Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2008

Spalte:

685–687

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Gabriel, Ingeborg, Papaderos, Alexandros K., u. Ulrich H. J. Körtner

Titel/Untertitel:

Perspektiven ökumenischer Sozialethik. Der Auftrag der Kirchen im größeren Europa.

Verlag:

Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag 2005. 320 S. 8°. Kart. EUR 19,80. ISBN 3-7867-2568-3.

Rezensent:

Heinrich Bedford-Strohm

Ob es so etwas wie eine »ökumenische Sozialethik« überhaupt gibt, ist gegenwärtig umstritten. Die einen sehen, insbesondere unter Verweis auf die ökumenisch erarbeiteten Kirchenworte der letzten Jahre, zumindest ein hohes Potential für die Entwicklung einer ökumenischen Sozialethik. Die anderen verweisen auf gravierende Un­terschiede zwischen den Konfessionen im Grundansatz des ethi­schen Denkens und warnen vor einer vorschnellen Verwischung der Profile. In dieser Situation macht ein Buch neugierig, das »Perspektiven ökumenischer Ethik« verspricht und von drei Autoren verschiedener Konfessionen verfasst ist, die in ihrer jeweils eigenen Tradition zu den namhaften Vertretern ihres Faches gehören. In dem Buch stellen sie in jeweils separaten Beiträgen die Sozialethik ihrer eigenen Tradition vor. Dadurch entsteht eine Einführung in die christliche Sozialethik, die jeweils über die orthodoxe, die römisch-katholische und die evangelische Sozialethik Auskunft gibt. Schon diese Kompendiumsfunktion hat ihren Wert.
Aber die Verfasser wollen mehr. Sie wollen über die separate Dar­stellung der Ansätze hinaus ökumenische Perspektiven aufzeigen. Dieses Unternehmen geschieht für sie in durchaus praktischer Ab­sicht, gilt es doch, die Rolle, die die Kirchen im Ringen um die geistigen Fundamente und tragfähigen Zukunftsvisionen eines zusam­menwachsenden Europas spielen, auszufüllen und damit ihrer Bedeutung als größtem zivilgesellschaftlichen Akteur bei der Integration Europas gerecht zu werden. Dahinter verbirgt sich eine durchaus nicht leichte Aufgabe. Die unterschiedlichen konfessionellen Profile – da­rauf weisen die Autoren schon in der gemeinsamen Einleitung hin– wirken auf die Sozialethik zurück, ob nun für die stark in der Patris­tik verwurzelte orthodoxe Theologie und Ethik oder für die von der aristotelisch-thomistischen Philosophie geprägte katholische Mo­ral­theologie und Sozialethik oder für die auf der Rechtfertigungstheologie basierende protestantische Sozialethik (17). Anstatt die Perspektiven nur nebeneinanderzustellen, sollen ihre »vermittelte Pluralität« und ihre »Komplementarität« aufgezeigt werden (20).
In einem ersten, über 100 Seiten umfassenden Kapitel beschreibt Alexandros Papaderos, der sich als Direktor der Orthodoxen Akademie Kreta gerade in sozialethischen Fragen einen Namen gemacht hat, die orthodoxe Perspektive. Orthodoxie definiert er als »eucharistische Liebes- und Lebensgemeinschaft (Koinonia) von Personen, die ihr Christ-Sein in der doxologischen Anbetung des Dreieinigen Gottes und in der Wahrung und der Verkündigung des ihnen überlieferten Glaubens erfahren« (31). Darin liegt auch die Sozialethik begründet: Ethik und Sozialethik gründen in der Trinitätslehre (39). Deswegen kann als ein Charakteristikum orthodoxer Sozialethik die enge Verknüpfung von Liturgie und Diakonie gesehen werden. Gottesdienst ist Orthodoxie und Orthopraxie zugleich (67). Der pneumatische Charakter der Diakonie darf »keiner Rationalität, Struktur oder Zweckmäßigkeitserwägung zum Opfer fallen« (69), eine Mahnung, die für aktuelle Diskussionen zur Diakonie hierzulande von unmittelbarer Bedeutung ist.
