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Ausgabe:

Juni/2008

Spalte:

648–650

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Shoemaker, Stephen J.

Titel/Untertitel:

Ancient Traditions of the Virgin Mary’s Dormition and Assumption.

Verlag:

Oxford: University Press 2006. XIV, 460 S. m. Abb. 8° = Oxford Early Christian Studies. Kart. £ 26,00. ISBN 978-0-19-921074-9.

Rezensent:

Peter Gemeinhardt

Kaum eine Lehre der römisch-katholischen Kirche hat ein so schmales biblisches und patristisches Fundament wie die 1950 als Dogma verkündete Himmelfahrt Mariens. In den ersten vier Jahrhunderten der christlichen Kirche scheinen Marias Geschick nach Jesu Kreuzigung und insbesondere ihr Tod schlicht nicht interessiert zu haben. Das ändert sich schlagartig im 5. Jh., als eine ganze Reihe von Texten ans Licht tritt, die in der hier zu besprechenden Arbeit als »Dormition traditions« (in Anlehnung an den Begriff und das Fest der κοίμησις) verhandelt werden.
Sh. versucht, diesen Textkomplex aus dezidiert nicht-dogmatischer Warte in den Blick zu nehmen, d. h. sich nicht unter die Apologeten des Assumptionsdogmas einzureihen, unter die er nicht nur Protagonisten der seinerzeitigen Debatte wie Martin Jugie zählt, sondern auch Simon Mimouni, der in jüngerer Zeit einflussreiche Studien zur antiken Mariologie vorgelegt hat (gesammelt in: Dormition et assumption de Marie: Histoire des traditions anciennes, Paris 1995). Nach Sh. wird hier durch das theologische Interesse der literar- und traditionsgeschichtliche Befund verdeckt (20–24), und zwar vor allem durch das Postulat einer dogmengeschichtlichen Evolution, was den Texten nicht gerecht wird: Tatsächlich haben wir es mit mindestens drei Traditionen zu tun, die zwar miteinander in Verbindung stehen und auch chronologisch, aber eben nicht genetisch angeordnet werden können. Von »Dormition traditions« ist also von vorneherein im Plural zu sprechen, ohne dass ein einzelner Archetyp identifiziert werden könnte. Sh. spricht von einem »polygenetic understanding …, which views the different narrative traditions as products of multiple and distinct origins« (143). Das ist insofern nicht erstaunlich, da es sich ja um kirchliche Gebrauchstexte handelt, d. h. um einen fließenden Traditionsprozess, wie ihn jüngst Achim Budde für die frühen liturgischen Texte plausibel gemacht hat (Die ägyptische Basilius-Anaphora, Münster 2004). Das heißt freilich auch, dass Sh.s Arbeit sich über weite Stre­cken darauf beschränken muss, allzu optimistische Hypothesen über die Verankerung der »Dormition traditions« z. B. in der Jerusalemer Stationsliturgie – die selbst erst im Laufe des 6. Jh.s entstand (140) und spätestens seit der Entdeckung einer zweiten »Kathisma«-Kirche archäologisch mehr Probleme aufwirft als löst (95–97; vgl. 178 f.) – oder in Zirkeln von Chalcedongegnern zu de­struieren; und dieser Widerspruch, der die verwirrende Vielfalt von Dormitio-Texten plastisch vor Augen führt, ist jedenfalls überzeugender als sein tastender Versuch, doch noch ein Stück der Vorgeschichte der Traditionen zu erhaschen.
Sh. unterscheidet im Anschluss an Antoine Wenger und Michel van Esbroeck drei Typen von Texten: a) die »Palm traditions«, in de­nen ein Engel Maria einen Palmzweig vom »Baum des Lebens« überreicht (37) und die griechisch verfasst waren, aber nur fragmentarisch in Syrisch, vollständig in Äthiopisch überliefert sind (33 f.); b) die syrischen »Bethlehem traditions«, die wichtige Elemente der Erzählung hier und nicht in Jerusalem stattfinden lassen (46), und c) die »Coptic traditions«, die sich durch ihren expliziten liturgischen Kontext auszeichnen (57), zumal durch die bis heute in der Koptischen Kirche beibehaltene Datierung der Himmelfahrt Mariens auf den 21. Januar (während in Palästina wohl seit dem 5. Jh. dormitio und assumptio am 15. August begangen wurden, 116). Allein die verschiedenen Sprachen stellen die Erarbeitung einer Überlieferungsgeschichte der »Dormition traditions« vor erhebliche Probleme, und es ist hervorzuheben, mit welcher Souveränität sich Sh. auf diesem höchst komplexen Terrain bewegt. Die englische Übersetzung von sechs Textzeugen machte diesen Traditionskomplex immerhin exemplarisch zu­gänglich (290–414). Zeitlich be­schränkt sich Sh. auf die bis zur islamischen Eroberung des Na­hen Ostens entstandenen Texte, weil danach ein signifikanter Um­schwung durch verstärkte theologische Reflexion und rhetorische Gestaltung der Marientexte eingetreten sei (26). Die untere Grenze liegt durch das Material selbst bei etwa 400, wobei Epiphanius eine