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Ausgabe:

Juni/2008

Spalte:

651–653

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Flasch, Kurt

Titel/Untertitel:

Dietrich von Freiberg. Philosophie, Theologie, Naturforschung um 1300.

Verlag:

Frankfurt a. M.: Klostermann 2007. 717 S. 8°. Lw. EUR 119,00. ISBN 978-3-465-03301-1.

Rezensent:

Karl-Hermann Kandler

Es ist erstaunlich, dass Dietrich von Freiberg von F. eine so umfangreiche Monographie gewidmet wird, im Grunde die erste ihrer Art. Das ist natürlich dem Umstand geschuldet, dass Dietrich durch ihn erst wieder bekannt wurde (auch wenn er nie ganz vergessen war) und er die Edition seiner 29 überlieferten Schriften im Corpus Philosophorum Teutonicorum Medii Aevi in vier Bänden veranlasst hat. Sowohl die Edition als auch die Monographie sind vollkommen gerechtfertigt, denn »durch die Schärfe seiner Analysen und die produktive Andersheit seiner Entwürfe gehört er zu den Großen in der Geschichte der Selbstrevision des europäischen Denkens«; durch ihn sind »die Umrisse einer neuen Konzeption des christlichen Selbstverständnisses gezeichnet« worden (9 f.). Das betrifft sowohl seinen Antithomismus als auch seine Bedeutung für das Denken Meister Eckharts.
F. gliedert sein Werk in drei Teile (Dietrichs Welt; Grundriss seiner Philosophie; Ausbau: Ontologie – Theologie – Naturforschung) und bettet seine Naturforschung auf Grund (fast) aller Schriften Dietrichs ein in eine umfassende Berücksichtigung des geistigen Hintergrunds seiner Zeit. Albert der Große, Aristoteles, seine arabischen Kommentatoren, Heinrich von Gent u. a. kommen reichlich zu Wort. »Nie will Dietrich nur Aristoteles kommentieren und die alte Philosophie wiederherstellen; immer entscheidet er bislang ungelöste Fragen« (588). Obwohl das Ordenskapital der Dominikaner es bereits 1279 verbot, Thomas zu kritisieren, hat genau das Dietrich konsequent und mit aller Schärfe getan, ohne damit seiner Karriere im Orden zu schaden. Er griff immer wieder die aktuellen Fragen seiner Zeit auf und scheute sich vor keinem Streit. Selbst auf die Verurteilungen von 1277 nahm er keine Rücksicht (99).
In seinen Schriften kommen vor allem Fragen der Ontologie und damit der Erkenntnislehre, philosophische Grundlagen wichtiger theologischer Probleme und die Naturforschung zu Wort. Er hat sich bisher ungelösten Fragen zugewandt, aber kein fertiges Lehrgebäude errichtet.
Dietrich trägt schon in seiner vermutlich ersten Schrift De origine seine neue Philosophie vor: Die geistige Erkenntnis hat das allgemeine und bleibende Seiende zum Gegenstand (131). Doch es geht ihm um mehr: »Unser Intellekt konstituiert ... primären Seinsbestand« (134), er erkennt wie Gott, er ist Urbild alles Seienden als Seiender. In De animatione caeli trägt Dietrich »erstmals sein Konzept von einem wesenhaft tätigen Intellekt« vor (201). Dieses Thema beschäftigt ihn immer wieder. Dabei betont er, dass wir »rationabiliter« über die Konstitution des Universums mutmaßen. Was er über den Intellekt geschrieben hat, »gehört zum Charakteristischsten der mittelalterlichen Philosophie und prägt sein Denken insgesamt« (327).
