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Ausgabe:

Juni/2008

Spalte:

676–678

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Faust, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Abenteuer der Phänomenologie. Philosophie und Politik bei Maurice Merleau-Ponty.

Verlag:

Würzburg: Königshausen & Neumann 2007. 419 S. gr.8° = Epistemata. Reihe Philosophie, 432. Kart. EUR 49,80. ISBN 978-3-8260-3532-6.

Rezensent:

Eva Schwarz

Eine genuin phänomenologische Fragestellung betrifft das Verhältnis von Theorie und Praxis, von Reflexion und (Handlungs-) Vollzug. Wenn wir uns wahrnehmend, handelnd etc. auf »Welt« beziehen, können wir, so eine Einsicht der Phänomenologie, den Vollzug unserer Wahrnehmungen oder Handlungen nicht gleichzeitig zum Gegenstand unserer Bezugnahme machen. Um dies zu tun, müssen wir uns reflexiv auf den Vollzug richten. Dies bedeutet aber, dass wir bereits einen neuen Akt, nämlich den der Reflexion, vollziehen. Die Reflexion kommt so stets »zu spät«. Wir können das Jetzt reflexiv nicht im Jetzt als solches vollständig erfassen. Was bedeutet dies nun für unser Verständnis von Philosophie und Lebenswelt? Ist es tatsächlich so, dass die Philosophie der Welt stets immer nur interpretierend gegenüberstünde, sie sich stets in neue Reflexionen verstri­cke, während das Leben »da draußen« im Handeln entsteht? Schließen sich Politik und Philosophie somit aus? Gerade mit diesen Fragen beschäftigte sich der französische Philosoph Maurice Merleau-Ponty (1908–1961) zeit seines Lebens. Sein philosophisches Werk ist Ausdruck eines stetigen Versuchs, Denken und Handeln in ein Verhältnis zu bringen, gängige Dichotomien in Frage zu stellen und disziplinäre Grenzen zu unterlaufen. Dieser Versuch Merleau-Pontys speist sich, wie Wolfgang Faust in der kürzlich erschienenen Monographie Abenteuer der Phänomenologie. Philosophie und Politik bei Maurice Merleau-Ponty zeigt, we­niger aus theoretischer Abenteuerlust als vielmehr aus der praktischen Dringlichkeit, mit der die Welt uns in ihrer Vielschichtigkeit und Komplexität herausfordert. F.s Buch setzt genau dort an, wo Merleau-Ponty seine Philosophie verortete, nämlich an der Schnitt­stelle zwischen Philosophie und Lebenswelt. Das von F. ursprünglich als Dissertation eingereichte 419 Seiten starke Werk orientiert sich chronologisch an der Entwicklung der Philosophie Merleau-Pontys. Die drei Teile des Buches charakterisieren drei »Phasen« des Werks Merleau-Pontys, die jeweils mit politischen Ereignissen in Frankreich korrespondieren. Die Herstellung von Sinnbezügen zwischen den Werkphasen Merleau-Pontys und der Zeit ihrer Entstehung stellt das »Leitmotiv der Untersuchung« (24) dar.
In seiner Einleitung nimmt F. zunächst auf den philosophischen Werdegang Merleau-Pontys Bezug. Die phänomenologische Philosophie, wie Merleau-Ponty sie vertritt, wird als offener Diskurs präsentiert, der – wiewohl bis zum Ende des Ersten Weltkriegs in Frankreich relativ unbekannt – über deutsche und osteuropäische Einwanderer (Koyré, Gurvitch, Levinas etc.) zunehmend Einfluss auf das akademisch-intellektuelle als auch auf das öffentlich-politische Leben Frankreichs nimmt.
Der erste Teil des Buches befasst sich mit der »ersten Phase« Merleau-Pontys von 1940 bis 1945, die F. vor allem als durch eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Wahrnehmung als primären Weltzugang geprägt darstellt. Die phänomenologische Methode und damit verbunden das Problem der Zeitlichkeit und Leiblichkeit unseres Weltbezuges spannen jenes Feld auf, welches Merleau-Ponty in Das Primat der Wahrnehmung bearbeitet. Wir folgen hier F.s Beschreibungen Merleau-Pontys als »Grenzgänger der Phänomenologie« (24), den seine Beschäftigung mit der »klassischen« Phänomenologie Husserls »über Husserl hinaus« (37) führe und die phänomenologische Methode radikalisiere.
