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Ausgabe:

Juni/2008

Spalte:

679–680

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Helmer, Christine, Kranich, Christiane, u. Birgit Rehme-Iffert [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Schleiermachers Dialektik. Die Liebe zum Wissen in Philosophie und Theologie.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2003. X, 324 S. gr.8° = Religion in Philosophy and Theology, 6. Kart. EUR 59,00. ISBN 3-16-147989-0.

Rezensent:

Peter Grove

Philosophie als ›Liebe zum Wissen‹ ist eine zentrale Gedankenfigur der als ›Dialektik‹ konzipierten Wissenstheorie Schleiermachers, und zwar eine solche Figur, die auf vorzügliche Weise wesentliche Kennzeichen dieser Dialektik im Unterschied etwa zu den philosophischen Entwürfen Schellings und Hegels zum Ausdruck bringt: dass Philosophie ein vortheoretisches Denken voraussetzt und ein unvollendetes Streben bleibt, dass sie nicht Wissen oder Wissenschaft, sondern Kunstlehre ist u. a. Dementsprechend spricht Schlei­ermacher z. B. auch vom ›Wissenwollen‹ oder vom ›Trieb zu wissen‹. Insofern erscheint es sinnvoll, dass die 16 Beiträge zur Dialektik, die im zu besprechenden Band gesammelt sind und in denen entsprechende Motive häufig anklingen, derart übertitelt werden. Die Beiträge basieren auf Vorträgen, die bei einem Symposion 2002 an der Universität Tübingen gehalten wurden.
Insgesamt zeichnet der Band naturgemäß ein ziemlich buntes Bild, es lassen sich jedoch gewisse gemeinsame Tendenzen beobachten, die die beiden ersten Aufsätze von den Tübinger Lehrern Manfred Frank und Eilert Herms in besonderer Weise zu erschließen helfen. Sie »setzen« – mit dem Vorwort – »die Rahmenbedingungen für das ganze Gespräch« (V).
So gibt Frank eine kurze Skizze der Forschungslage: Schleiermachers Dialektik zeigt uns »immer noch ein Rätselgesicht«. Die bisherige Forschung »hält Nischen von im Einzelnen Erkennbaren besetzt und umgeht die Auskunft über die Machart und Einsichtigkeit des Gesamtprojekts« (3). Aus dieser Lage ergibt sich im Hinblick auf Schleiermacher die Aufgabe, »die Denkkonstellation zu erschließen, aus denen er sich gebildet hat«. Nachdem die Forschung Kant und den deutschen Idealismus einseitig hervorgehoben hatte, kamen der Spinozismus und »die Leibnizsche Erbmasse« in den Blick (4). Obwohl Frank, der selbst offensichtlich zu einer negativen Einschätzung der ›Machart und Einsichtigkeit‹ der Dialektik gekommen ist (s. z. B. 12), in ihr Motive aus allen drei Strömungen identifiziert (vgl. 17–22), hebt er den Leibnizschen Einfluss hervor.
Franks Hauptthese ist allerdings komplizierter: Er stellt fest, dass Schleiermacher zwei Gedanken »direkt« von Schelling, »indirekt« aber von Eberhard bzw. Leibniz übernimmt (8.10.12). Es geht dabei um Implikationen von Schellings Idee, »dass das Absolute von sich selbst zugleich Affirmierendes und Affirmiertes sei« (8). Von ihr wird zum einen der Gedanke der von Frank so genannten »präponderanten Synthesis« abgeleitet: In seiner Selbstaffirmation ist das Absolute sowohl Subjekt als auch Objekt, so dass diese nur nach ihrem jeweiligen Dominieren oder Zurücktreten unterschieden werden kön­nen. Zum anderen erfährt jene Idee eine spezifische ur­teils­theoretische Artikulation (8–10). Schleiermachers Übernahme der beiden Punkte von Schelling wird jedoch von Frank eher behauptet, als durch das Verfahren der Konstellationsforschung nachgewiesen, das er in Anknüpfung an Dieter Henrichs Idealismusforschung in Bezug auf die sonstige Frühromantik erfolgreich anwendet. Was zunächst die erstgenannte Idee Schellings betrifft, erscheint es als eine plausible, wenn auch keineswegs neue Er­kenntnis, dass sie die Rede der Dialektik vom gegenseitigen Überwiegen oder Zurücktreten der organischen und intellektuellen Funktion des Erkennens beeinflusst hat. Es mag ebenso sein, dass Eberhard hier im Hintergrund steht (10–12). Schleiermacher distanziert sich aber sachlich von beiden durch seine allerdings zweifellos von Schelling geprägte Lehre vom höchsten Gegensatz des Realen und Idealen, die sowohl die grundsätzliche Identität der Funktionen (so 10 f.; dagegen § 134 der Dialektik: »Die Annahme dieses höchsten Gegensatzes beruht uns und hier lediglich darauf, dass beide Elemente im Denken als unabhängig gesetzt werden«) als auch eine starke spekulative Begründung ausschließt.
