bietet G. zunächst ein Kapitel zu »Theorie und Methodik der linguistischen Gesprächsforschung« (15–37). Eine der Grundeinsichten der Linguistik ist dabei die, dass es bei Sprache nicht einfach um »Wortbedeutungen« geht, »sondern dass mit diesen Worten auch eine Handlung vollzogen wird« (15). Analog dazu wird Verstehen – eine der Grunddimensionen seelsorgerlicher Ge­sprächs­führung überhaupt – nicht einfach nur als einseitige Bewegung innerhalb der Kommunikation beschrieben. Hier grenzt sich G. deutlich vom klassischen Sender-Empfänger-Modell ab. Vielmehr geht es auch um »interaktive Konstruktion« zwischen Sprecher und Hörer (19).
G. formuliert ausgehend von diesen allgemeinen Grundlagen neun »Leitfragen«, die er sich für die Analyse der aufgezeichneten Gespräche stellt. Im Wesentlichen hat er dabei zwei Schwerpunkte der Reflexion im Blick: das Erfassen der Differenz der Sprache zwischen Gefangenem und Seelsorger als Angehörige unterschiedlicher sozialer und institutioneller Welten sowie die Besonderheiten seelsorgerlicher Gespräche im Hinblick auf ihre Inhalte wie Trost und Sinn.
Die linguistische Gesprächsanalyse der Seelsorgegespräche (38–249) stellt den großen Hauptteil dieser Veröffentlichung dar. Sie erfolgt nach Kriterien, die auch der bislang geübten Reflexion von Seelsorgegesprächen zu Grunde lagen, wenn sie auch hier mit an­deren Mitteln betrachtet werden: Gesprächsanfang und -ende, Interaktion im Gespräch, Rhetorik, Metapher und Schlüsselwörter, die Beziehung der Sprechenden zueinander sowie die Bedeutung der Institution, in der die Seelsorge stattfindet. Die Interpretation der Gespräche anhand dieser Perspektiven ist durchaus erhellend und macht deutlich, dass allein am sprachlichen Geschehen viel von dem erfasst werden kann, was Seelsorge darstellt.
Der Vergleich mit Seelsorgegesprächen in anderen Kontexten – Telefonseelsorge, Geburtstagsbesuche, Krankenhausseelsorge – pro­filiert die Seelsorge im Gefängnis als eine, die in einer »totalen Institution« (Goffman) stattfindet (200 ff.). An dieser Stelle wird erneut deutlich, dass die soziale Realität das Gespräch in der Seelsorge maßgeblich mitgestaltet.
In einem dritten Abschnitt (250–328) stellt G. die Bedeutung der linguistischen Analyse für die Seelsorge im Allgemeinen dar. Dabei greift er die Einwände auf, die sich bei dem Leser und der Leserin bis dahin sehr wahrscheinlich schon eingestellt haben: Wird das, was Seelsorge ist und sein kann, durch das bloße Wiedergeben von Gesprächen wirklich erfasst? Er analysiert selbst: »Alles, was nicht auf ein Tonband passt und das, was in der Transkription der Übersicht und des Forschungsziels halber wegfallen muss, kann in die Analyse nicht einbezogen werden. Damit bleibt die linguistische Gesprächsanalyse auf die Sprache … beschränkt.« (251) Was hier kritisch formuliert wird, entwickelt G. jedoch insgesamt zu einer Korrektur am bisher üblichen Seelsorgegespräch und an der damit verbundenen Einschätzung dessen, was dieses Gespräch leisten kann. Gerade die Begrenzung auf das Sprachgeschehen, die die Linguistik vornimmt, bringt eine Konzentration auf die Interaktion der Sprechenden mit sich. Darin wird eine Gleichrangigkeit der Beteiligten deutlich, die dem bislang geübten Seelsorgegespräch – so G. – fehlt.
So trifft eine wesentliche Kritik G.s die herkömmlich geübte Seelsorge sowie die Aus- und Fortbildungen hierzu: »Eine standardisierte, methodisch abgesicherte Seelsorgepraxis droht sich zu entwickeln, der gegenüber die kommunikative Alltagspraxis als dilettantisch und improvisiert erscheint.« (300 f.) Konsequenterweise liefert G. im Anschluss an sein Postulat einer linguistisch ausgerichteten Seelsorgeausbildung einen Leitfaden für die Ge­sprächsanalyse mit.
In einem letzten Abschnitt reflektiert G. nochmals die Be­son­derheit der Seelsorge im Gefängnis unter ethischen, alltagswirklichen und gesellschaftlichen Perspektiven.
Zweifellos stellt diese Forschungsleistung einen neuen Beitrag und damit eine Weiterführung bisheriger Seelsorgetheorie dar. Die Genauigkeit und der Fleiß, mit denen sich G. der Methode der linguistischen Gesprächsanalyse verpflichtet hat, nötigen dem Lesenden Respekt und Anerkennung ab. Allein schon die Beschäftigung mit der Sprache und vor allem der Differenz der Sprechenden – keineswegs nur im Gefängnis – ist lohnend. Sehr hilfreich an dieser Veröffentlichung sind der in seiner Einheitlichkeit sehr überschaubare Apparat der Anmerkungen sowie das äußerst umfangreiche Literaturverzeichnis.