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Ausgabe:

Juni/2008

Spalte:

681–683

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Leibniz, Gottfried Wilhelm

Titel/Untertitel:

Der Briefwechsel mit den Jesuiten in China (1689–1714). Hrsg. u. m. einer Einleitung versehen v. R. Widmaier. Textherstellung u. Übersetzung v. M.-L. Babin. Französisch/Lateinisch – Deutsch.

Verlag:

Hamburg: Meiner 2006. CXXXVII, 894 S. 8° = Philosophische Bibliothek, 548. Lw. EUR 128,00. ISBN 978-3-7873-1623-6.

Rezensent:

Walter Dietz

Die Neuausgabe der Leibniz-China-Korrespondenz (Leibniz’ Briefwechsel fällt in die durch den »Ritenstreit« gekennzeichnete Blütezeit der Jesuitischen China-Mission 1582–1773) im Meiner-Verlag durch Rita Widmaier erfüllt ein interdisziplinäres Desiderat. Die vergriffene Edition von 1990 (Verlag Klostermann) wurde in dieser nun zweisprachigen Edition grundlegend überarbeitet (was sich bis in die Register hinein zeigt) und mit einer zuverlässigen Übersetzung versehen (durch M.-L. Babin). Was bei dieser Neuausgabe herausgekommen ist, erweist sich nicht nur in historischer Sicht als gut brauchbar und handhabbar.
Leibniz zeigt sich in diesen Dokumenten (70 Briefe, teils französisch, teils lateinisch; zu einem großen Teil nicht zugestellt, zu einem noch größeren Teil nicht beantwortet) als weltoffener Geist, der unermüdlich und unbeirrt am Konzept eines echten Geistes- und Kulturaustausches mit dem »Reich der Mitte« interessiert ist – einem Dialog, der somit bloße Handelsbeziehungen überbietet und auf echte geistige Befruchtung aus ist (mit der programmatischen Zielsetzung einer europäisch-chinesischen »Welt-Leitkultur« auf christlicher Basis – ein ebenso spannendes wie illusorisches Projekt). China ist um 1700 noch eine faszinierend fremde Welt, die Herkunft seiner Sprache, Schrift und Kultur im Dunkeln, ihr hohes Alter unbestritten.
Da Leibniz die Wahrheit des Christentums in ihrer konkret-geschichtlichen Relevanz begreift, stellt sich die Frage nach der Herkunft und Abstammung des chinesischen Volkes und seiner Religion. Die Missionsstrategie Matteo Riccis (SJ; 1552–1610) zielte darauf, die konfuzianische Philosophie – im Gegensatz zum atheis­tischen Buddhismus – in ihrer Urgestalt als theologisch an-schluss­fähig zu betrachten. Spannend ist für Leibniz vor allem die Frage, ob die Chinesen in ihrer Frühzeit eine Art monotheistischer Gottesverehrung kannten, d. h. eine Natürliche Theologie hatten, die jetzt (d. h. um 1700) als Anknüpfungspunkt für eine christliche Mission betrachtet werden kann. Aus der Sicht des heutigen Protes­tantismus und jeglicher konfessionalistischen Religionslogik (made in Wittenberg oder Rom) mag es verwunderlich erscheinen, mit welcher Unbefangenheit und ökumenischen Offenheit Leibniz hier ein – Akkommodation bejahendes – Missionskonzept verfolgt, das schlicht sachlich an Mission und nicht an konfessioneller Selbstdarstellung und -behauptung interessiert ist. Trotz des Scheiterns der von Leibniz unterstützten Jesuitischen China-Mission (mit dem unbescheidenen Ziel, den Kaiser von China und damit letztlich ganz China zu bekehren) bleibt der programmatische Impetus seiner Reflexionen von fundamentalem Interesse: Wie kann ein echter Kulturaustausch aussehen, der nicht nur daran interessiert ist, Produkte und Fertigkeiten »abzukupfern«, sondern den innovativen Impetus der anderen Kultur fruchtbar zu machen? Im Gegensatz zur heutigen Globalisierungsstrategie ist für Leibniz nicht das ökonomische, sondern das philosophisch-religiöse Paradigma von maßgeblicher Bedeutung. Da­her stammt die Kraft seiner Antwort.
