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Ausgabe:

Juni/2008

Spalte:

664–667

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Daub, Hans Friedrich

Titel/Untertitel:

Die Stellvertretung Jesu Christi. Ein Aspekt des Gott-Mensch-Verhältnisses bei Dietrich Bonhoeffer.

Verlag:

Münster-Berlin: LIT 2006. 623 S. gr.8° = Theologie. Kart. 39,90. ISBN 3-8258-8463-5.

Rezensent:

Ralf Karolus Wüstenberg

Di­e noch vom katholischen Mainzer Systematiker Bardo Weiß an­geregte Dissertation des Fuldaer Religionspädagogen Hans Friedrich Daub nimmt sich einer ebenso für die Christologie wie für die Bonhoeffer-Forschung im engeren Sinne zentralen Thematik an, nämlich der »Stellvertretung«. Wie D. im Vorwort verrät, hat für ihn die Beschäftigung mit dem Thema einen konkreten ›Sitz im Leben‹: »In einer Klasse 11 hatte ich damals einen Text aus einem Gefängnisbrief Bonhoeffers ausgeteilt. ›Der Gott, der mit uns ist, ist der Gott, der uns verlässt‹, hieß es da.« (7) Von der anschließenden Diskussion in der Klasse, weiß D. zu berichten, dass sie ein »Unbehagen« hinterlassen hat und die Befürchtung, dass man wegen der »oft nur telegrammartigen Ausführungen Bonhoeffers« auf »Fragen und Vermutungen zum Text ohne Klärung sitzen bleiben« muss.
Die üppige Untersuchung, die D. in der Folgezeit angestellt hat, offenbart, dass weder D. noch die Leserschaft »ohne Klärung« auf Fragen »sitzen bleiben« muss. D. arbeitet sich nämlich in drei sehr gehaltvollen Kapiteln auf über 500 Seiten durch die Schriften Bonhoeffers zur Gefängnistheologie vor (49–568). Eine Einführung, die »Stellvertretung in Alltag und Theologie« (15–44) phänomenologisch wie forschungsgeschichtlich thematisiert, und eine systematische Zusammenfassung, die gedrängt, aber übersichtlich »Ergebnis und Perspektiven« (569–610) liefert, rahmen die materiale Be­schäftigung mit dem Aspekt der Stellvertretung in der Theologie Dietrich Bonhoeffers ein.
D. setzt mit einer Reihe von inspirierenden Beobachtungen zum Verweisungszusammenhang der Rede von der Stellvertretung in »Alltag und Theologie« ein: Man erhofft in schwierigen, ja grenzwertigen Lagen einen »Stellvertreter«, jemanden der für einen eintritt, der z. B. einen Peiniger beseitigt. So haben »Solidaritätschris­tologien« (17 f.) (René Girard, R. Schwager, N. Hoffmann) vor allem den Gedanken zum Inhalt, dass der Mensch Jesus sich mit den Ausgestoßenen identifiziert. D. zufolge gäbe es hier zwar manche Affinität zur Stellvertretung, aber zu Recht wird eine ethische Verkürzung angemahnt: Tritt auch dieser Stellvertreter ein für den »Sünder vor Gott« (18)? Und weiter: Sollte nach Stellvertretung nur in Grenzsituationen gefragt werden? Hier hofft D. auf einen Perspektivwechsel: »Denn Stellvertretung geschieht nicht nur in den Grenzsituationen, sondern zuallererst in dessen schönen Zeiten … Wenn ich dem Anderen Gutes tun will, frage ich mich hin und wieder: Was bräuchte ich, wenn ich dieser Mensch wäre?« (18) Man hört bereits Bonhoeffer anklingen, wenn D. im Folgenden seine Fragen auf das Thema der »Mitte des Lebens« zuspitzt: »Die Stellvertretungskategorie ist nicht nur in ihrer von der Sünde des Menschen bestimmten Dimension zu betrachten, sondern auch auf ihre Brisanz für das Integere, Schöne, Ganze, Starke des Lebens hin zu entwickeln. Dabei ist nach der Einheitsfigur zu fragen: es ist ein Stellvertretungsbegriff zu suchen, der beides erfasst.« (25)
