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Ausgabe:

Juni/2008

Spalte:

690–692

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Hübenthal, Christoph

Titel/Untertitel:

Grundlegung der christlichen Sozialethik. Versuch eines freiheitsanalytisch-handlungsreflexiven Ansatzes.

Verlag:

Münster: Aschendorff 2006. 402 S. gr.8° = Forum Sozialethik, 3. Kart. EUR 49,00. ISBN 3-402-00572-7.

Rezensent:

Stefan Grotefeld

Spätestens seit dem Erscheinen des von ihm gemeinsam mit M. Düwell und M. H. Werner herausgegebenen Handbuchs Ethik im Jahr 2002 (22006) sowie des 2006 zusammen mit J.-P. Wils herausgegebenen Lexikons der Ethik dürfte Ch. Hübenthals Name den meis­ten Ethikerinnen und Ethikern hierzulande geläufig sein. Ebenfalls 2006 ist unter dem ambitiösen Titel Grundlegung der christlichen Sozialethik die hier anzuzeigende Monographie aus der Feder H.s erschienen, mit der dieser sich an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Tübingen habilitiert hat.
Den Ausgangspunkt der Untersuchung bildet H.s Diagnose, dass die katholische Ethik an einem begründungstheoretischen Defizit leidet. Zwar habe der Aufbruch nach dem Zweiten Vatikanum dazu geführt, dass an die Stelle der bis dahin vorherrschenden Apologetik der kirchlichen Soziallehre eine an wissenschaftlichen Standards orientierte und die sozialphilosophische Diskussion rezipierende Sozialethik getreten sei, doch sei es bislang nicht gelungen, jene Lücke, die die Destruktion der traditionellen Naturrechtsmetaphysik hinterlassen habe, befriedigend zu schließen. Ebendiesem Desiderat möchte H. mit seiner Studie begegnen. Sein Interesse gilt also weniger den materialen Fragen der Sozialethik, sondern primär den Fundierungsproblemen, wobei er – der Untertitel zeigt es an – freiheitsanalytische und handlungsreflexive Über­legungen mit­einander verknüpfen will. Gegliedert ist die Ar­beit in zwei Hauptteile: Während der erste, sowohl vom Umfang als auch vom Inhalt her gewichtigere Teil den Ort einer im theologischen Kontext entwi­ckelten Sozialethik zu bestimmen sucht, soll der zweite deren Grundzüge beschreiben.
Wolle man den Ort einer im Kontext der Theologie situierten Sozialethik bestimmen, müsse man, so H., zunächst eine begründete Vorstellung von den Aufgaben theologischer Ethik entwi­ckeln. Dies sei freilich nur möglich, wenn man sich zuvor Rechenschaft über das Verhältnis von Moral und Glaube abgelegt habe, was wiederum eine Klärung des Verhältnisses von Moral und Religion voraussetze. Folgerichtig steht daher die Bestimmung des Verhältnisses von Moral und Religion am Beginn der Untersuchung, wobei H. sich an dem Modell Kants orientiert. Wegweisend ist dieses Modell seiner Ansicht nach insofern, als Kant die Frage nach Gott aus dem Bereich der theoretischen in jenen der praktischen Vernunft überführt und zudem die Eigenständigkeit der Moral gegenüber der Religion und ihre Verwiesenheit auf sie begründet habe. Indem Kant nämlich einerseits die Grundlage der als Pflicht zur Autonomie verstandenen Moral in der Vernunft selbst verankert und andererseits die praktische Notwendigkeit der Idee der Glückseligkeit und ihrer Verwirklichung herausgearbeitet habe, habe er zugleich zeigen können, dass Gott zwar nicht als der Geltungsgrund der Moral, wohl aber als »die einzige und unverzichtbare Sinnbedingung menschlichen Daseins« (75) zu denken sei. Nicht befriedigend gelöst sei bei Kant freilich das Problem der Zurechenbarkeit des Bösen und das der Offenbarung, für die seine Religionsphilosophie keinen systematischen Ort bereithalte.
Um diese Probleme zu lösen, wendet H. sich im zweiten Kapitel zunächst J. G. Fichte und dann H. Krings zu, dessen transzendentale Freiheitsanalyse erst eine adäquate Lösung erlaube. Vor deren Hintergrund könne der Entschluss zum Bösen nämlich als ein sich selbst und die andere Freiheit verfehlender und damit zugleich unvernünftiger Akt transzendentaler Freiheit begriffen werden. Und indem Krings Gott als absolute Freiheit denke, eröffne er zu­mindest die Möglichkeit, Gottes Selbstoffenbarung als historisch vermittelte Mitteilung unbedingter Anerkennung zu verstehen, die an die zwar in formaler Hinsicht unbedingte, in materialer Hinsicht jedoch bedingte menschliche Freiheit gerichtet ist.
