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Ausgabe:

Juni/2008

Spalte:

697–699

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Sill, Bernhard [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Gewissen. Gedanken, die zu denken geben.

Verlag:

Paderborn: Bonifatius 2006. 514 S. gr.8° = Quellenbände zur Christlichen Ethik, 1. Geb. EUR 34,90. ISBN 978-3-89710-348-1.

Rezensent:

Hartmut Rosenau

Wenn Ethik die Theorie menschlich guter Lebensführung hinsichtlich ihrer Motive, Ziele, Inhalte und Folgen ist, dann gehören zu einer solchen Theorie nicht nur die mehr oder weniger abstrakten Rahmenmodelle wie z. B. Deontologismus, Utilitarismus, He­donismus etc., sondern auch und vielleicht sogar vordringlich Re­flexionen über elementare Phänomene und Grundbegriffe wie z. B. Verantwortung, Freiheit, Glück, das Gute oder eben auch »Ge­wissen«. Zum letztgenannten Stichwort hat der Eichstätter Moraltheologe Bernhard Sill nun einen umfangreichen Sammelband einschlägiger Quellentexte aus Geschichte und Gegenwart herausgegeben und diese jeweils mit einer einleitenden Hinführung zum historischen, systematischen und oft auch biographischen Kontext versehen. Eine weit über die Quellennachweise hinausgehende, umfassende Bibliographie rundet dieses Studienbuch ab, das insbesondere für den interdisziplinären Ethik-Unterricht in der gymnasialen Oberstufe oder in universitären Seminaren konzipiert ist.
Die ausgewählten, in ihrer Qualität jedoch sehr unterschiedlichen Quellentexte, die hier meist in repräsentativen Auszügen und, sofern es sich um ursprünglich fremdsprachliche Texte handelt, in deutscher Übersetzung vorliegen, werden entsprechend der kurzen problemorientierten Einleitung S.s (15–26) in sechs Rubriken bzw. Kapiteln geordnet. Hier kommen bekannte und weniger bekannte »Stimmen aus Dichtung und Literatur«, »Psychologische Stimmen«, »Politische Stimmen«, »Philosophische Stimmen«, »Lehramtliche Stimmen« und »Theologische Stimmen« zu Worte, wobei die Reihung wohl keine Wertung impliziert. Es bleibt aber unklar, nach welchen Kriterien diese »Stimmen« ausgewählt und zusammengestellt worden sind; vieles wirkt zufällig, beliebig und darum auch redundant, manchmal eher verwirrend als hilfreich, wenn es darum gehen soll, das sicherlich komplexe Phänomen »Gewissen« einschließlich seiner grundsätzlichen Infragestellung etwa durch Nietzsche (244) zu profilieren. Natürlich wird es nicht »die« Wahrheit über das Gewissen geben können, zumal ein (ethisches) Grundphänomen per definitionem nicht seinerseits wieder begründend definiert werden kann. Und so mag man sich angesichts der klaren Rubrizierung fragen, ob denn das Gewissen überhaupt Gegenstand einer Wissenschaft sein kann oder ob es nicht vielmehr in die Predigt und Seelsorge, vielleicht noch in die Dichtung gehört. Die von S. im ersten Kapitel aufgenommenen poetischen Aphorismen, die oft mehr »zu denken geben« als lange schulmeisterliche Lehrtexte in späteren Kapiteln, scheinen das zu bestätigen.
Von daher hat das Gewissen durchaus im Sinne Kants den Cha­rakter des Unbedingten, wenn auch nicht gleich in ontologischer, so doch aber mindestens in einer existenziellen Bedeutung des Wortes (E. Biser spricht treffend von »Existenzgewissen«, 374). Insofern kann man das Gewissen nicht erklären, sondern man kann an es nur appellieren. Dennoch sollte man einen gewissen philosophisch-theo-logischen Problemstand zur Klärung des Gewissens nicht unterschreiten, wie es leider manche »politische Stimmen« in diesem Studienbuch tun, obwohl ja nach gängiger Meinung gerade die Politik der Sitz im Leben des öffentlichen Diskurses über das Gewissen sein soll. Auch die für einen katholischen Theologen wie S. natürlich maßgeblichen, aber in der Sache nicht immer weiterführenden lehramtlichen Äußerungen – im Unterschied (!?) zu »theo­logischen Stim­men« – könnten durchaus gekürzt werden.