Papaderos zeigt die Schwierigkeiten auf, die sich der Entwick­lung einer orthodoxen Sozialethik als wissenschaftlicher Disziplin entgegenstellten. Dazu rechnet er auch eine gewisse Zögerlichkeit, sich unter Normen mit allgemeinem Geltungsanspruch zu stellen, wie sie offizielle lehramtliche Soziallehren repräsentieren (58). Dass sich gegenwärtig aber eine Sozialkonzeption in der orthodoxen Tradition entwickelt, zeigt das synodale Dokument »Die Grundlagen der Sozialkonzeption der Russisch-Orthodoxen Kirche« von 2000 ebenso wie schon vorher das panorthodoxe Dokument »Der Beitrag der orthodoxen Kirche zur Durchsetzung des Friedens, der Gerechtigkeit, der Freiheit, der Brüderlichkeit und der Liebe zwischen den Völkern und zur Aufhebung der Rassen- und anderer Diskriminierungen« von 1986, das Papaderos ausführlich referiert (92–96).
In seiner Darstellung zeigt sich zwischen den großen Linien eine Fülle interessanter Einzelgedanken, so etwa die Darstellung des Systems der kirchlichen Autokephalie als einer Art Vorbild für das Subsidiaritätsprinzip der Europäischen Union (33). Aber auch allein das reichhaltige Material aus der patristischen Tradition, insbesondere zu wirtschaftsethischen Fragen, lohnt die Lektüre des Kapitels. Die Kritik etwa, die Gregor von Nyssa an Wohltätern übt, die das, was sie als Almosen geben, vorher von den Armen erpresst haben (121 f.), würde so mancher Diskussion um den Wert der Philanthropie eine besondere Würze geben.
Die Wiener Sozialethikerin Ingrid Gabriel stellt die katholische Tradition vor, indem sie den Dreischritt »Sehen-Urteilen-Handeln« zum Grundgerüst ihrer Ausführungen macht. Schon zu Be­ginn zeigen sich Übereinstimmungen mit der orthodoxen Sozialethik. Gabriel sieht die katholische Ethik gegen jede Auffassung positioniert, nach der die rituelle Praxis höher zu werten wäre als die Diakonie (128). Nichts anderes wird hier beschrieben als die Einheit von Orthodoxie und Orthopraxie, von der schon die Rede war. Gabriel selbst sieht »weitreichende Übereinstimmungen mit den sozialen Aussagen anderer christlicher Kirchen« (131). Auch in der Darstellung der Quellen sozialethischer Urteilsbildung zeigt sich ein hohes Potential ökumenischer Übereinstimmung. Gabriel sieht die Bibel als »höchste Richtschnur des Glaubens« und damit als Fundament einer theologischen Ethik (133). Sozialphilosophisch ausgerichtete Naturrechtsethik und Diskursethik haben begriffliche Differenzierung gefördert, dürfen aber nicht das Reservoir der Theologie für die Deutung der sozialen Wirklichkeit verdecken (134). Die Sozial- und Humanwissenschaften schließlich können Kausalitäten im sozialen und wirtschaftlichen Leben er­kennen und analysieren, müssen aber ideologiekritisch auf ihre Prämissen befragt werden (135 f.). Eine solche Aufgabenbestimmung ist jedenfalls für Protestanten, vermutlich auch für Orthodoxe, in hohem Maße anschlussfähig.
Ein hohes ökumenisches Konsenspotential bergen auch die substanziellen Ausführungen zu den biblischen Grundlagen (158–166), deren inhaltliche Prägekraft für die sozialethischen Orientierungen sehr deutlich wird. Hier ist nichts mehr zu finden von der konfessionell traditionell umstrittenen Form katholischer Naturrechtsethik, die unter weitgehender Absehung von biblischen Begründungszusammenhängen und unter Berufung auf die Vernunft zu ontologischen Aussagen gekommen ist, die sich, jedenfalls im Nachhinein, häufig als höchst zeitabhängig herausgestellt haben.