Im dritten Kapitel wendet H. sich der theologischen Ethik zu und fragt danach, was es für die Moral bedeutet, wenn der christliche Glaube die göttliche Offenbarung nicht nur als Idee denkt, sondern deren historische Realisierung in der Geschichte Jesu bezeugt. Da er dabei davon ausgeht, dass die transzendentale Freiheitsphilosophie den theoretischen Rahmen für die Entfaltung christlicher Glaubengehalte und die Kriterien für die Bewertung theologischer Aussagen bereitstellt, verwundert es wenig, wenn H. in der Aufforderung zum autonomen Vollzug der Freiheit (sowie zur symbolischen Anerkennung der unbedingten Freiheit anderer) den Kern der moralischen Forderung Jesu sieht, die ihrerseits in der durch ihn selbst vermittelten, unbedingten Heilszusage Gottes gründe. Von hierher gelte es, so H. weiter, die theologische Ethik in zweierlei Hinsicht zu entfalten, nämlich einerseits als eine auf das Gute be­zogene Strebensethik und andererseits als eine am Rechten orientierte Sollensethik, die als solche zugleich den partikularen Vorstellungen vom Guten Grenzen setzt. Als Sollensethik, zu der auch der Bereich der Sozialethik zählt, müsse die theologische Ethik, so H., ihre eigene Partikularität hinter sich lassen und philosophisch verfahren.
Die sich hieraus hinsichtlich des zweiten, der Sozialethik gewidmeten Teils ergebende Konsequenz besteht darin, dass H. hier zunächst nach einer Theorie Ausschau hält, die die Einsichten der transzendentalphilosophischen Freiheitsanalyse aufnimmt und philosophisch-ethisch fortschreibt, wobei er davon ausgeht, dass die Anerkennung anderer Freiheit symbolisch vermittelt und auf das Handlungsvermögen anderer Personen bezogen werden muss. Im handlungsreflexiven Ansatz von A. Gewirth glaubt H. die ge­suchte Theorie gefunden zu haben. Ausgehend von der Einsicht, dass jede Person für sich selber Handlungsfreiheit in Anspruch nehmen müsse und nicht umhin komme, diese auch anderen zuzubilligen, sei es Gewirth nämlich gelungen, eine überzeugende Theorie generischer moralischer Rechte zu entwickeln und diese im Hinblick auf die soziale Grundordnung der Gesellschaft sowie für Fragen der Verteilungsgerechtigkeit fruchtbar zu machen. Eben dies will H. im vierten und fünften Kapitel seines Buches zeigen, indem er Gewirths Ansatz darstellt, erläutert und gegen Einwände von verschiedenen Seiten verteidigt, bevor er im sechsten Kapitel den Ertrag seiner Arbeit zusammenfasst, profiliert und auf offene Fragen hinweist.
Insgesamt hat man den Eindruck, dass die Studie aus zwei recht unterschiedlichen Teilen besteht. Während sich H. im zweiten Teil eng an Gewirth anlehnt, so dass die Lektüre der betreffenden Kapitel vor allem jenen Gewinn verspricht, die mit dessen Werk noch wenig vertraut sind, löst er sich im ersten Teil stärker von den von ihm souverän behandelten und miteinander verknüpften Autoren. Dies alles geschieht auf einem hohen Abstraktions- und Reflexionsniveau, wobei die vorzüglichen Zusammenfassungen und Überleitungen an den Schnittstellen das Verständnis erleichtern und erkennen lassen, dass H. auch sein eigenes Vorgehen sehr genau reflektiert. Das bedeutet natürlich nicht, dass sich Rückfragen erübrigen würden. So werden nicht alle Leserinnen und Leser H.s Optimismus bezüglich der Tragfähigkeit der Ansätze von Krings und Gewirth teilen. Auch scheint mir, dass die Verknüpfung des ersten und des zweiten Teils, d. h. die Vermittlung von transzendentaler Freiheit und Handlungsfreiheit über den Begriff der symbolischen Anerkennung, eine eingehendere Analyse verdient hätte. Und nicht zuletzt wäre mit H. darüber zu diskutieren, ob er das Profil des christlichen Ethos nicht allzu sehr nach dem Vorbild der Kringsschen Transzendentalphilosophie modelliert.
H. selbst bezeichnet seine Grundlegung der christlichen Sozialethik ausdrücklich als Versuch. Dass es sich um einen Versuch handelt, mit dem sich auseinanderzusetzen, allemal lehrreich ist, sollte deutlich geworden sein.