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Ausgabe:

Juni/2008

Spalte:

688–690

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Grotefeld, Stefan, Neugebauer, Matthias, Strub, Jean-Daniel, u. Johannes Fischer [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Quellentexte theologischer Ethik. Von der Alten Kirche bis zur Gegenwart.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2006. 493 S. gr.8°. Kart. EUR 18,00. ISBN 978-3-17-018747-4.

Rezensent:

Martin Honecker

Die Zusammenstellung der »Quellentexte theologischer Ethik« ist ein sehr ambitioniertes Vorhaben. Eine solche Sammlung von Texten zur Ethik in der evangelischen Theologie ist ein Desiderat. Denn wenn man Ethik nicht als jeweilig neu zu erfindendes rationales Konstrukt begreift, sondern die Bedeutung von Tradition und die Vermittlung von Erfahrungen eines gelebten christlichen Ethos bedenkt, dann bedarf es einer Erinnerung an geschichtliche Einsichten. Neben der Wahrnehmung des aktuellen Kontextes und der Herausforderungen der Gegenwart hat theologische Ethik auch auf Kontinuität und Erhaltung der Identität christlicher Lebensführung zu achten. Eine sachgerechte Zusammenstellung und Auswahl von Quellentexten ist freilich ebenso notwendig und erwünscht, wie sie schwierig und anfechtbar bleibt.
Die Quellentexte enthalten auf 493 Seiten 142 Textausschnitte aus fast zwei Jahrtausenden. Es ist richtig und angemessen, dass Texte zur Ethik nicht erst mit der Reformation einsetzen, sondern mit dem christlichen Altertum und Mittelalter beginnen. Denn eine »evangelische« oder christliche Ethik gibt es nicht erst seit der Reformation; sie hat eine Vorgeschichte, ohne die sie nicht zu verstehen ist. Das Wagnis, einen Überblick über die gesamte Geschichte der theologischen Ethik zu geben, ist freilich riskant. Die Texte werden alle in deutscher Übersetzung dargeboten, abgesehen von einigen Auszügen in Englisch. Dabei weicht die Wiedergabe bei einigen Autoren von der ursprünglichen Fassung ab, weil sie heutiger Orthographie angepasst wurde. Die »redaktionellen Hinweise« (15 f.) informieren über die Textgestaltung.
Das Vorwort (11–13) begründet die Zielsetzung. Texte zu materialen ethischen Themen wurden wenig berücksichtigt. Bei den Literaturhinweisen sind Ergänzungen möglich. So sollte von Jan Rohls die Geschichte der Ethik, Tübingen, 2. Aufl. 1999, welche die theologische Ethik in den Zusammenhang der Philosophie und Zeitgeschichte stellt, erwähnt werden, auch wenn dieses Buch auf die Angabe von Primärquellen verzichtet. Wolfgang Erich Müller, Argumentationsmodelle der Ethik, Stuttgart 2003 (in demselben Verlag wie die Quellentexte veröffentlicht!), stellt ebenfalls Positionen philosophischer, katholischer und evangelischer Ethik vor und beginnt bei Platon und Aristoteles. Für die philosophische Ethik gibt es vergleichbare Textsammlungen, die genannt werden, für die katholische Moraltheologie – nur bislang? – nicht. Damit ist al­lerdings ein kontroverstheologisches Problem angesprochen. Denn die katholische Moraltheologie arbeitet sich ständig an den lehramtlichen Vorgaben ab, wie etwa die Debatte um die Autonome Moral belegte; deshalb bestünde eine vergleichbare Quellensammlung auf katholischer Seite in der Hauptsache aus Lehraussagen und kirchlich approbierten Texten.