Auf der Suche nach dieser »Einheitsfigur« lässt D. in den materialen Hauptkapiteln seiner Arbeit die Schriften Bonhoeffers Revue passieren. Bereits in der Analyse von »Sanctorum Communio«, der Promotionsschrift Bonhoeffers von 1927, beobachtet D., dass im Hinblick auf das Moment von Stellvertretung diese nur vollzogen werden kann, wenn der Stellvertreter und der zu Vertretende in derselben Wirklichkeit, also der neuen Menschheit, d. h. der Kirche, stehen. Das sei auch der Grund, warum Bonhoeffer betone, dass Christus in die von der Sünde bestimmte Menschheit gestellt werde. »Die Stellvertretung Christi korrespondiert mit der Offenbarungsform ›Christus als Gemeinde‹ existierend.« (154) In dieser Offenbarungsform trete »Christus gleichsam aus seinem Selbst heraus und ist dann als er selbst in den Anderen, mit den Anderen, an den Anderen« (155). Nach Einschätzung D.s gelingt es Bonhoeffer auch in seiner Habilitationsschrift »Akt und Sein« von 1930 nicht, »die Gegenwart Christi in der Kirche, genauerhin die Gegenwart Christi als Gemeinde existierend, und die empirisch-ge­schichtliche Konkretheit von Kirche und Christsein theologisch angemessen miteinander zu vermitteln« (299). Anders als in »Akt und Sein« bekommt in den untersuchten Vorlesungen Bonhoeffers Anfang der 1930er Jahre angesichts des nationalsozialistischen Kontexts die Einbindung der konkreten Lebenssituation in die Stellvertretungsdimensionen Jesu Christi Bedeutung. »In Christus ist das Leiden der Christen ›geborgen‹; dies ermöglicht, dass ›unser‹ Leiden dasein und angenommen werden kann.« (373) Die Analyse der Schrift »Nachfolge« kommt zu dem Ergebnis, dass der Stellvertretungsbegriff ganz im Horizont der Rechtfertigung erscheint. Ist es das zentrale Anliegen der »Nachfolge«, eine »billige Gnade« als Untätigkeit im zwischenmenschlichen Bereich, Leidensscheu und mangelnde Hilfsbereitschaft angesichts der Herausforderungen der Kirche im Nationalsozialismus zu entlarven, so erscheint der Stellvertretungsbegriff konsequent im Zusammenhang der »teuren Gnade«. Bonhoeffer interpretiert das »Kreuz Jesu als stellvertretendes Tragen der Welt durch Leiden« (412). Dieser Gedankenwelt stehen auch die Ethikmanuskripte Bonhoeffers (1940–43) nahe mit einer erkennbaren Akzentuierung des Natürlichen. »Hinter der Respektierung des Natürlichen ist Bonhoeffers Bemühen spürbar, die konkrete geschichtliche Situation ernst zu nehmen. Sie wird wahrgenommen als dramatische Konstellation, in der auch solche Menschen mitagieren, die nach deren eigenem Verständnis nicht an Christus glauben. Ihre Art, ethische und politische Verantwortung zu übernehmen, lässt Bonhoeffer nicht unbeeindruckt.« (484 f.) Deutlich ist, dass das Moment der Stellvertretung den ekklesiologischen Bezugsrahmen (»Christus als Gemeinde existierend«) erweitert. Die Ausübung von Verantwortung wird grundsätzlich in den christologischen Kontext des Stellvertretungsvollzuges ge­rückt. »Christus ist ›mein Leben außerhalb meiner selbst‹. Er stellt den Menschen unter seinen Anspruch und fordert von ihm Lebenseinsatz.« (485)
