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Ausgabe:

Juni/2008

Spalte:

655–657

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Reilly, Diane J.

Titel/Untertitel:

The Art of Reform in Eleventh-Century Flanders. Gerard of Cambrai, Richard of Saint-Vanne and the Saint-Vaast Bible.

Verlag:

Leiden-Boston: Brill 2006. XVII, 363 S. u. Anhang m. 46 Tfn. gr.8° = Studies in the History of Christian Traditions, 128. Geb. EUR 125,00. ISBN 978-90-04-15097-3.

Rezensent:

Volker Leppin

Dieses Buch, das aus einer Dissertation in Toronto hervorgegangen ist, führt in beeindruckender Weise die Möglichkeiten ikonographischer Analyse vor Augen. Im Mittelpunkt steht eine einzige Handschrift: eine dreibändige Riesenbibel, aufbewahrt als MS 559 (435) in der Bibliothèque municipale in Arras. Von ihrer Analyse aus wird das Panorama einer Diözese im Windschatten der großen Geschichte des 11. Jh.s entfaltet: R. liest die Bebilderung der Bibel als Ausdruck politischer Theorie, wie sie von Gerhard von Cambrai, 1012–1051 Bischof von Arras-Cambrai, in einem Raum entfaltet wurde, der zwischen dem kapetingischen Frankreich auf der einen, dem ottonischen, dann salischen Reich auf der anderen Seite lag.
Hier entstand im Kloster St. Vaast in Arras eine großformatige Bibelhandschrift, deren äußere Herkunft R. in einem ersten Kapitel beschreibt: Sie lässt sich recht genau auf die erste Hälfte des 11.Jh.s, nach den inhaltlichen Deutungen wohl nach dem Beginn der Klosterreform durch Richard von St. Vanne ab 1018, einschränken, also grob auf das zweite Viertel des 11. Jh.s. Ein bis zwei Generationen später wurde sie dann noch einmal überarbeitet.
Im zweiten Kapitel rekonstruiert R. den primären Sitz im Leben dieser Riesenbibel, die Vorbild für andere wurde. Die in mancher Hinsicht der cluniazensischen ähnliche, vor allem aber durch die Unabhängigkeit der reformierten Klöster von jeglichem Verband hiervon unterschiedene Klosterreform durch Richard von St. Vanne­, die auch St. Vaast prägte, brachte auch eine intensivierte Zu­wendung zur Bibel in Gestalt klösterlicher lectio continua mit sich. In einer mit detaillierten kodikologischen Vergleichen arbeitenden Analyse entwickelt R., dass gerade dies zu einer für moderne Leser irritierenden Gestalt der Bibel geführt habe: In ihr fehlen ausgerechnet Psalter und Evangelien. Hintergrund ist nach R., dass die Lesung sowohl im Chor als auch im Refektorium vorgenommen wurde. So musste das Buch hin- und hergetragen werden – bei einer so großformatigen Bibel (je nach Band 48 bis 50 mal 33,5 bis 35 cm Größe und 149 bis 181 Folios) gewiss kein leichtes Unterfangen. Da konnte es, so R., dem Gebrauch entgegenkommen, wenn auf Psalter und Evangelien, von denen vermutlich wie in anderen Fällen nachweisbar schon ältere Exemplare vorhanden waren, in dem neuen Buch verzichtet wurde. Freilich ist dieses Argument gerade angesichts der Tatsache, dass die Bibel ja ohnehin in mehreren Bänden vorliegt, nur begrenzt überzeugend – vermutlich reicht der tatsächlich plausible Hinweis, dass man auf das Abschreiben schon vorhandener Texte verzichtet hat. Dieser Einwand allerdings beeinträchtigt in keiner Weise die Leistung von R., in dichter Ge­dankenführung Klosterordnung, Klosterleben und kodikologischen Befund zusammengeführt zu haben. Gewissermaßen ne­ben­her erfährt man wichtige Details der klösterlichen Alltagswelt in einem flandrischen Reformkloster.
Dessen Spezifikum liegt nun in der engen Verbindung des Reformers Richard mit Bischof Gerhard, der schon in mehreren Untersuchungen Aufmerksamkeit als bedeutsame Gestalt des 11. Jh.s gefunden hat. Im dritten Kapitel bezieht R. die Illustrationen der Bibel auf Gerhards kirchenpolitisches Programm. Insbesondere die Darstellung Jeremias in christlich-bischöflichem Gewand und sein unmittelbarer Bezug auf Christus entsprechen der starken Rolle, die Gerhard als angemessen für den Bischof ansieht. Und eine Doppeldarstellung von Esra und Artaxerxes bezieht auch dessen Verhältnis zur weltlichen Sphäre ein: Artaxerxes erscheint hier als Schutz- und Unterstützungsgestalt für den ebenfalls bischöflich dargestellten Propheten, beide rangieren auf derselben Ebene, der Vermehrung von Gottes Wort zugeordnet.
Die Einbeziehung der politischen Sphäre weckt angesichts der beschriebenen Zwischenlage des Bistums Cambrai-Arras besonderes Interesse, zumal die im vierten Kapitel erhobene Darstellung des weltlichen Herrschers als Königspriester auffällt, ist sie doch zu dieser Zeit im französischen Kontext unvertraut, im ottonisch-salischen Bereich hingegen Teil der herrscherlichen Propaganda. Überzeugend legt R. dar, dass es nun verkürzend wäre, hierin einfach eine Option für das eine der beiden Nachbarreiche zu sehen: Gerhard beziehungsweise den Künstlern des Skriptoriums von St. Vaast geht es allgemein um das Ideal von Herrschaft, wie es für einen Bischof wünschenswert ist, der Schutz gegenüber niederen Adeligen braucht: Hier wird an die Vorstellung eines starken, sich seiner Aufgaben als eines christlichen Herrschers bewussten Königs appelliert.
Dass in einer solchen Herrschaftskonstellation auch der Königin eine besondere Rolle zukommt, macht das fünfte Kapitel deutlich, das – etwa in Illustrationen zu Esther – die Königin vor allem in ihrer Funktion als Fürbitterin und damit letztlich wohl als potentielle Ansprechpartnerin für die Belange des Klerus’ anspricht.
In R.s Buch verbindet sich genaue Detailanalyse mit einem Blick auf die großen Zusammenhänge. Es eröffnet tiefe Einblicke in die Kultur- und Religionsgeschichte Europas am Vorabend des Inves­titurstreits und in die eigentümliche mediale Kommunikation im 11. Jh.