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Ausgabe:

Juni/2008

Spalte:

653–655

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Janke, Petra

Titel/Untertitel:

Ein heilbringender Schatz. Reliquienverehrung am Halberstädter Dom im Mittelalter. Geschichte, Kult und Kunst.

Verlag:

München-Berlin: Deutscher Kunstverlag 2006. 323 S. m. zahlr. Abb. gr.8°. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-422-06639-7.

Rezensent:

Jörg Ulrich

Petra Janke, von 1997 bis 2003 als Kustodin des Halberstädter Domschatzes tätig, legt mit dieser Publikation ein eindrucksvolles Ergebnis ihrer langjährigen Arbeit vor. Der Band richtet sich primär an einen etwas breiteren Leserkreis und will mit Hilfe des Themas Reliquienverehrung Neugier auf das immer noch wenig bekannte Halberstadt und seinen Dom entfachen. Das Buch verspricht aber auch für Fachwissenschaftler der an der Erforschung mittelalterlicher Sakralbauten beteiligten Disziplinen neue Er­kenntnisse und vor allem die Präsentation bislang unpublizierten Materials.
Die Darstellung besteht aus einer historischen Untersuchung und einem Katalog, wobei die historische Untersuchung mit einer kurz gefassten Betrachtung zum Reliquienkult in der Geschichte der Kirche insgesamt einsetzt (13–24). Vor allem die einleitende Definition des Begriffes »Reliquie« als »Leichnam eines bzw. einer Heiligen wie auch eine(r ) Partikel desselben oder eine(m) Gegenstand, der auf irgendeine Weise zu dem bzw. der Heiligen oder auch Christus selbst gehört hatte«, erscheint hilfreich. Ergänzend wäre darauf hinzuweisen gewesen, dass die Reliquie natürlich erst dadurch zur Reliquie in religiösem Sinne wird, dass man ihr eine heilsame Gegenwarts- und Zukunftswirkung zuschreibt. Der kurze Abriss zur Reliquienverehrung im Allgemeinen folgt den Darstellungen von Angenendt und anderen, was für eine Einleitungs- und Überblickspassage sinnvoll ist. Ein wenig wundert man sich darüber, dass unter der Rubrik »Kritik am Reliquienkult« kein Wort zu den Ereignissen des 16. Jh.s zu finden ist.
Ausführlich wird sodann die Geschichte der Reliquienverehrung am Halberstädter Dom erörtert (25–123), einsetzend mit der Bistumsgründung in karolingischer Zeit und dem immensen Aufstieg des östlichen Sachsens seit dem 10. Jh. Die Darstellung ist orientiert an den baulichen Befunden der nachgewiesenen Sakralbauten, der 859 geweihten karolingischen Kathedrale St. Stephanus, dem 992 konsekrierten ottonischen Dom und der erst im 15. Jh. fertiggestellten, 1491 geweihten gotischen Kathedrale; diese Befunde erlauben in Verbindung mit den erhaltenen schriftlichen Zeugnissen und den vorfindlichen materialen Quellen insgesamt eine recht genaue Rekonstruktion, die die Vfn. mit fachlicher Akribie ausführt. Sie legt dar, wie die Reliquienverehrung in Halberstadt mit der frühesten Geschichte des Bistums einsetzt, im 10. Jh. zusätzlich durch einen Reliquienimport aus Rom unterstützt, der durch den persönlichen Einsatz Bischof Bernhards zu Stande kam (35 f.). Ein Erwerb von Reliquien des Dompatrons Stephanus aus Metz erfolgte unter Bischof Hildeward im Jahre 980 (45). Das be­kannte Phänomen der Reliquienimporte kommt (zudem in seiner politischen Dimension) auch für die Folgezeit gut in den Blick. Insbesondere der Vierte Kreuzzug bedeutete für Halberstadt (wie auch sonst für Westeuropa) eine plötzliche Vervielfachung des bestehenden Reliquienbestandes durch die Akquisition der in Byzanz ge­raubten oder anders erworbenen Schätze (64 f.), zumal Bischof Konrad von Halberstadt an diesem Kreuzzug unmittelbar beteiligt war. Die immense Vielfalt der Reliquien (Reliquien von Christus, der Gottesmutter, Johannes dem Täufer, Aposteln, Märtyrern, Bischöfen, weiblichen Heiligen usw.) tritt eindrucksvoll vor Augen. Der abermalige Zuwachs an Reliquien in spätmittelalterlicher Zeit muss auch in Halberstadt