Noch mehr scheint sich der zweite Aufsatz von der Orientierung der Dialektik am Motiv der ›Liebe zum Wissen‹ zu entfernen, meint doch Herms, Schleiermachers unter anderem in der Dialektik begründete Wissenschaftssystematik pointiert als Ausdruck von einem »Wissen um das Wesen des Wissens« begreifen zu können (26 f.). Der Aufsatz betont dies gegen die Auffassung, die zu »den prätendierten Selbstverständlichkeiten unseres Zeitalters« gehören soll: »daß Philosophie und Theologie zwei toto coelo verschiedenen Rationalitätsmustern gehorchen«. Demgegenüber be­ruft sich Herms auf Schleiermacher: »Philosophie und Theologie gehören beide einer gemeinsamen Sphäre an und stehen beide ... unter den Bedingungen des reflektierten Selbstbewusstseins« (23). Herms versucht, dies durch eine hochkomplexe Theorie des reflektierten und des unmittelbaren Selbstbewusstseins zu untermauern (29–40). Wegen des konstruktiven Charakters dieses Gedankengangs erscheint es indessen schwierig, die kritisierte Position und auch den Zusammenhang mit Schleiermachers faktischer Argumentation zu identifizieren. Wenn Herms jedoch über seinen Be­griff des unmittelbaren Selbstbewusstseins das reflektierte Selbstbewusstsein mit allem, was zu seiner Sphäre gehört, auf Religion zurückführt (vgl. 38–40), droht die sowohl für die Dialektik als auch für das moderne Denken überhaupt wichtige Unterscheidung von Philosophie und Religion verwischt zu werden.
Das Verhältnis von Philosophie und Theologie wird auch in einigen Beiträgen vor allem über die exegetische Theologie Schlei­ermachers behandelt. Die übrigen, eher auf die Dialektik abzielenden Aufsätze behandeln alle ihre Teile. Viele Autoren tendieren jedoch dazu, die Aufmerksamkeit den logischen Abschnitten zu widmen. So findet Denis Thouard, wie Frank (12–16), eine »leibnizianische Grundstruktur« in Schleiermachers Urteilslehre (160), in der der Erkenntnisprozess als eine Bewegung von synthetischen oder eigentlichen Urteilen zu analytischen, uneigentlichen be­schrieben wird, die vollständig bestimmte Begriffe voraussetzt (156–160). Ein anderes Beispiel gibt Hans-Peter Großhans, der zu dem Ergebnis kommt, dass die Gottheit nach der Dialektik auf keine Weise gedacht werden kann – trotzdem und eher in Übereinstimmung mit der dialektischen Argumentation spricht er von der ›Idee‹ der Gottheit (z. B. 176) –, und mit Dalferth vorschlägt, ›Gott‹ als einen Index zu verstehen, der pragmatisch eine notwendige Voraussetzung des Denkens anzeigt (172–176). Andreas Arndt dagegen erinnert mit Recht daran, dass die Dialektik nicht nur erkenntnistheoretische Logik, sondern auch Metaphysik ist und dass ihr Programm einer Einheit von beiden eine kritische Weiterführung von Kant darstellt (135–149). Endlich soll auf den Aufsatz von Ralf Stroh hingewiesen werden, der die Darstellung von Erlebnissen, wie sie in Schleiermachers theologischen Arbeiten thematisiert wird, auf dialektische Motive der ›Liebe zum Wissen‹ (wie die einleitend genannten) bezieht (258–274).
Das wohl wichtigste Verdienst des Buches besteht darin, die Logik der Dialektik und die ebenso in der bisherigen Forschung vernachlässigte Frage nach ihrem Bezug zur Tradition von Leibniz in aufschlussreicher Weise aufgenommen zu haben. »Rätselgesicht« oder nicht, es bleiben auch hier umfassende Interpretationsaufgaben historischer und systematischer Art.