Die Quellentexte werden in sechs Epochen gegliedert: Alte Kirche; Mittelalter; Reformation; Orthodoxie, Pietismus, Aufklärung; Neunzehntes Jahrhundert; Zwanzigstes Jahrhundert. Jeder dieser kirchengeschichtlichen Epochen vorangestellt ist eine kurze Einführung. Die einzelnen Auszüge sind mit einer sehr knappen Einleitung versehen, die über Autor, Kontext, Bedeutung und Inhalt der betreffenden Schrift informiert. Diese Einführungen sind sehr knapp, eher nur andeutend gehalten. Die Periodisierung der Epochen mag man diskutieren. Die Zusammenordnung von Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung zeigt dies beispielhaft. Anzuerkennen ist dabei die Berücksichtigung von Texten von William Penn und John Wesley. Vermissen mag man das Fehlen eines Hinweises auf die Menschenrechte. Das 19. Jh. ist in seiner Zusammenordnung disparat. Es be­ginnt mit Texten von Schleiermacher und en­det mit Texten von F.Naumann, E. Troeltsch, L. Ragaz und F. Siegmund-Schultze. Faktisch beginnt das 19. Jh. mit der Französischen Revolution, die nicht eigens erwähnt wird, und endet mit dem 1. Weltkrieg. Das 20.Jh. eröffnet ein Text von Albert Schweitzer und wird abgeschlossen mit Texten von ökumenischen Konferenzen (Seoul, Canberra) und zur feministischen Ethik. Die Auswahl wirkt hier etwas disparat; aber das ist ein reales Abbild des Spektrums evangelischer Ethik. Insgesamt ist die Gewichtung und Repräsentativität der Texte geglückt. Thomas von Aquin, die Reformatoren – Luther, Melanchthon, Zwingli, Calvin – sind ebenso gebührend berück­sichtigt wie Schleiermacher, Bonhoeffer, Barth und deutsche evangelische Ethiker des 20. Jh.s. Bei Barth wäre zu erwägen, ob nicht auch ein früherer Text aufzunehmen wäre als erst ein Auszug aus der KD von 1938 (z. B. Evangelium und Gesetz, 1935). Auch sonst vermisst man manches. Warum ist Kant nicht aufgenommen, der sich immerhin mit seiner Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft explizit zur Beziehung von Religion und Moral äußerte und wirkungsgeschichtlich in der evangelischen Ethik höchst einflussreich wurde? Dankenswerterweise finden sich ökumenische Texte, beginnend mit der Stockholmer Konferenz 1925 bis hin zu Canberra 1991. Zum ökumenischen Dialog über ethisch-moralische Fragen könnte man freilich auch noch evangelisch-katholische Texte bringen, beispielsweise aus dem So­zial- und Wirtschaftswort der EKD und der katholischen Bischofskonferenz, 1997. Nicht vertreten ist die Stimme der Linksbarthianer (Helmut Gollwitzer, Walter Kreck), die freilich eher dem Genus politische Prophetie als der ethischen Reflexion zuzurechnen ist. Völlig fehlen Stimmen aus der DDR, zu denken wäre an die Zehn Artikel über Freiheit und Dienst der Kirche, 1963. Aber über Einzelheiten eines so weit ausgreifenden Werkes wird man immer unterschiedlicher Meinung sein. (Das Geburtsjahr von Honecker ist beispielsweise 1934, nicht 1935.)
Ins Grundsätzliche gehen jedoch Fragen zur Konzeption insgesamt. Die Quellentexte unterscheiden nämlich einmal nicht zwischen christlichem Ethos als Anleitung zur Lebensführung und theo­-logischer Ethik im Sinne einer Reflexion auf Urteilskriterien. Deshalb stellen sie recht unterschiedliche Textsorten zusammen: Überlegungen zu den Grundlagen und Methoden einer christlichen Ethik, wie sie sich dann erstmals im Text von Origenes finden, sodann Paränesen und moralische Anweisungen, auch Aussagen der Frömmigkeit. Hinzuzunehmen wären aus der Geschichte der Ethik auch Anweisungen von Kirchenordnungen und der Lebensordnung. Zu diesem Genus gehören beispielsweise die An­weisungen der Didache, die Regel des Hl. Benedikt oder die Schriftgemäßen Lebensregeln von A. H. Francke (219). Es ist zu begrüßen, dass Texte aufgenommen wurden wie von Athanasius aus der Vita Antonii (31), der Sonnengesang des Franziskus von Assisi (74), das Lied von C. F. Richter Es glänzet der Christen inwendiges Leben (228). Beachtet man diesen Aspekt, dann