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Ausgabe:

Juni/2008

Spalte:

673–676

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Ellsiepen, Christof

Titel/Untertitel:

Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva. Die spinozistischen Grundlagen von Schleiermachers früher Religionstheorie.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2006. IX, 461 S. gr.8° = Theologische Bibliothek Töpelmann, 135. Geb. EUR 98,00. ISBN 978-3-11-018836-3.

Rezensent:

Andreas Kubik

Die Frage nach seinem Verhältnis zu Spinoza ist so alt wie Schleiermachers öffentliches Auftreten. Seit er 1799 in den »Reden über die Religion« dazu aufgerufen hatte, den »Manen des heiligen verstoßenen Spinosa« eine »Loke« (Reden, Originalpaginierung, 55) zu opfern, ist die Diskussion um den Spinozismus des Berliner Predigers und späteren Professors nicht abgerissen. Immer noch nicht abschließend geklärt ist, ob Schleiermachers Spinoza-Rezeption seine Theologie tatsächlich prägt, und vor allem, wofür genau der vermutete Spinozismus in seinem Werk einsteht. Zur Klärung tritt die bei Ulrich Barth entstandene Hallenser Dissertation an. Es ist im Grunde genau ein Interpretationsproblem, das sich die Arbeit vorlegt: Was nämlich bedeutet »Anschauen des Universums« in den »Reden«, diese »allgemeinste und höchste Formel der Religion« (Reden, 55) – eine Frage, die umso wichtiger erscheint, da der An­schauungsbegriff interpretatorisch meist im Schatten des ungleich prominenteren Gefühlsbegriffs steht.
E.s Grundthese ist, dass jene Formel nur vor dem Hintergrund der Spinoza-Studien verstanden werden kann, die Schleiermacher bereits 1793/94 durchführte (KGA I/1). Die Aneignung Spinozas durch Schleiermacher wird von E. minutiös nachgezeichnet: Die Interpretation der Studienhefte »Spinozismus« und »Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems« stellt das Herzstück von E.s Arbeit dar (140–271). Sie wäre freilich unmöglich, wenn sie nicht von einer gründlichen Kenntnis der Philosophie Spinozas selbst getragen würde. Die Darstellung von dessen Ontologie und Er­kenntnistheorie – entwickelt im Gespräch vor allem mit Martial Gueroult, Wolfgang Bartuschat und Konrad Cramer – macht den ersten Teil der Arbeit aus (9–139). Mit ihr gibt E. eine beeindruckende Visitenkarte ab, die auch in der internationalen Spinoza-Forschung weitergereicht werden dürfte. In einem dritten Hauptkapitel fungieren die erzielten Ergebnisse als Folie der Interpretation von Schleiermachers »Reden« (272–415).
Im Begriff »Anschauen des Universums« geht es um das Verhältnis vom Endlichem zum Universum, denn »alles Einzelne als einen Theil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen hinnehmen, das ist Religion« (Reden, 56). Spinoza wird von E. als die sachliche Inspiration namhaft gemacht: »Die systematische Parallele ist zwischen Schleiermachers religiösem Anschauungsbegriff und Spinozas dritter Erkenntnisart, der scientia intuitiva zu suchen« (5), denn auch bei Letzterer »geht es um das Verhältnis vom Unendlichen zum Singulären« (5 f.). Der Nachzeichnung dieses Begriffs ist dann das erste Hauptkapitel gewidmet.
Die Interpretation von Schleiermachers Spinoza-Rezeption sieht sich dem besonderen Problem gegenüber, dass er Spinoza zunächst nicht im Original las, sondern vermittelt über Friedrich Heinrich Jacobis Spinoza-Buch (21789), das zugleich Interpretation und Quellenauswahl ist. E. hält hier die verschiedenen Interpretationsebenen – Spinoza, Jacobis Darstellung, Schleiermachers Um­gang damit – stets sauber auseinander. Schleiermacher macht sich gegenüber Jacobi zu Spinozas Anwalt und entwickelt dabei gleichsam unter der Hand die Leitlinien seines eigenen philosophischen Ansatzes. Dabei erweist sich das »Individuationsproblem als die für Schleiermacher bestimmende Leitfrage seiner Spinozarezeption« (228). Wie kann sich die unendliche Substanz im Einzelnen zeigen und ins Endliche hinein vermitteln – dieser spinozanischen Grundfrage geht Schleiermacher nach. Sie ist zunächst metaphysisch zu erwägen und findet ihre Antwort im Konzept der ›mittelbaren Inhärenz‹. Alles Einzelne ist »Teil des in einem Kontinuum ausgedrückten Ganzen« (223), es ist nur bestimmt, wenn es einerseits auf anderes Endliches bezogen und andererseits »in den Zusammenhang unendlicher Modifikationen gestellt ist« (223). Nur vermittels des Gesamtzusammenhangs alles Endlichen hat das Einzelne eine Beziehung zum Unendlichen – ein Gedanke, den Schleiermacher bis zur Schöpfungslehre seiner Dogmatik durchhält.