zu jener regelrechten Reliquienschwemme (127) geführt haben, wie wir sie vom Vorabend der (in Halberstadt ja relativ spät eingeführten) Reformation kennen. Insofern wirkten sich die Umbrüche der Frühen Neuzeit gerade auf das Reliquienwesen erheblich aus. Für das 18. und 19. Jh. nehmen sich die Zeugnisse der Reliquienverehrung entsprechend spärlich aus. An ihre Stelle treten erste Versuche einer inventarmäßigen Erfassung (120 f.), welcher gezielte denkmalpflegerische Bestrebungen folgten, die in der Eröffnung des Halberstädter Dommuseums im Jahre 1936 ihren vorläufigen Höhepunkt erreichten. Ein kurzer Ausblick auf die gegenwärtige Situation (123) beschließt die Untersuchung, die sich als gut lesbare kurze Geschichte des Halberstädter Doms unter dem zentralen Aspekt seiner Reliquien entpuppt.
Der sich an die historische Untersuchung anschließende Katalog (127–265) beschreibt in bisher nicht gekannter Vollständigkeit die in Halberstadt befindlichen Reliquienbehältnisse, die sich nicht nur durch ihre (angesichts der Reliquieninflation notwendig gewordene) große Anzahl, sondern auch durch hohe künstlerische Qualität auszeichnen. Es handelt sich um Kostbarkeiten wie die drei Demetriosreliquiare (137–143, Abb. 36–39), um ein (außerordentlich seltenes) Reliquientuch (147–150, Tafel 4 164), um die Armreliqiuare von Stephanus, Nikolaus, Jakobus und anderen Heiligen, um einige Reliquienkreuze und einen sehr qualitätvollen gläsernen Hedwigsbecher. Bei Letzterem handelt es sich um ein besonderes Exponat, weil die Hedwigsbecher die einzige in sich geschlossene Werkgruppe von Gläsern zwischen Spätantike und Renaissance darstellen und nur in sehr geringer Zahl erhalten (und in ihrer Herkunft noch ungeklärt) sind. Weitere Kunstwerke wie Straußeneireliquiare (211–216, Abb. 53), Patenenreliquiare (216–219, Abb. 54 f.) und Truhen ergänzen die Kollektion. Schädelreliquien byzantinischer Provenienz (die des Jakobus des Jüngeren und eine weitere, nicht sicher zuzuweisende; 220–224, Abb. 57 f.) und eine mit einer Fassung aus vergoldetem Silber versehene Steinreliquie (224 f., Abb. 59), die einen Stein enthält, der angeblich bei der Steinigung des Protomärtyrers Stephanus verwendet wurde, geben einen guten Eindruck vom hohen Stellenwert der Reliquien für die konkre­te Anschauung der Gläubigen. Der sorgfältig gearbeitete Katalog publiziert nicht nur all diese Kunstwerke für die wissenschaftliche Diskussion, sondern bietet darüber hinaus eine Konkretisierung des in der historischen Untersuchung Ausgeführten. So fügen sich beide, Untersuchung und Katalog, zu einem inhaltlich recht geschlossenen Ganzen zusammen.
Der Band wird durch verschiedene Indizes abgerundet. Ein we­nig bedauerlich ist, dass das kurzgefasste Verzeichnis der Halberstädter Heiligen (301–308) sich jeglichen Hinweises auf die Quellen, vor allem aber jeglichen historisch-kritischen Zugriffs auf dieselben enthält und stattdessen nur die hagiographische Überlieferung repetiert. Aus Perspektive derjenigen, die einst und jetzt Reliquien verehrten und sich von dieser Verehrung faszinieren ließen, mögen quellenkritische Hinweise unwichtig sein. Für den heutigen Benutzer, gerade für den Nichtfachmann, wären sie eine hilfreiche Ergänzung gewesen. Das angehängte Glossar (309–311) erläutert die wichtigsten kunst- und kirchengeschichtlichen Fachbegriffe in einer der Intention des Buches angemessenen Weise.
Insgesamt handelt es sich um einen sehr zu empfehlenden Band, der mit viel Wissenswertem über Reliquien und Reliquienverehrung einen hermeneutischen Schlüssel für das Gesamtkunstwerk des Halberstädter Doms bereitstellt. Das Buch weckt Interesse, die Kunstgegenstände in Halberstadt einmal selbst in Augenschein zu nehmen und der Stadt und ihrem Dom einen Besuch abzustatten, ganz wie die Vfn. es einleitend (9) als eines der Ziele ihrer Arbeit avisiert hat.