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Ausgabe:

Juni/2008

Spalte:

661–663

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Verlaguet, Waltraud

Titel/Untertitel:

L’»éloignance«. La théologie de Mechthild de Magdebourg (XIIIe siècle).

Verlag:

Bern-Berlin-Bruxelles-Frankfurt a. M.-New York-Oxford-Wien: Lang 2005. XVIII, 427 S. m. Abb. u. Tab. 8°. Kart. EUR 66,20. ISBN 3-03910-616-3.

Rezensent:

Barbara Hahn-Jooß

Waltraud Verlaguet, die sich bereits durch die französische Übersetzung des »Fließenden Lichts der Gottheit« in der Mechthild-Forschung einen Namen gemacht hat, legt mit diesem Werk eine überarbeitete Fassung ihrer Dissertation zur »éloignance« bei Mechthild von Magdeburg vor. Mit dieser Wortschöpfung übersetzt und interpretiert V. zusammenfassend Begriffe, mit denen sowohl größte leidende Distanz als auch größte liebende Nähe zu Gott ausgedrückt werden. Das Buch versucht, durch eine Verbindung der Methoden aus Literatur, Geschichte und Theologie diesem paradoxen Phänomen auf die Spur zu kommen und die »éloignance­« umfassend in Mechthilds Leben und Schreiben zu verorten.
Im ersten Teil stellt V. das historische Umfeld Mechthilds und ihres Schreibens dar. Es wird deutlich, dass Mechthild Teil einer das ganze deutsche Reich umfassenden religiösen Bewegung ist. Sie ist dabei in besonderer Weise geprägt durch Magdeburg als mittelalterliches Kommunikations- und Wirtschaftszentrum: Hier be­gegnen sich das sich nach Norden ausbreitende römische Denken in kirchlichen, rechtlichen und kulturellen Belangen, die Ausbreitung des wirtschaftlichen Aufschwungs aus dem Westen in die neu erschlossenen Gebiete im Osten und das bis dato im Norden prägende feudale System. V. hebt dabei besonders hervor, wie Mecht­hild durch ihren Beitritt zu den Beginen zugleich den Verlust eines (zuvor) gesicherten sozialen Status annimmt (73.85), was sich in ihrem Denken schließlich als Annahme auch des Verlusts der Gottesbeziehung widerspiegelt. Es gelingt V., die multiplen Ab­hän­gig­keiten und Vernetzungen jener Zeit an jenem Ort plastisch nachzuzeichnen. Etwas holzschnittartig und eher spekulativ erscheint eine »Nord-Süd-Dichotomie« allerdings, wo höchst differente Phänomene wie z. B. die Veränderungen im Frauen-, Menschen- bzw. Gottesbild ebenfalls im Wesentlichen als Resultat des Eindringens des römischen Denkens in das nordisch-germanische betrachtet werden (»les différences anthropologiques entre un Sud égalitaire et un Nord féodal«, 70).
Der zweite Teil der Arbeit widmet sich einer semantischen Un­tersuchung: Dass nämlich die »gotzfroemde« als Dreh- und Angelpunkt der Theologie Mechthilds zu begreifen ist und erst in der Ferne zu Gott die Nähe zu ihm wirklich erfahren werden kann, muss nun auch begrifflich nachzuweisen sein. V. konzentriert sich für den Ferneaspekt z. B. auf die Begriffe »ellende« und »vroemede«, für das Leiden an diesem Zustand auf »pîne«. Wesentlicher Bestandteil aller Untersuchungen ist die formale Analyse, die Verteilung der Begriffe auf die verschiedenen Bücher (dargestellt anhand von Balkendiagrammen) sowie ihre Wiedergabe in der lateinischen Übersetzung. V. kann dabei auf Voruntersuchungen z. B. von Ruth Erat-Stierli und Margot Schmidt zurückgreifen. Dabei wird leider nicht immer deutlich, wo genau sie diese Arbeiten heranzieht und wo sie nur generell darauf verweist. Für den Leser sehr hilfreich ist allerdings die graphisch ansprechend gestaltete Synopse aller Zitate in Deutsch, Latein und Französisch im Anhang, ergänzt durch erläuternde Bemerkungen. V. arbeitet in diesem Teil aus der Kleinteiligkeit der Befunde ein vielschichtiges Ergebnis heraus, welches die Ambiguität der »Gottesferne« bei Mechthild als notwendige und schmerzvolle Station auf dem spirituellen Weg und gleichzeitig als Ort größter Gottespräsenz verstehen hilft: »Soutenir la ténèbre est le garant pour l’authenticité de l’amour qui purifie l’âme. Cette expérience douloureuse a une fonction cognitive: elle seule permet de ›connaître‹ Dieu.« (108)