bereits im Gang befindliche mariologische Diskussion bezeugt (14); auch sind die frühesten Traditionen wahrscheinlich schon vor der Paulusapokalypse, d. h. vor 400 anzusetzen (46). Das bestärkt Sh.s These, dass die »Dormition traditions« nicht erst als Reaktion auf das Dogma der θεοτόκος von Ephesus bzw. das Christusdogma von Chalcedon entstanden sein können (257), schon gar nicht im Umfeld des »Aphthartodoketen« Julian von Halikarnassos (267). Freilich fällt gerade hier die Position wenig überzeugend aus: »In so far as the early Dormition traditions betray any connection with the Christological controversies of late antiquity, they appear to be aligned primarily with the various efforts to restore the theological unity that was ›lost‹ in the wake of Chalcedon« (270): Maria erweise sich als »point of unity« (ebd.). Doch sind die im Folgenden gebotenen Belege für diese Hypothese eher dürftig, so dass aus dem Fehlen einer spezifischen Terminologie eher auf ein Milieu zu schließen wäre, in dem die hochspezialisierte Debatte des späten 5. und 6. Jh.s keine Rolle spielte: Von einer »dogmatic neutrality« (278) ist ja nur unter der Voraussetzung zu sprechen, dass sich sämtliche Autoren jener Zeit zum christologischen Problemfeld hätten verhalten müssen. Naheliegender erscheint m. E. die Unterstellung eines vor- oder auch nebenchalcedonensischen Ur­sprungs der »Dormition traditions«: Deren genuin marianische Frömmigkeit scheint von den christologischen und mariologischen Debatten des 5. Jh.s weithin unberührt geblieben zu sein.
Woraus speist sich aber die lebendige Marienverehrung, die für Palästina in der Spätantike zu konstatieren ist (114 f.)? Traditionsgeschichtliche und literarische Argumente – z. B. die Rolle Jerusalems als Marias Wohnort in allen Texten, denen erst später Bethlehem als zweiter Schauplatz zur Seite tritt (174) – weisen die »Palm traditions« als älteste Überlieferungsträger aus. Diese unterscheiden sich u. a. darin, dass die Aufnahme von Marias Seele ins Paradies in einigen Texten als ihr »unique privilege« er­scheint (181 – so auch das Assumptionsdogma), in anderen Textzeugen dagegen ein Beispiel für die Seelen der Gerechten, die allesamt schon im Paradies den jüngsten Tag erwarten, darstellt (so die byzantinische Tradition, 183). Diese Varianzbreite verbietet die Rekonstruktion einer einlinigen dogmatischen Entwicklung (204). Eine solche hat man ausgehend von der Engelchristologie der »Dormition traditions« eruiert (B. Bagatti, E. Testa, J. Daniélou), so dass die Texte die Fortexistenz einer judenchristlichen »Church of the Circumcision« bis in die Spätantike erwiesen (214). Doch zu Recht notiert Sh.: »The entire category of ›Jewish-Christianity‹ as these scholars have de­fined it … may never even have exis­ted as such outside the studies of its modern advocates« (229). Ein anderer heterodoxer Kontext für die »Dormition traditions« könnte ein gnostisches Milieu sein (wobei der Begriff »Gnosis« in Auseinandersetzung mit Michael A. Williams diskutiert wird, ohne die neueren Differenzierungen von Ch. Markschies oder Karen L. King zu berücksichtigen [232–238]). Sh. weist nach, dass auch in gnostischen Zusammenhängen von einer leiblichen Auferstehung (wie bei Maria) die Rede ist (246), und lokalisiert die »Palm narratives … within a milieu somewhere outside proto-orthodox Christianity«, d. h. im 3. oder 4. Jh. – »if not even earlier« (254); die Schlussbemerkung spekuliert gar mit einer Entstehung »perhaps even as early as the second century« (285). Vielleicht muss man diese Texte nicht unbedingt »among the other apocrypha of early Christianity« rechnen (255), sollte sie aber als wichtige Zeugen der Marienverehrung in der Spätantike jenseits des Assumptionsdogmas betrachten. Ob man deshalb Hans von Campenhausens Beobachtung der dogmatischen Irrelevanz von Gestalt und Geschick Marias in der frühen Christenheit als antikatholisch motivierten Irrweg der Forschung abtun kann (287), dürfte noch zu diskutieren sein. Auch hat Hans Förster im Zusammenhang der Edition eines koptischen Dormitio-Fragments die These formuliert, »dass die gesamte Transitus-Mariae-Literatur ihre Wurzeln in der apokalyptischen Literatur des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts hat« (GCS NF 14, Berlin 2006, 217 – unter positiver Aufnahme von Sh.s Kritik an Mimouni, a. a. O., 81). Die Akten über die »Dormition traditions« dürften also noch keinesfalls geschlossen sein. Sie in anregender Weise (wieder) geöffnet zu haben, ist aber zweifellos ein wichtiges Verdienst von Sh.s gelehrter und pointierter Studie.