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Ausgabe:

Juni/2008

Spalte:

669–671

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Hölscher, Lucian

Titel/Untertitel:

Geschichte der protestantischen Frömmigkeit in Deutschland.

Verlag:

München: Beck 2005. 466 S. m. Ktn. 8°. Lw. EUR 39,90. ISBN 3-406-53526-7.

Rezensent:

Jörg Neijenhuis

Lucian Hölscher, Professor für Neuere Geschichte an der Ruhr-Univer­sität Bochum, legt eine Geschichte der protestantischen Frömmigkeit vor, die er in vier Epochen gliedert. Diese Epocheneinteilung leitet er aus den Zukunftsvorstellungen ab, die die Frömmigkeit geprägt haben.
Die erste Epoche datiert er von 1520 bis 1680 und nennt sie: »Die letzte Zeit vor dem Ende der Welt.« Die Zukunftsvorstellung dieser Epoche rührt noch aus dem Mittelalter her und ist geprägt sowohl von der Angst vor dem Ende der Welt als auch von der Hoffnung, dass das Ende der Welt nahe ist. Die von dieser Zukunftsvorstellung gestaltete Frömmigkeit beschreibt H., indem er die Entstehung der Reformation bis hin zu ihren Kirchenverfassungen nachzeichnet und ebenso auch das konkrete Leben der kirchlichen Gemein­den darstellt, wie es sich äußert durch Gottesdienst, religiöse Texte und Lieder, Beichte und Seelsorge, religiöse Erziehung etc.
Die zweite Epoche von 1680 bis 1800 ist dem Zeitalter der Aufklärung gewidmet. H. sieht diese Epoche gekennzeichnet durch die Hoffnung auf einen langfristigen, aufgeklärten religiösen Fortschritt. Diese aufgeklärte Zukunftsvorstellung stellt H. dar anhand des Strukturwandels der kirchlichen Gemeinden, der einhergeht mit dem Strukturwandel der Gesellschaft, sich zeigt im Rückgang des Kirchenbesuchs und in den liturgischen Reformen. Die Entfaltung der Frömmigkeit in der Aufklärung zeigt sich im Atheismus und im Aberglauben ebenso wie in einer neuartigen religiösen Vorstel­lungswelt auf Grund des aufgeklärten Welt- und Wirklichkeitsverständnisses. All das wird manifest in einer religiösen Geographie mit den konfessionellen Spaltungen nach 1648, den Anfängen der Toleranzpolitik und den religiösen Minderheiten.
Die dritte Epoche von 1800 bis 1914 ist gekennzeichnet als das Zeitalter der Kirche. Es entstand eine ganz auf die Kirche als institutionellen und geistigen Raum ausgerichtete Frömmigkeit. Wieder wandelt sich die Frömmigkeit, was H. nachzeichnet: das sich verändernde kirchliche Leben (z. B. durch die Verschiebung der sozialen Basis der Kirche, durch die Urbanisierung und im Wandel der Lebensriten), der Bekenntnisstand (Unionsschlüsse, Agendenstreit, innerkirchlicher Richtungsstreit etc.), der Neubau der Kirchenverfassungen (wie er sich in den Landeskirchen, aber auch in den einzelnen Kirchengemeinden, den kirchlichen Vereinen, im Schrifttum und in der Pfarrerschaft zeigt), die religiöse Sozialisation (im Elternhaus, in der Schule, durch die Konfirmation etc.). Der Frömmigkeitswandel zeigt sich auch in den religiösen Kontroversen um den persönlichen Gott, das Gebet, das Wunder, das Jenseits. Am Ende dieser Epoche steht sowohl die Vermischung der Konfessionen (Unionskirchen, Kirchenbünde, da viele Menschen verschiedener Konfessionen auf engem Raum lebten) als auch die religiöse Entzweiung: »Deutschland weist innerhalb Europas eine bis heute einmalige Vielzahl weltanschaulicher Gruppen und Bewegungen auf.« (330) Die meisten sind aus protestantischem Boden erwachsen: So werden die Freikirchen, die Erweckungs- und Gemeinschaftsbewegung beschrieben, aber auch die Freimaurer, der Sozialismus, die Lebensreformbewegung (Freikörperkultur, Vegetarismus), die Anthroposophie. Diese drei Epochen mit ihren spezifischen Zukunftsvorstellungen beschreibt H. ausführlich und materialreich auf 380 Seiten, wie das Literaturverzeichnis mit Personen- und Sachregister ausweist.
Die vierte, heute noch andauernde Epoche wird nicht beschrieben, sondern als Ausblick, quasi als Anhang, den drei Epochen auf 6,5 Seiten zugegeben als Feststellung der religiösen Lage zu Beginn des 20. Jh.s. Diese vierte Epoche hat auch keine im herkömmlichen Sinne »eigene« Zukunftsvorstellung mehr, jedenfalls gibt H. keine an. Vielmehr konstatiert er, dass die fortschreitende Säkularisierung der Gesellschaft den Erwartungshorizont der Zeitgenossen abgibt bzw. dass dies ein neuer oder anderer Zukunftsentwurf ist. So wird ein Niedergang der protestantischen Frömmigkeit mitsamt den Landeskirchen festgehalten, während es durchaus einen religiösen Aufschwung gab und gibt, der sich aber nicht traditionell christlich verstand oder gar verstehen musste. Zu Ende war mit der Epochenwende 1914 das Verständnis eines Gegenübers von Staat und Kirche, jetzt sollen oder müssen sich die Kirche und die Religion bewähren im Raum einer sich als säkular verstehenden Gesellschaft.