Doch die metaphysische Erwägung allein kann unter kantischen Erörterungsbedingungen die Grundfrage noch nicht hinreichend erklären. Sie fordert auch noch eine erkenntnistheoretische Antwort. Schleiermacher geht von einer großen inneren Nähe der Ansätze Kants und Spinozas aus, die einen gleichsam transzenden-talphilosophisch gegengelesenen Spinoza präsentiert – und dies, wie E. zeigen kann, durchaus nicht ohne Anhalt an Spinozas eigener Erkenntnistheorie (vgl. 134–139). Kants Lösung des Individuationsproblems, Individuen als Erscheinungen zu klassifizieren und durch ihre raumzeitliche Stelle bestimmt sein zu lassen, wird von Schleiermacher mit der metaphysischen Deutung parallelisiert. Die Erscheinungen werden von uns ja als Erscheinungen von etwas verstanden, und deren Inbegriff kann mit Spinozas Substanz identifiziert werden. Auch von dieser Seite zeigt sich, dass ein Zugang zum Unendlichen in seiner An-sich-Bestimmtheit nicht möglich ist: »Die unhintergehbare Bezogenheit des menschlichen Bewusstseins auf endliche Gegenstände erscheint Schleiermacher ein gleichermaßen feststehender Grundsatz Spinozas wie auf der anderen Seite die Ablehnung der Möglichkeit einer besonderen Ideation der unendlichen Substanz unabhängig vom Bezug auf Endlich-Einzelnes.« (249)
Das Universum kann von uns also nur mittelbar angeschaut werden. So wahr es aber das Unendliche ist, muss es auf unendliche Weise angeschaut werden können: In allem Einzelnen kann das Universum angeschaut werden. Gottes- und Weltidee sind »stets als Korrelate zu fassen« (364) – ein Gedanke, der sich ebenfalls bis in Schleiermachers Spätwerk durchzieht. Daraus folgt, dass sich der Begriff einer religiösen Anschauung nur aus seinem Verhältnis zu den sinnlichen Anschauungen erklärt: Den Sinn für das Unendliche abzugrenzen und ins Verhältnis zu setzen zu den sinnlichen Anschauungen ist »vielleicht die Frage an Schleiermachers frühen Religionsbegriff« (311 f.). Auch für die Religionsthematik ist die Individuationstheorie unmittelbar einschlägig. Denn es »geht in der Religion um das Anschauen des Universums in dessen Darstellungen« (350), die zunächst nichts als die einzelnen Dinge oder Menschen sind. Wenn nun aber einerseits eine unmittelbare Anschauung des Universums nicht möglich ist, andererseits das Universum für sich »ein rein spekulativer Gedanke« (363) ist, mit dem als solchem es die Religion nicht zu tun hat, so folgt daraus, dass die Religion wohl ein Anschauen des Einzelnen ist (und kein Denken), aber eins unter der Idee des Universums: »Wir haben also zweierlei in der religiösen Anschauung: eine sinnlich vermittelte Vorstellung einerseits und deren Vorstellung als Darstellung des Universums andererseits.« (375) Der Sinn für das Unendliche ist folglich – und dies stellt E. nachdrücklich heraus – »kein ›sechster Sinn‹« (375), sondern ein »Interpretations- bzw. Deutungsakt« (376).
Religiöse Erfahrungen sind nach E.s Schleiermacher-Deutung mithin auch kein Sonderbereich des menschlichen Erfahrungslebens, wie weite Teile der Schleiermacher-Literatur (Gunter Wenz, Christian Albrecht, Fred Lönker) an­nehmen. Sie sind vielmehr eine spezifische Weise, sich auf seine eigenen Erfahrungen noch einmal zu beziehen, wie zuletzt Ulrich Barth, Markus Schröder und Peter Grove herausgearbeitet haben, an die sich E. bewusst anschließt.
So kommt E. am Ende zu dem Ergebnis: Schleiermachers scharfe Abgrenzung der Religion von der Metaphysik in den ›Reden‹ darf nicht übersehen machen, dass seine frühe Religionstheorie ihrerseits eine spinozanische Metaphysik des Universums voraussetzt. Doch daraus folgt, und das ist das eigentlich Überraschende, keines­wegs ein Religionskonzept des unmittelbaren Fühlens des Un­endlichen, sondern im Gegenteil steht Spinoza im Werk Schleiermachers für die These, dass es in der Religion keine Un­mittelbarkeit gibt, sondern Vermittlung durch das Endliche in der Religion alles ist.
Beide Teilergebnisse formen ein in der Sache zutiefst aufregendes Resultat, das von E. – stilistisch allerdings vergleichsweise eher unaufgeregt – in penibler Kleinarbeit herausgearbeitet wird. Dass die Darstellung mitunter etwas arg redundant gerät, mag der höchst komplexen Materie geschuldet sein. Viel wichtiger aber ist, dass die Studie in allen Streitfragen, die sie sich vorlegt, die Forschung ein gutes Stück voranbringt: ein Buch, auf das man sich verlassen kann.