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Ausgabe:

Juni/2008

Spalte:

692–695

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Maio, Giovanni [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Der Status des extrakorporalen Em­bryos. Perspektiven eines interdisziplinären Zugangs.

Verlag:

Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2007. 745 S. m. Tab. 8° = Medizin und Philosophie. Beiträge aus der Forschung, 9. Geb. EUR 98,00. ISBN 978-3-7728-2425-8.

Rezensent:

Hartmut Kreß

Gegenwärtig besteht Uneinigkeit über die moralische Wertigkeit bzw. über den Status und Schutzanspruch von Embryonen, die durch künstliche Befruchtung (In-vitro-Fertilisation) erzeugt werden. In der Öffentlichkeit ist es – nochmals verschärft durch Voten, die von christlichen Kirchen stammen – zum Gegenstand von teilweise geradezu kulturkampfähnlichen Kontroversen geworden, inwieweit künstliche Befruchtung bis hin zur morphologischen Beobachtung von Embryonen oder zur medizinisch indizierten Präimplantationsdiagnostik, Forschung an Embryonen oder an embryonalen pluripotenten Stammzellen zulässig seien. Ein wissenschaftlicher interdisziplinärer Zugang kann und soll der sachlichen Klärung zugute kommen. Das von dem Freiburger Medizinhistoriker und -ethiker G. Maio edierte Buch dokumentiert ein von ihm initiiertes, durch das Bundesforschungsministerium gefördertes Projekt. Dieses bündelt Perspektiven der Medizin, Biologie, Psychologie und Soziologie, der philosophischen und medizinischen Ethik, der Rechtswissenschaften und der katholischen Mo­raltheologie. Die Institute, die an dem Projekt beteiligt waren, sind durchweg in der Universität Freiburg i. Br. angesiedelt. Darüber hinaus waren die Max-Planck-Institute für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg sowie für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg einbezogen. Die Beiträge, die diesen beiden Forschungseinrichtungen zu verdanken sind, gehören zu den besonders sachdienlichen und weiterführenden Teilen des Buches. Geschmälert wird die – ansonsten sehr eindrucksvolle – Interdisziplinarität des Gesamtprojekts durch das Fehlen von Projektträgern, die kultur-, religions- und politikwissenschaftliche Fächer sowie die evangelische Ethik repräsentiert hätten. Den Fokus des Forschungsprojektes bildet das Problem der gedanklichen Bewertung des extrakorporalen Embryos im heutigen Pluralismus. Die Buchdokumentation will Grundlagen dafür bereitstellen, wie sich der Embryonenstatus in Anbetracht des offenkundigen kulturellen Dissenses angemessen debattieren lasse (so einleitend G. Maio/A. Hilt, 12). Insofern hätte es die Überzeugungskraft des Buches gesteigert, wenn ergänzend Beiträge aus kultur-, konfessions- und religionsvergleichender oder politikwissenschaftlicher Perspektive aufgenommen worden wären.
In gewissem Umfang bringt immerhin der rechtswissenschaftliche Projektteil kulturvergleichende Aspekte ein. Ein inhaltsreicher Länderbericht informiert über ausländische Rechtsregelungen zur Fortpflanzungsmedizin, embryonalen Stammzellforschung und Embryonenforschung (Carola Seith, 463–527). Die gedanklichen Voraussetzungen, auf Grund derer etwa in China, Japan oder Israel zum Embryonenstatus und zum Zugriff auf Embryonen argumentiert wird (484.496 f.), unterscheiden sich erheblich von denjenigen in Europa und Deutschland. Angekündigt wird (464) eine Langfassung des Länderberichts, die von A. Eser, H.-G. Koch und C. Seith ediert werden wird. Diese Ankündigung weckt hohe Erwartungen. Man stutzt lediglich darüber, dass als ein Gegenstand des An­schluss­bandes neben zahlreichen europäischen und außereuropäischen Staaten (Belgien, Dänemark, Frankreich, Polen, China usw.) der »Islam« genannt wird. Wäre es nicht sachlich angemessener, auf die Rechtsordnung und die nationalen Be­sonderheiten in den einzelnen Staaten der arabisch-islamisch ge­prägten Welt als solche einzugehen, anstatt an einer einzelnen Stelle die Ebene der Be­griffsbildung zu wechseln, religiös enggeführt den »Islam« zu nennen und die betreffenden Staaten auf diese Weise nur von der Religion her zu deuten?
Insgesamt konzentrierte sich das Forschungsprojekt, das 2006 abgeschlossen wurde, auf die Situation in Deutschland. Die Gliederungsstruktur dieses Berichtsbands ist freilich nicht immer stringent; manches bleibt unübersichtlich; Redundanzen und Verdoppelungen wären vermeidbar gewesen. Den Abschluss des Buches bildet – vielleicht als Ausgleich für die Nichtbeteiligung der evangelischen Ethik bei den Projektträgern – ein Vortrag des evangelischen Theologen Klaus Tanner, der angesichts des biopolitischen Dissenses für Entmoralisierungen und für revisionsoffene rechtspolitische Regelungen plädiert (703–719). Soweit die katholischen Beiträger die Sicht evangelischer Ethik referieren, achten sie ihrerseits auf scharfe Abgrenzung. Den neun Fachvertretern evangelischer Ethik, die im Januar 2002 in der FAZ einen Aufruf publizierten, der rechtspolitisch zur normierten Duldung humaner embryonaler Stammzellforschung aufrief, wird unter anderem vor­gehalten, sie seien »grundlos von der gemeinsamen Linie« der EKD und der katholischen deutschen Bischofskonferenz abgewichen und hätten »vorauseilenden Staatsgehorsam« praktiziert (so Franz-Josef Bormann, 683). Die liberaleren protestantischen Denkmodelle werden ferner als Situationsethik charakterisiert (Elisabeth von Lochner, 170). Dies lässt außer Acht, dass die evangelischen Autoren, an die hier zu denken ist, ihre Rechtfertigung der humanen embryonalen Stammzellforschung auf ganz unterschiedlich gelagerte Argumentationen stützen.