Außer theologischen und philosophischen Fragen spielen aber auch mathematische Grundsatzprobleme eine Rolle. Gibt es auf Grund ihrer »Künstlichkeit« (artificialitas; 1) eine Affinität des chinesischen Zeichensystems zum binären (dyadischen) Zahlen­sys­tem, das Leibniz gegenüber Grimaldi (1697; 80 ff.) ausführlich reflektiert? Indem alle Zahlen hier »per 1 et 0« ausge­drückt werden, versinnbildlicht das dyadische System die Einheit der Schöpfungswirklichkeit als Kombination von unitas (Gott) und nullitas (Nichts, vgl. die klassische These einer creatio ex nihilo; 86 f.). Das Bi­närsystem ist so nicht nur »maxime naturalis« und die »progressio facillima« (86; was auf ihre technisch-praktische Verwertbarkeit anspielt – Leibniz als geistiger Urgroßvater von HP, IBM, Dell und Co.), sondern auch theologisch bedeutsam: In der Einheit von Identität und Nichtsein entsteht die Vielheit der Schöpfung. Hingegen ist das Dezimalsystem eher trivial, sein Vorzug liegt allein darin, »quod digitis respondet« (82); deshalb hält man an ihm fest (das Abzählen der Finger hat etwas), obwohl die Vielheit der 10 notae 0, 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9 im Gegensatz zur Dyadik von 0 und 1 nicht durch regularitas summa (86, »größte Regelmäßigkeit«) gekennzeichnet ist. Das theologische Grundprinzip liegt für Leibniz (der Lutheraner ist, nicht Barthianer) darin, Gott mit dem Licht der Vernunft aus der Struktur der von ihm geschaffenen Welt zu erkennen, und zwar per impressos characteres, die auf seine Allmacht und Weisheit verweisen (100, cf. 78).
Unzeitgemäß ist Leibniz’ Briefwechsel auch noch in anderer Hin­sicht. Denn gegenwärtig vollzieht sich europäisch-chinesischer Kulturaustausch unter dem Stichwort Globalisierung, ohne dass die Einbindung des technischen Know-how-Transfers in eine kulturgeschichtliche Standortbestimmung als sinnvoll oder gar notwendig erachtet würde. Modern an Leibniz ist eine Öffnung gegenüber China, die nicht vom Geist des europäischen Absolutismus oder der intellektuell-technischen Überlegenheit Europas ausgeht. Gerade so wird Leibniz zum »größten Sinophilen seiner Zeit« (Widmann). Dass die China-Mission der Jesuiten gescheitert ist, kann nicht bestritten werden. Unbestreitbar ist jedoch auch, dass es ungerecht wäre, jenes Projekt allein von seinem Scheitern (von Roms, nicht Pekings Ungnaden) her zu beurteilen.
Moderne Nachrichtentechnik ist heute global. Russland kann heute Öl- und Gasleitungen sperren, doch damals konnte es den europäisch-chinesischen Briefverkehr z. T. kontrollieren und selegieren. Briefe hatten eine erhebliche Versanddauer. Die 70 auf Französisch bzw. Lateinisch verfassten Briefe der China-Korrespondenz von Leibniz sind einzigartige Dokumente. Sie bezeugen eine weltoffene Perspektivik und universale Interessenskonstellation. China gilt auf Grund seiner langen und ehrwürdigen Ge­schichte (älter als die Schöpfung insgesamt nach christlich-jüdischer Berechnung!) keineswegs als Dritte-Welt-Missionsgebiet. Seide, Pulver, Papier und Porzellan werden dort auf höchstem Niveau produziert. Um­gekehrt befinden sich Mathematik und Physik (und deren bei Leibniz versuchte Synthese: Infinitesimalrechnung) im Abendland auf sichereren, wissenschaftlicheren Pfaden als im chinesischen Reich, an dem Leibniz auch die eindrucksvoll stabilisierende Politik seines Kaisers Kangxi (1662–1722) be­wundert.
Spannend ist für den Lutheraner Leibniz freilich vor allem die Frage der Religion: Was glauben die Chinesen heute (um 1700), was glaubten sie in ihren frühen Dynastien? Gibt es eine ursprüngliche Affinität des chinesischen Denkens zum Monotheismus (und damit eine natürliche Basis für christliche Mission)? Diese Fragen beschäftigen Leibniz. Es geht ihm jedoch nicht um ein isoliertes Missionsinteresse, sondern um wirklichen Kulturaustausch. Ziel muss sein, dass beide Seiten voneinander profitieren, Europa technologisch-naturwissenschaftlich und politisch, China mathematisch und in religiöser Hinsicht (28 f.). Im Hintergrund steht das Ideal eines echten Austausches (commercium) zwischen ebenbürtigen Partnern (China – Europa), der auf gleicher Augenhöhe stattfindet. Dies und die Erkenntnis der fundamentalen Bedeutung der Religion für Ethik und Kultur sowie der Verzicht auf die Dominanz rein ökonomischer Gesichtspunkte machen die dreifache Überlegenheit von Leibniz gegenüber heutigen Denkmustern aus. Die Faszination des Fremden wird nicht überspielt, führt jedoch nicht zu einem Abbruch des geistigen Austausches (bei gleichzeitiger Re­duktion aufs technologisch oder ökonomisch Verwertbare).