Der zweite Teil bezieht sich auf die Philosophie Merleau-Pontys zwischen 1945 und 1952. Hier legt F. den Schwerpunkt auf die Frage nach dem Einfluss der politischen Situation Frankreichs auf die Arbeit Merleau-Pontys und umgekehrt auf Merleau-Pontys Einfluss ins politische Geschehen seiner Zeit.
»Den Ruf Zu den Sachen, weg von der Theorie und hin zur vorwissenschaftlichen Weltansicht, nahm er wörtlich: die Sachen, das werden für ihn nun auch die politischen Sachen.« (90) Die Erfahrungen der Kollaboration Frankreichs mit Hitler-Deutschland prägten Merleau-Pontys Denken und Handeln nach dem Zweiten Weltkrieg. Gemeinsam mit Sartre und de Beauvoir arbeitete er an einer Zeitschrift der Erneuerung, Les Temps Modernes. Die Zu­kunft Europas stehe, so die Maxime der drei Herausgeber, auf dem Spiel, die Kriegspsychose müsse theoretisch und praktisch überwunden werden. Dazu brauche es neue politische Ideen. F. betont, dass es Merleau-Ponty bei seiner anfänglichen Hinwendung zum Marxismus weniger um eine klassisch marxistische Politik ginge­, sondern vielmehr um eine »humane Perspektive« (155). Den Begriff des Proletariats setze Merleau-Ponty in die Sprache der Intersubjektivität um (159). Die Revolution bedeute die Vereinigung von Individuen. Bereits hier stößt Merleau-Ponty, wie F. schreibt, auf die »notwendigen Ambiguitäten des politischen Handelns« (159). Die Tragik der Moskauer Prozesse, des Archipel Gulags usw. zeigt die Realität der Lebenswelt auf, die sich denkbar ungleich jener Intersubjektivität darstellt, wie Merleau-Ponty sie sich erdachte. »Die Kontingenz bzw. die Undeutlichkeit der Praxis verurteilt«, so F., »den politischen Menschen zu einem unglücklichen Bewusstsein, und sie verurteilt manch einen Revolutionär dazu, ein tragischer Held zu sein.« (163)
Der letzte Teil des Buches beschäftigt sich mit Merleau-Pontys Spätphilosophie, die sich hauptsächlich um eine adäquate Theorie der Sprache und Ontologie dreht. F. versucht hier die verschiedenen Untersuchungen zur philosophischen und politischen Theorie Merleau-Pontys zu verknüpfen und die für sein Buch zentrale Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Politik zu stellen. Dabei porträtiert F. Merleau-Ponty als eben jenen oben genannten »tragischen Helden« der Politik. Merleau-Ponty ginge es, so F., um eine »Konkretisierung der Husserlschen Phänomenologie« (387), bzw. darum, über den »methodologischen Solipsismus« Husserls hinauszukommen und bei einer praktischen Philosophie des »Engagement« anzukommen. Der französische Philosoph hätte, so die Hauptthese F.s, zwar Ersteres geschafft, wäre aber eben nicht bei einer Praxis des philosophischen Handelns angekommen. F. erklärt Merleau-Pontys Philosophie als problematisch in Bezug auf eine mögliche »Thematisierung des Unthematischen« (199), bzw. in Bezug auf eine adäquate Darstellung dessen, was dem Faktischen zu Grunde liegt. Dieses Problem trete vor allem bei dessen Versuch, Politik mit Philosophie zu konsolidieren, zu Tage. Mer­leau-Pontys Konzeption sei weder in der Lage, den Terror des Stalinismus zu interpretieren noch »Orientierungen oder Ratschläge für die politische Praxis zu geben« (199).
Welche Art von Abenteuer, fragt man sich nach 419 Seiten Lektüre, sind nun im Titel des Buches gemeint? Sind es die Abenteuer der Zeit, denen sich Merleau-Ponty als Philosoph zu stellen versucht, und an denen er F. zufolge scheitert, oder ist es die Phänomenologie selbst, die sich für die Leser des Buches als lohnenswertes Abenteuer präsentieren soll? F.s Darstellung lässt dies offen. Die phänomenologische Reduktion, so wie Husserl sie praktiziere, führe uns, so die Interpretation F.s, von der Welt weg hin zu einer Welt der Phänomene (38). Das transzendentale Ego sei als »einzige sinngebende Quelle« (ebd.) aufgefasst. Die Phänomenologie Husserls, von der sich Merleau-Ponty distanzieren wollte, sei »innerer Dialog« und damit Monolog. Philosophie im Sinne Husserl sei somit Rück­zug und Kontemplation statt Engagement und Kritik: »Weil das Ich alle Nöte der Welt nur als Phänomene von Nöten auffasst, sind ihm die Nöte der Welt gleichgültig.« Die Phänomenologie als »in­teressenlose Zuschauerin« gebe sich dem Gedankenspiel statt der Fülle des Lebens hin (389).