Stattdessen hätten markantere Stimmen aus der Theologie- und Philosophiegeschichte aufgenommen werden können. Der protes­tantisch geprägte Rezensent denkt natürlich in erster Linie an Paulus und Luther, die das Gewissen nicht unbedingt mit der Stimme Gottes identifizieren, sondern durchaus um der Unterscheidung zwischen Mensch und Gott vor dem Hintergrund der Rechtfertigungserfahrung willen hier differenzieren: Der innere Richter über das Tun und Lassen bin letztlich und zum Glück nicht ich selbst oder ein anderer Mensch im jeweiligen Gewissen, sondern Gott »extra nos«. Aber auch das sokratische daimonion im Sinne einer negativen Ethik oder das stoische Verständnis von einer universalen syneidesis bzw. conscientia könnten bei der Profilierung des Gewissens wichtige Beiträge leisten. Für das 20. Jh. wäre sicherlich auch ein Blick auf die Ethik A. Schweitzers lohnenswert, der das gute Gewissen für eine Erfindung des Teufels gehalten hat. Und hat nicht D. Bonhoeffer das einfältige ethische Tun in der Nachfolge Christi von einer skrupulösen Gewissensprüfung des auf sich selbst fixierten »Pharisäers« abgehoben?
Gerade auch Kierkegaards am Beispiel Abrahams entwickelte Formel von der »teleologischen Suspension des Ethischen« in der Auseinandersetzung mit Kants Ethizismus und Hegels Theorie vom objektiven Geist der Sittlichkeit zeigt ja, dass das Gewissen als Motiv unseres Handelns nicht das Höchste, Letzte oder Grundlegende sein kann, sondern einem noch höheren telos zugeordnet ist, nämlich dem Willen Gottes, von dem her es sogar aufgehoben oder relativiert werden kann. So wird sowohl einem inflationären Ge­brauch des Gewissens im Sinne einer sich in ihrer Autonomie aufspreizenden Subjektivität als auch dem Pochen auf vermeintlich objektive Instanzen der Gewissensbildung in Familie, Gesellschaft und Staat (und Kirche) kritisch entgegengesteuert und eine Überhöhung des Gewissens als Grund menschlicher Identität und Integrität (23) vermieden. Vielmehr bleiben Gewissenskonflikte im Spannungsfeld zwischen Macht und Verantwortung, Überzeugung und Selbsttäuschung, Hybris und Verzweiflung, Gesetz und Evangelium offen, und Gewissensbildung ist ein nicht abzuschließender Prozess, der nicht immer zu Gott, sondern auch von ihm wegführen kann.
Diese und ähnliche Stimmen kommen im Studienbuch leider nicht als eigenständige Zugangsweisen zur Gewissensproblematik vor, obgleich manche von ihnen wenigstens indirekt – über andere Quellentexte vermittelt – präsent sind. Auch die Stimmen zum Gewissen aus den nichtchristlichen Religionen sind in diesem Buch leider nicht zu hören. Hier wäre es ja interessant zu erfahren, ob und ggf. wie denn Christen und Nicht-Christen im gewissenhaften Suchen nach der Wahrheit verbunden sind, wie es in »Gaudium et spes« (13) heißt, allerdings ohne bei der Suche immer schon zu wissen, wo die Wahrheit und die Lösung moralischer Probleme zu finden ist. Gerade angesichts der Historismusproblematik und der gegenwärtigen Herausforderung einer Theologie der Religionen könnte ja eine ethische Reflexion auf das strittige Phänomen des Gewissens dieses z. B. als authentisches ­ und Kriterium einer sa­pientialen Theologie entfaltet werden. S.s Studienbuch verzichtet allerdings bei seinem Anliegen einer bloßen – teils anregenden, teils überfrachteten – Präsentation und Kommentierung von »Stimmen« auf eine systematisch organisierende Grundidee, welchen Stellenwert das Gewissen in ethicis (und dogmaticis) denn haben kann oder soll.
Aber insgesamt kann dieses Studienbuch guten Gewissens der Lektüre und dem schulischen wie universitären Gebrauch empfohlen werden (auch wenn es hier wie auch sonst ein »irrendes Gewissen« geben mag).