Zur Auffassung des katholischen Lehramtes und zu den hierauf basierenden Urteilsfindungen der katholischen Morallehre über das Sein und den Status des Embryos bietet das Buch breit angelegte Darstellungen. Sie liegen auf der Linie der einschlägigen rö­misch-katholischen Instruktio »Donum vitae« vom 10. März 1987, die den Embryo vom ersten Tag an für schlechthin unantastbar erklärt. Es fällt freilich ganz aus dem Rahmen des Üblichen und ist schon allein sprachlich unangemessen, eine Abwägung zwischen dem Lebensschutz des frühen Embryos und der Wissenschaftsfreiheit als »völlig monströs« zu bezeichnen (so F.-J. Bor­mann, 691, Anm. 83). Dies gilt umso mehr, als derartige Abwägungen von zahlreichen Ethikern, Medizinern und Rechtswissenschaftlern sowie – wie der Band selbst dokumentiert – in ausländischen Rechtsordnungen und sogar vom deutschen Gesetzgeber (Stammzellgesetz vom 28. Juni 2002 § 1) für legitim, ja geboten erachtet werden. Von der katholischen Morallehre wird dann vorgeschlagen, den Gedanken der ansteigenden Schutzwürdigkeit vorgeburtlichen Lebens aufzuspalten und ihn partiell zu übernehmen, indem er im Blick auf den pränidativen Lebensschutz verneint wird – woraus die so­eben zitierte Formulierung resultiert, die jedes Antasten des frühen extrakorporalen, noch ganz unentwickelten Embryos äußerst scharf abweist –, wohingegen er für moralische Hilfspflichten aufge­griffen wird (sog. »differenzierte Identitätsthese«, vgl. 691 f.). Durchdenkt man diese Position, tritt zu Tage, wie inkonsistent sie ist.
Davon abgesehen beinhaltet der Band interessante Überlegungen und Impulse. Denkanstöße des Biologen Alexander Craig weisen über die festgefahrenen rechtspolitischen Regelungen in der Bundesrepublik Deutschland hinaus (»Anliegen medizinischer Gruppierungen und biomedizinischer Forscher in Deutschland«, 531–549). Dem gesamten Buch ist ein begriffliches Raster vorgegeben worden, an dem sich die einzelnen Teilprojekte abarbeiten sollen. Der Status des extrakorporalen Embryos sei an fünf Kriterien zu bemessen: Potentialität, Kontinuität, Artspezifizität, Extrakorporalität und Entstehungsart (vgl. G. Maio/A. Hilt, 21–30). Zwar kann man fragen, warum z. B. nicht die Individualität/Individuation als eigenes Kriterium gilt. Dennoch: Auf dieser Basis geraten relevante aktuelle Einzelprobleme in den Blick, darunter die Be­wertung künstlich depotenzierter embryonaler Entitäten oder des therapeutischen Klonens. Wegweisend ist es, dass einzelne Argumentationsansätze über die intrinsischen Denkmodelle hinausführen, die das Sein des Embryos nur »in sich« betrachten, in­dem sie stattdessen die Handlungsintentionen oder auch die Handlungsumstände erörtern, die beim Zugriff auf ihn eine Rolle spielen. Ein solcher Zugang vermag, die Aporien und die Statik einer isoliert am Würdebegriff ausgerichteten »Status des Embryos«-Reflexion zu überwinden und neue Möglichkeiten der Argumentation zu eröffnen. Im Umgang mit extrakorporalen Embryonen sind demzufolge die Legitimität der Ziele, die Zulässigkeit der Mittel und die Verantwortbarkeit der Folgen zu durchdenken (so der Philosoph Jan Beckmann, 298, im Rahmen seines begrifflich-analytisch überaus konstruktiven Artikels). Auch ausländische Rechtsordnungen vermeiden es, den Schutzanspruch des Embryos einseitig nur aus dem Würdebegriff zu deduzieren (vgl. C. Seith, 505 ff.). Sie bemühen sich vielmehr um operationalisierbare Regelungen, die potentiellem Missbrauch im Umgang mit frühen Formen des Lebens wehren sollen (hierzu auch T. Hartleb, 646 ff., unter Rückgriff speziell auf die Schweiz). Dieser Ansatz ist m. E. auch für die inländische Rechtsordnung sehr bedenkenswert.
Die empirischen, auf Befragung und Interviews gestützten Teile des Projekts zeigen, dass die Akzeptanz von Fortpflanzungsmedizin und embryonaler Forschung dann ansteigt, wenn bei den Befragten persönliche Betroffenheit oder genauere Sachkenntnis vorhanden sind (vgl. 409). Hierdurch wird die bekannte Einsicht bestätigt, dass die forschungs- und fortschrittskritische Haltung, die in der Bundesrepublik Deutschland in Medien, Politik und in kirchlichen Voten häufig dominiert, mit der in der Bevölkerung anzutreffenden Meinung nicht in Einklang steht.