Es ist schon erstaunlich, dass H. die so materialreiche, konzentrierte und gut lesbare Darstellung der Geschichte der protestantischen Frömmigkeit mit einem Ausblick von der Epochenschwelle 1914 aus enden lässt – warum führt er sie nicht weiter bis in die Gegenwart hinein? Es wäre doch interessant, zu lesen, wie sich das protestantische Leben der Gegenwart in einer neuen Epoche fortzeichnen und verstehen ließe. Oder gibt es keine protestantische Frömmigkeit mehr, die sich beschreiben lässt? Schließlich redet heute alle Welt – und auch Protestanten reden gerne – von Spirituellem, Charismatischem, gar von Magischem! Oder kann keine erneute Wandlung der protestantischen Frömmigkeit festgestellt werden, sondern eher eine Auflösung?
Die Schwierigkeit kann nicht in der Begriffsbestimmung von Frömmigkeit oder Protestantismus liegen. H. legt in seinem Vorwort dar, dass es ihm nicht darum gehe, einen im Vorhinein festgelegten Begriff auf die Phänomene anzuwenden, sondern er nimmt in seiner Geschichte der protestantischen Frömmigkeit den Begriff mit seinen ständigen Wandlungen als Gegenstand selbst mit hinein. So kann auch nicht im Vorhinein festgelegt werden, was nun spezifisch protestantisch ist oder was spezifisch protestantische Formen der Frömmigkeit sind. Deshalb geht H. in seiner Darstellung von der religiösen Praxis und religiösen Vorstellung der Gläubigen aus. Das muss beim Lesen dieses Buches sehr wohl bedacht sein, denn nicht alles, was hier unter »protestantisch« subsumiert wird, hat etwas mit evangelischen Kirchen oder direkt mit dem christlichen Glauben zu tun. Das wird schnell deutlich in der Beschreibung der verschiedenen religiösen Vorstellungen der Freimaurer, des Sozialismus, der Anthroposophie, der Lebensreformbewegung, die ihren Mutterboden im Christlichen haben. Insofern versteht er seine Geschichte als einen Gegenentwurf zur vorherrschenden Kirchengeschichtsschreibung. Als »Frömmigkeit« be­zeichnet H. »ein Ensemble von religiösen Vorstellungen und Handlungsformen, die ein Individuum, eine Gruppe oder eine Institution dauerhaft pflegt« (11). Dies geschieht immer in Absetzung von etwas anderem, am deutlichsten im Gegensatz zu etwas Nicht-Frommem. Denn der »Protestant« entwickelt sein Ensemble immer gegen eine andere, meist nichtreligiöse Vorstellung. Diese Frömmigkeit lässt die Wahrnehmung »der äußeren Welt und deren Spiegelung im Inneren zu einer unauflösbaren Einheit« (11) verschmelzen, so dass H. von der Innenausstattung des Menschen spricht. Es ist also die Art und Weise, wie die Gläubigen die Welt betrachten und die dann ihr Handeln bestimmt, der eigentliche Gegenstand dieser Geschichte der protestantischen Frömmigkeit.
Unter diesen Prämissen ist es verständlich, dass auch jene Menschen, die sich selbst gar nicht als »fromm« oder »religiös« verstehen, in diese Geschichte mit einbezogen werden, weil sie doch in ir­gendeiner Weise aus dem Schoß des Christlichen entwachsen sind. Das gilt für Feuerbach genauso selbstverständlich wie für andere Atheisten, die sich gegen das Christentum stellten. Auch der Säkularismus wird als »christlich« verstanden, denn so nehmen es jedenfalls die nicht-christlichen Kulturen wahr. Immerhin konstatiert H., dass die Weihnachtsfeier oder geradezu das emphatische Bekenntnis zu den christlichen Grundwerten, wie z. B. zum absoluten Wert des menschlichen Lebens, dafür deutliche Belege sind, die aber aufzeigen, dass die christliche Kultur weit über die Grenzen der Kirchengemeinden hinausragt.
Auch mag sich H. nicht einem gängigen geschichtlichen Verlaufsmodell anschließen, da die protestantische Frömmigkeit sich weder mit »Rationalisierung« und »Entzauberung« (Max Weber) noch mit »Modernisierung« des Glaubens (Hans-Ulrich Wehler) noch als »Ausdifferenzierung« gesellschaftlicher Diskurse (Niklas Luhmann) beschreiben lässt. Vielmehr distanziert er sich von jenen Geschichtsentwürfen, die die mit diesen Modellen gesetzten Be­trach­tungsweisen als gesamtgeschichtliche Tendenzen sehen wollen. Darum wäre es spannend gewesen, zu verfolgen, wie er auf Grund seiner Bestimmung des Protestantischen das 20. Jh. dargestellt hätte: Wie wäre er umgegangen mit dem Phänomen der Studentenrevolte von 1968? Wie hätte er den Nationalsozialismus bewertet? Wie die unterschiedlichen Entwicklungen im unkirchlichen wie kirchlichen Protestantismus, die sich zeigen in der liberalen Deutung des Glaubens oder sich zeigen in dem an Bibel und Bekenntnis gebundenen Verständnis, die sich zeigen in einer evangelikalen oder pfingstlerischen Auffassung? Wie ist der Feminismus einzuordnen? Gibt es nicht auch einen Protestantismus in der römisch-katholischen Kirche? So bleiben nicht nur Fragen offen, sondern sie richten sich auch an das Konzept bzw. an den Umgang mit den Begriffen Frömmigkeit und Protestantismus, die ja nicht nur theologisch oder kirchlich verstanden werden. Mir kommt es jedenfalls so vor, dass unter dieser von H. ins Auge gefassten Perspektive Spuren von Frömmigkeit und von Protestantischem überall wahrgenommen werden können. Wenn der Leser den Text dieses Buches so zu verstehen versucht, ist das Buch eine spannende Lektüre.