Diese Schrift gehört zur Trilogie »Über drei schwierige Fragen«. In ihr setzt sich Dietrich vor allem mit den Ansichten der Thomisten auseinander. Zu ihr gehört auch seine verbreitetste Schrift De visione beatifica. Er ist überzeugt: »Eine Theorie, die von der visio beatifica spricht, aber den tätigen Intellekt funktionslos macht, ist unsinnig«, vielmehr erkennt er geistig. Doch »über die tatsächliche visio Gottes traut er sich nur ungewisse Mutmaßungen zu«. Für Dietrich liegt die unmittelbare Gottesverbindung in der Natur des tätigen Intellekts (215.224). In dieser Schrift führt er den Begriff »ens conceptionale« ein, was etwa für »Bewusstsein« steht. Damit geht er weit über Thomas hinaus. Scharf im Ton ist seine Auseinandersetzung mit Thomas vor allem in De accidentibus. Obwohl die Transsubstantiationslehre kirchenamtlich entschieden war – anders als bei den beiden anderen schwierigen Fragen –, hat er die Hilfskonstruktion von Thomas zerstört und wirft ihm Zweigleisigkeit vor. Einerseits sei es unmöglich, dass eine Eigenschaft ohne Träger existiere, dann aber solle eine übernatürliche Kraft dies bewirken können (271). Wenn Dietrich auch, worauf F. nicht hinweist, die Realpräsenz des Leibes und Blutes Christi im Abendmahl (De substantiis spiritualibus et corporibus futurae resurrectionis, c. 32, n. 5; c. 37, n. 7) bejaht, so kann diese nicht philosophisch durch die Ablösung der Akzidentien von der Substanz erklärt werden.
In De visione beatifica und in De accidentibus behandelt Dietrich schon theologische Themen, begründet sie aber eben philosophisch. Fünf Traktate kann man eindeutig der Theologie zuordnen. In dem Fragment De subiecto theologiae unterscheidet er deutlich die christliche von der philosophischen Theologie; sie leitet auf das jenseitige Leben hin. So sind es vor allem eschatologische Themen, die ihn beschäftigen. Er will dabei, was die Heilige Schrift sagt, »secundum rationem« ableiten, geht dabei aber von der biblisch bezeugten allgemeinen Auferstehung der Toten aus. Ihn beschäftigen nicht nur ethische Fragestellungen und diese nur in ihrer Jenseitsbedeutung als Lohn oder Strafe (gegen 509). Es fällt auf, dass F. De dotibus corporum gloriosorum gar nicht, De substantiis spiritualibus et corporibus futurae resurrectionis kaum behandelt. Sie passen wohl nicht in sein Schema. Scharf setzt er sich mit der Auffassung des Rezensenten auseinander, die theologischen Schriften seien »ziemlich blaß, wenig innovativ« (512 f.572). Zugegebenermaßen ist dies ungeschützt formuliert. Doch bleibt, dass Dietrich in seinen theologischen Aussagen nach deren inneren Möglichkeiten auf Grund metaphysischer und naturphilosophischer Überlegungen fragt. Er will die biblische Offenbarung mit der philosophischen Gedankenführung in Einklang bringen. Aber das gelingt ihm nicht so recht. Das hat der Rezensent in mehreren Aufsätzen begründet.
Zuletzt wird Dietrichs Naturforschung gewürdigt. Berühmt ist seine bis heute gültige Regenbogentheorie. »Von Theologie ist hier kein Wort; die Rolle des Regenbogens als Zeichen der Aussöhnung Gottes mit den Menschen wird nicht erwähnt« (657). Auch seine Schriften über das Licht und dessen Ursprung bzw. über die Farben sind wichtig. Sie enthalten keine naturwissenschaftlichen Aussagen im heutigen Sinn, aber sie belegen Dietrichs Naturforschung, die Beobachtungen einschloss.
Dietrich blieb Außenseiter. Seine Schriften sind von großer be­grifflicher Strenge. »Alles, was er anfasste, erwies sich als ungelöstes, ›schwieriges‹ Problem« (693). Er hat den Streit nicht gescheut. Vor allem Thomas von Aquin und die »communiter loquentes« hat er immer im Blick. »Seine detaillierten Untersuchungen zielten auf eine Reform der gesamten theoretischen Philosophie. ... Seine philosophische Nachlese sollte ein sublimeres Konzept von Gott, eine höhere Bewertung der Würde des Menschen und eine entdinglichte intellektuelle Konzeption von Erschaffung und Beseligung gründen« (692). Dietrich war zwar nie ganz vergessen, aber bis in die Gegenwart war nicht viel mehr als seine Regenbogentheorie bekannt. Es ist F.s großes Verdienst, diesen scharfsinnigen Denker aus einem Dornröschenschlaf der Philosophie- und auch Theologiegeschichte herausgeholt zu haben.