Anhand eines Durchgangs durch das gesamte »Fließende Licht der Gottheit« sucht V. dann im dritten Teil nachzuweisen, dass die Einführung des Ausdrucks »gotz vroemedunge« in einer doppelten »Entfremdungs- bzw. Leidens-Erfahrung« verwurzelt ist: einerseits ihrer Lebensumstände als Begine, die keinen sozialen Schutz genoss und sich doch nach dem Vorbild Jesu in die tiefsten Tiefen der Welt zu begeben hatte, andererseits ihrer spezifischen religiösen Erfahrung der Gottesferne und des Leidens daran. Beide Erfahrungshorizonte versucht V. abzuschreiten. So quellenorientiert sie in ihrem zweiten Teil war, so paraphrasierend gestaltet sie allerdings diesen dritten; ohne Rekurs auf den Originaltext ist er für den Leser wenig ertragreich. Eine überblicksartige Darstellung mit einschlägigen Zitaten hätte die Interpretationsergebnisse sicher gefälliger und strukturierter sichtbar machen können.
Der vierte Teil soll nun den »konzeptuellen theologischen Horizont« Mechthilds erfassen, wobei anhand einer systematisierenden Vorstellung ihrer Denkweise zugleich der Versuch einer Rückführung dieser »Konzepte« auf spezifische Quellen in ihrem theologischen und sozialen Umfeld unternommen wird. Die Schwierigkeit, diese präzise zu erfassen, wird allerdings sofort benannt. Ein gesonderter Paragraph befasst sich mit dem »éloignement«, also der Trennung von Gott; hier zieht V. als Vergleichsautoren Bernhard von Clairvaux, Wilhelm von Saint-Thierry sowie Richard von Sankt-Viktor hinzu – zu allen Autoren gibt es spezifische Parallelen und originelle Abweichungen bei Mechthild, was wiederum auf den vermittelten Charakter (vgl. 219) ihrer theologischen Kenntnisse verweist. Das zweite Kapitel beleuchtet Mechthilds auch konzeptuelle Bezüge insbesondere zu Wichmann von Arnstein. Dabei gelangt V. zu einem vorsichtigeren Urteil als z. B. Kurt Ruh, der glaubte, Wichmann als Mechthilds Beichtvater identifizieren zu können. Nach V. habe Wichmann selbst seine Traktate (die ebenfalls untersucht werden) in Reaktion auf Mechthild geschrieben, theologisch weniger kühn, dafür stringenter.
Ein »essai d’interprétation« zum Thema der »éloignance« schließt das Buch ab. V. führt darin die Beobachtungen ihrer ge­samten Arbeit zusammen. So stellt sie z. B. die »Frau« und schreibende Begine Mechthild dar im Zusammenhang einer zunehmenden Marginalisierung beider Gruppen, bedingt durch den Einfluss der römischen Kirche und deren Ausdifferenzierung einer be­stimmten Anthropologie, und sie zeichnet gleichzeitig Mechthilds (theologische) Gegenbewegung gegen diese Entwicklung nach anhand von Mechthilds Betonung der Imitatio Christi als »prendre au sérieux la kénose divine [qui] constitue la dignité particulière des petits« (295). Nur in der Inkarnation und Passion Christi nämlich kann die Seele ihren Geliebten finden, und so wird schließlich sogar der Verlassenheitsschrei Jesu am Kreuz zum Ausweis von Gottes größter Nähe. Es liegt also eine Doppelbewegung vor: Gott entäußert sich seiner selbst, um sich dem Menschen wieder zu vereinen, was wiederum nur durch eine Selbstentäußerung des Menschen möglich wird. Ergebnis ist eine »satisfaction morale« aus der Konformität mit dem Ideal des leidenden Christus. Die »éloignance« ist dann Bezeichnung einer definitiven Abwesenheit Gottes, die sich nicht mehr um eine Rückkehr in einen Jubelzustand wie zu Beginn von Mechthilds Schreiben besorgt, sondern zwischen Wahrnehmung der Abwesenheit Gottes und Gleichwerdung mit dem leidenden Christus hin- und herbewegt. Hieraus entsteht der dritte Teil und Schritt in Mechthilds Entwicklung: »sérénité et récupération«. Am Ende ihres Schreibens und Lebens steht sie nämlich an der Schwelle zu einer Eschatologie, von der sie sich die Versöhnung der Pole erwartet, an deren Unversöhntheit sie im Leben litt.
V.s Buch liefert insgesamt einen wesentlichen Beitrag zur Mechthild-Forschung, insbesondere durch die Verquickung der Methoden aus Geschichte, Literatur und Theologie. Es ermöglicht einen sehr gründlichen Blick auf die schreibende Begine Mechthild in ihrer Lebensmitte, deren leidvolle Erfahrungen ohne ihr (theologisches) Umfeld (für sie) nicht einzuordnen sind. V. findet dabei einen gelungenen Weg zwischen der Rezeption der umfassenden Literatur zu Mechthild und einem profilierten eigenen Ansatz. Das Konzept der von ihr erfassten »éloignance« wird dem Leser verständlich und konzise dargeboten. Abgesehen von den oben ge­nannten Einschränkungen ist das Buch daher allen Mechthild-Interessierten zu empfehlen.