Die fundamentale Fremdheit der chinesischen Schriftzeichen und Sprache gibt ein Problem auf: Wo ist ihr Ort im Schöpfungsplan Gottes? Gibt es eine historische Linie bis hin zu den ägyptischen Hieroglyphen? Dies wurde ernsthaft diskutiert, weil der einheitliche Ursprung der Menschheit im Sinn einer historischen Auslegung der »Urgeschichte« (Gen 1–11) noch unbestritten war. An dieser Stelle erscheint der Diskussionsrahmen von Leibniz und seinen Zeitgenossen in der Tat durch die moderne Kulturanthropologie überholt. Leibniz’ These, die Wahrheit des Christentums müsse sich auch historisch verifizieren lassen (vgl. CXVI), wirkt heute eher befremdlich.
China erscheint dem selbstbewussten, aber inner- und zwi­schenstaatlich wie auch konfessionell tief zerstrittenen Europa als Herausforderung, sei es als Impulsgeber neuer Universalität (so sieht es Leibniz), sei es als Störfaktor europäischen Hegemonialbewusstseins oder schlicht als Missionsgebiet, das von Götzendienst und Aberglaube befreit werden muss. Leibniz sieht China nicht als Entwicklungsland höherer Ordnung, sondern als ebenbürtige, geis­tig-kulturelle Herausforderung für Europa. Im Blick auf die Natürliche Religion als Basis des Aufweises des christlichen Gottesgedankens (vgl. Apg 17,22 f.) ist es erstaunlich, wie Leibniz den Spieß umdreht: Europa kann von China in puncto Natürliche Religion lernen, nicht umgekehrt (XXIV – die Idee einer yellow card: Schickt uns Chinesen, damit wir von ihnen Natürliche Theologie lernen). Ganz im Sinn Matteo Riccis ist der Konfuzianismus ad bonam partem so zu interpretieren, dass er den Gedanken des drei­einigen Gottes nahelegt bzw. zumindest für ihn offen ist. Die hohe Moral und Kultur des alten China war für Leibniz und die Seinen (anders aber bereits Chr. Wolff, der die Metapher ›Himmel‹ nicht mit Gott identifiziert wissen will) nur plausibel auf dem Boden einer fundamentalen natürlichen Religiosität, d. h. im Kontext der Annahme, »daß die hohe Moral und Sittenreinheit der Chinesen auf einer ursprünglichen Gotteserkenntnis beruhten« (CXXIII). Engstirnige konfessionelle Profilierung kann in diesem ökumenischen Missionsbewusstsein selbstverständlich keine Rolle spielen. Beckmesserischer und stupider Konfessionalismus, der das Differente akzentuiert und die Einheit des Ganzen aus dem Auge verliert, wäre für Leibniz undenkbar gewesen. Hier zeigt sich seine Überlegenheit – nicht nur im zeitgenössischen Ritenstreit, sondern auch gegenüber der Wahrnehmung von Religion im gegenwärtigen Europa. Die unbefangene Weise, über die Wahrheit des Christentums und seinen Segen für den Menschen nachzudenken, ohne es als Exorzismus gegenüber Abgötterei, Zauberei und Aberglauben aufzufassen, macht die Stärke von Leibniz’ Programm aus (im Gefolge Riccis). Seine Größe zeigt sich auch darin, dass er an echtem geistigen Austausch interessiert ist, bei dem keiner über den Tisch gezogen wird und schließlich beide Seiten profitieren. Europa und China sind gemeinsam stark, wenn der Austausch nicht oberflächlich (ökonomisch) bleibt. Leibniz’ Korrespondenz mit den Jesuiten in China ist ein Paradebeispiel für echte Dialogbereitschaft, die sich in universaler Offenheit für das unaufhebbar Fremde des anderen vollzieht. W.s Edition ist – trotz des stattlichen Verkaufspreises – ein Paradigma für eine durchweg gelungene, fast ganz druckfehlerfreie Edition eines nicht nur historisch interessanten Briefwechsels.