Diese cartesianische Darstellung der Husserlschen Phänomenologie ist jedoch – obwohl weit verbreitet – Ausdruck eines fundamentalen Missverständnisses. Die phänomenologische Epoché klammert die Welt nicht aus, führt uns nicht zur Welt als bloßer Erscheinung oder zur introspektiven Erschauung der eigenen Psyche, sondern macht das Verhältnis von Welt, Selbst und Anderen überhaupt erst zum Thema. Die phänomenologische Reduktion führt uns zur Gegebenheit von Welt in intentionalen Akten und legt einen Konstitutionszusammenhang offen, der die Unterscheidungen subjektiv/ objektiv, innen/außen unterläuft. Welt ist so nie als Produkt der Konstitutionsleistung eines Subjekts zu verstehen, sondern als Horizont, in dem »etwas als etwas« bedeutungsvoll gegeben ist. Korrelativ dazu kann ein Subjekt nur als erfahrende Subjektivität verstanden werden, insofern wir es als Teil einer Ge­meinschaft von Subjekten in einer gemeinsamen Erfahrungswelt verstehen können. Husserl referiert sogar an einigen Stellen auf sein Projekt als »soziologische transzendentale Intersubjektivität« (Hua IX, 539). Merleau-Pontys »neue radikalere Phänomenologie« (192) können wir so nicht als gegen Husserls angebliche »Egozentrik des Fremdverstehens« (192) gerichtet verstehen, sondern als Kritik an einer bestimmten (subjektivistischen oder objektivistischen) Auffassung von Subjektivität. Sie stellt keinen radikalen Bruch mit Husserl dar, sondern eine kritische Fortführung und Erweiterung. F.s Interpretation der Phänomenologie Merleau-Pontys als »Brü­ckenschlag zur Inter-Subjektivität« reißt einen Graben innerhalb der Phänomenologie auf, wie er von Merleau-Ponty in seinen phänomenologischen Arbeiten nicht intendiert wurde. Die Rede von der »traditionellen« Phänomenologie, in welcher »das Ego mit sich selbst im Gespräch ist, und wir in dieser Hinsicht als fensterlose Monaden« zu begreifen seien, stellt keine phänomenologische Po­si­tion dar und kann somit auch nicht von Merleau-Pontys Phänomenologie der »Interkorporeität« (192) ersetzt werden. Diese Interpretation würde gerade die Einsicht in die tatsächlichen Errungenschaften der Phänomenologie Merleau-Pontys verschließen. Nicht um eine Verwischung der Grenzen ging es Merleau-Ponty, nicht um ein Auflösen der Subjektivität in eine Anonymität der Interkorporeität, nicht um ein Auflösen der Grenze zwischen Wissenschaft, Politik und Lebenswelt, sondern um das Aufsuchen jener »Sphäre«, von der aus wir diese Konzepte zuallererst verstehen können.
Der Hauptkritikpunkt an F.s Abenteuer der Phänomenologie be­trifft somit sein Phänomenologieverständnis, dieses bleibt großteils unklar. Abgesehen davon sind F.s Analysen und Darstellungen interessant und detailreich. Die zentralen Einflüsse auf das Werk Mer­leau-Pontys werden ausführlich behandelt. Der Text ist in sich schlüssig und gut lesbar. Eine Darlegung des Verhältnisses von Theorie und Praxis bzw. eine Diskussion dessen, was mit »Lebenswelt« gemeint ist und wie wir sie zum Thema von Theorie und Praxis machen können, bleibt F. seinen Leserinnen und Lesern jedoch schuldig. Die Frage nach dem Wesen des Politischen und des Philosophischen und deren gegenseitige Bedingtheit bleibt so unberührt: Merleau-Pontys Denken habe, so F., die »akademische Grenz­ziehung zwischen Theorie und Empirie überwunden« (32). Die spannende Frage, wie wir mit dieser Öffnung umgehen, wie wir sie verstehen können, lässt F. unbeantwortet.