In der Fall-Linie der Ethik interpretiert D. nun auch die Bezüge zur Stellvertretung in den Gefangenschaftsbriefen, postum unter dem Titel »Widerstand und Ergebung« von Bonhoeffers Freund und Biographen Eberhard Bethge ediert. In Fortführung des Ethikmanuskripts ›Die Geschichte und das Gute‹ »erstreckt sich die Stellvertretung Christi in den Gefängnisbriefen auf alle Menschen« (506). Dabei findet Stellvertretung ihre biblische Fokussierung in Jes 53 und Joh 1,29. »Christus ist der in Jesaja 53 genannte Gottesknecht; und er ist das Lamm Gottes, das die Welt trägt.« (489) Im Einzelnen arbeitet D. als »Stellvertretungsmosaikstücke« in der Gefängnistheologie heraus: »1. Christus überwindet das Leiden; 2. er erlöst den Menschen; 3. er erleidet den Kreuzestod angesichts des göttlichen Zorns; 4. er überwindet den Tod; 5. er ermöglicht durch seine Menschheit jedem Menschen, für andere dazusein und darin auch Vorbild zu sein; 6. er stiftet Sinn.« (487) D. hebt in der Ausführung seiner Beobachtungen zu Recht hervor, dass in besonderer Weise »der auferstandene Jesus als Stellvertreter verstanden wird« (491) – man könnte auch von einer »Christologie von oben« sprechen, die sich von der »Christologievorlesung« über die »Ethik« bis »Widerstand und Ergebung« durchhält und dabei zunehmend im Erfahrungshorizont des Bedrückenden und Leidvollen im Nazi-Deutschland kontextualisiert wird, ja »unten« anzukommen hat in der Erfahrung von »Schwäche«, ja »Abwesenheit Gottes«. (Theologisch nicht unproblematisch er­folgt in der Interpretation D.s [503 ff.] keine Differenzierung zwischen »Ab­wesenheit« und »Verborgenheit« Gottes bei Bonhoeffer, der selbst vor allem von der »Ohnmacht« Gottes spricht.)
D. setzt sich im Anschluss differenziert mit Bonhoeffers Vorstellung vom »Leiden Gottes« auseinander (510–545). Weiterführend ist neben vielen Einzelaspekten, wie dem Hinweis auf die Abwehr jeden modalistisch begründeten Patripassianismus’ im Rückblick auf Bonhoeffers Christologievorlesung (mit dem offenen Problem, wie das Kreuzesleiden Jesu mit einem trinitarisch geprägten Leiden Gottes zusammen zu sehen ist), das dezidierte Herausarbeiten des »Konnex zwischen dem Leiden Gottes und der erfahrenen Gottesferne«. Der Stellvertretungsbegriff greift in der Offenbarungsform »Christi Dasein für andere« über die empirische Kirche hinaus. »Gottes Ansichhalten und Gottes Verzicht auf geschichtsimmanentes ›Zurechtbiegen‹ geschichtlicher Vorgänge« versteht D. bei Bonhoeffer »als ein ›Leiden‹, – gleich, ob es sich auf den am Kreuz leidenden und sterbenden Jesus bzw. ob es sich auf den Menschen im Bombenhagel oder im Konzentrationslager bezieht« (512). Insofern der Zielpunkt von Christi Leiden die Erlösung der Welt ist, ist das Leiden Christi »einerseits exklusives Heilsgeschehen. Andererseits ist es ein konklusives Heilsgeschehen, das den Christen in das Mitleiden hineinnimmt, aber auch in den Horizont der Auferstehung« (488). Stellvertretung Christi ist bei Bonhoeffer exklusiv und konklusiv. »Wen vertritt Christus? Der in der Stellvertretung Vertretene ist der Mensch schlechthin. Und auch der Adressat, der die Stellvertretung Christi bei sich ankommen lassen soll und aus ihr leben soll, ist der Mensch.« (523)
Neben forschungsgeschichtlichen Anfragen (die wichtigen Un­tersuchungen des Berliner Systematikers Christof Gestrich zur Stellvertretung finden keine Erwähnung und die Analyse der Gefängnistheologie Bonhoeffers ruht wesentlich auf dem Forschungsstand der 1970er Jahre) bleibt würdigend hervorzuheben, dass es sich um einen zentralen Beitrag zu einem Aspekt von Bonhoeffers Theologie handelt, der vor allem in Erinnerung ruft, dass dieser ›Christus als Mitte‹ den ganzen Menschen betrifft, so dass die erfahrene Wirklichkeit des Menschen in den Glauben integriert werden kann: »der Mensch ist dann befähigt und beauftragt, das Leben mit all seinen Facetten, nicht nur mit den defizitären, zu gestalten« (554).