In weiten Teilen bezieht sich Gabriels Beitrag immer wieder auf lehramtliche Dokumente. Diese Bezüge wirken aber nicht durch eine Autoritätsfixiertheit motiviert, die auf protestantischen Wi­derspruch zu treffen hätte, sondern sie werden da eingebracht, wo sie – im Einklang mit den biblischen Perspektiven – sachlich wei­terführen. Eine wesentliche Stärke der lehramtlichen Do­ku­mente– und darin ist ihr zuzustimmen – sieht Gabriel in ihrem Beitrag zur globalen Bewusstseinsbildung in sozialen und politischen Belangen und dem entsprechenden kritischen Potential in den jeweiligen nationalen Kontexten (131 f.).
Einen interessanten Akzent setzt Gabriel, indem sie bei ihrer Erläuterung der katholischen Soziallehre (166–218), die gleichzeitig ein interessantes Stück Nachzeichnung von Diakoniegeschichte enthält (166–172), den seit Rerum Novarum (1891) entwickelten klassischen Grundprinzipien der Person, des Gemeinwohls, der Solidarität und der Subsidiarität mit der Nachhaltigkeit ein fünftes hinzufügt und darin – über einen rein anthropozentrischen Ansatz hinausgehend – das Anliegen intergenerationeller Gerechtigkeit mit jenem des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen und der Natur in ihrem Ei­genwert verbunden sieht (202).
Gabriels Beitrag kann als Büchlein im Buch gelesen werden und ist eine exzellente Einführung in eine katholische Sozialethik, die sich auf der Höhe der Zeit bewegt und an keiner Stelle irgendwelche ökumenischen Stolpersteine aufrichtet, sondern, im Gegenteil, öku­menisch inspirierend wirkt.
Der Wiener Sozialethiker Ulrich Körtner vertritt die evangelische Tradition in dem ökumenischen Trio. Die Intention seines Beitrags, insofern in bestimmter Hinsicht abweichend von den beiden anderen, ist es nicht, materialethische Orientierungen evangelischer Ethik vorzustellen. Ihm geht es um die grundsätzlichen Fragen der Methodologie der Ethik und der Möglichkeit theologischer Ethik in einer pluralistischen Welt überhaupt. Dazu nimmt er begriffliche Klärungen vor (227–232), gibt einen Überblick über die Ansätze evangelischer Ethik von der Reformation bis zur Gegenwart (253–272) und skizziert dann seinen eigenen Ansatz einer evangelischen Sozialethik als »integrativer Verantwortungsethik« (278–292). In einem eigenen Kapitel reflektiert er zudem die Möglichkeit und inhaltliche Stoßrichtung einer ökumenischen Sozialethik (233–253). Auffallend in Körtners Beitrag ist seine große Skepsis gegenüber theologischen Begründungen für materialethische Positionen, insbesondere gegenüber einem »unkritischen und ungeschichtlichen Umgang mit biblischen Texten in materialethischen Einzelfragen« (229). Hier wäre eine Diskussion zwischen den Autoren des Buches interessant: Würde etwa die in den anderen beiden Beiträgen so betonte »Option für die Armen« unter dieses Verdikt fallen? »Universalethische Überbietungsansprüche« lehnt Körtner jedenfalls ab und plädiert für »solidarische Beteiligung am Prozess der Antwortsuche« (241). Als Markenzeichen des Protestantismus sieht er den Pluralismus (242). Nun lebt der Pluralismus, will er nicht zum Codewort für den Kult der Beliebigkeit werden, gerade davon, dass in dem Raum, den er ermöglicht, Positionen mit Wahrheitsanspruch vertreten werden. Deswegen wird auch aus protestantischer Sicht mit Körtner darüber ins Gespräch zu kommen sein, wie das materialethische Profil eigentlich aussieht, das der Protestantismus in diesen Pluralismus einbringen kann.
So kann das Buch als Einladung zum sozialethischen Gespräch zwischen den Konfessionen, durchaus aber auch zur innerkonfessionellen Debatte um das Profil theologischer Sozialethik verstanden werden. Der Anspruch, den das Buch im Titel trägt, Perspektiven ökumenischer Sozialethik zu entwickeln, wird eingelöst. Da die Beiträge sich nicht aufeinander beziehen, machen sie die ökumenischen Konsenslinien allerdings kaum explizit. Wie reich das Potential ökumenischer Konsenslinien indessen ist, wird bei der Lektüre in jedem Falle deutlich.