kann man über die Differenz zwischen ethischer, rationaler Argumentation und Begründung einerseits, moralischer Ermahnung und Frömmigkeitszeugnissen an­dererseits reflektieren. Sodann fällt auf, dass der Unterschied zwischen einer Ethik, die bewusst binnenkirchlich orientiert ist, und der Teilnahme theologischer Ethik am allgemeinen ethischen Diskurs nach außen nicht thematisiert wird. Gewiss ist theologische Ethik eingebettet in den Kontext der Christenheit. Aber ist darum die Kirche notwendig der Träger, das Subjekt, der Bezugspunkt von Ethik? Ist theologische Ethik durchgehend kirchliche Ethik? Bei Hauerwas und in einer Koinonia-Ethik wird dies gefordert. Kirchliche Texte, die zu Recht aufgenommen wurden, wie die Barmer Theologische Erklärung, Auszüge aus Denkschriften der EKD, Erklärungen von Ökumenischen Konferenzen, sind ein anderes Genus als fundamentalethische Reflexionen.
Schließlich belegt der letzte, sehr umfangreiche Teil Zwanzigstes Jahrhundert, wie wenig einheitlich heute theologische Ethik ist, sondern dass sie vielspältig und damit pluralistisch wurde. Eine Auswahl von Texten aus der Gegenwart ist unbestreitbar besonders schwierig und anfechtbar. Und die Schwierigkeit würde noch zusätzlich sichtbar, wenn in die Texte auch die skandinavischen und englischen Ethiker einbezogen würden. Skandinavien ist nur durch den einen Text des Dänen Lögstrup vertreten, der stark von der deutschen Theologie (Bultmann!) beeinflusst ist. Der deutsche Sonderweg in der theologischen Ethik, der durch das Ende des 1. Weltkriegs, die Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus (und dem Kommunismus) geprägt wurde und erst in den sechziger Jahren endete, führte zunächst zum völligen Bruch mit dem Kulturprotestantismus und ist insofern singulär. Dies belegt nochmals, wie kontextuell abhängig und situationsgeprägt (jede) Ethik ist.
Der Quellenband ist anregend und verdienstvoll. Er erschließt eindrucksvoll einen Reichtum und Schatz theologischer Ethik. Anfragen sind gleichwohl sinnvoll. Man wünscht sich gelegentlich eine kommentierende Lesehilfe. Nicht eigens erläutert wird, an welche Leser sich das Buch richtet. Sollte der Band für Lehrveranstaltungen gedacht sein, so wird es auf die Erfahrungen mit den Texten in der Lehre ankommen. Ob allerdings das Curriculum der neuen (Bachelor-)Studiengänge noch viel Raum für die Benutzung einer so anspruchsvollen Textsammlung einräumt, ist offen. Zum Selbststudium eignet sich der Band für Studierende weniger, da zum Verständnis zusätzlich die Lektüre von Literatur notwendig ist, welche den Kontext und Verständnishorizont der einzelnen Autoren erschließt. Hilfreich könnte zudem ein knappes Sachregis­ter sein, das den Benutzern den Vergleich von Grundbegriffen, wie Freier Wille, Freiheit, Gesetz, Naturrecht, Gerechtigkeit, Gute Werke, Gesetz, erleichtern würde – oder auch Gewissen, ein in der Textauswahl wenig hervortretendes Stichwort.
Dem Band ist gebührende Aufmerksamkeit zu wünschen. Bei einer hoffentlich erforderlich werdenden Neubearbeitung wäre zu prüfen, ob die Stoffmenge nicht auf zwei Bände aufgeteilt werden kann, auch zu Gunsten einer, wenigstens knappen, Kommentierung. Die Teilung zwischen dem Teil Orthodoxie, Pietismus, Aufklärung und Neunzehntes Jahrhundert bietet sich an; dadurch würden die Folgen der Emanzipation der Ethik von Kirche und Theologie, der Säkularisierung und die Auswirkungen der Fran­zösischen Revolution schärfer markiert werden. Die Quellensammlung setzt Maßstäbe, an denen sich künftige vergleichbare Entwürfe zur Geschichte evangelisch-theologischer Ethik werden bewerten lassen müssen.