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Ausgabe:

Juni/2008

Spalte:

636–638

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Kierspel, Lars

Titel/Untertitel:

The Jews and the World in the Fourth Gospel. Parallelism, Function, and Context.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2006. XII, 283 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 220. Kart. EUR 54,00. ISBN 978-3-16-149069-9.

Rezensent:

Jutta Leonhardt-Balzer

Die Studie ist die erweiterte Version einer Dissertation am South­ern Baptist Theological Seminary, betreut von A. Seifrid. Sie un­tersucht das Verhältnis zwischen der Darstellung ›der Juden‹ und ›der Welt‹ im Johannesevangelium. K. beginnt seine Untersuchung mit der Frage – besonders brennend seit dem Holocaust –, ob das Johannesevangelium mit der Absicht geschrieben wurde, Judenhass zu lehren (12). Gegen diese Unterstellung betont er, dass die Juden und die Welt im vierten Evangelium durchgehend parallel gesetzt werden, so dass es nicht die Juden allein sind, sondern dass es die ganze Menschheit ist, die im Gegensatz zu Jesus und seinen Jüngern gesehen wird. Dieser Zusammenhang werde jedoch in der Forschung zu den Juden im johanneischen Kontext nicht wahrgenommen.
Um diese These zu belegen, untersucht K. zunächst verschiedene Ansätze zur Deutung der Juden im Johannesevangelium, an­hand derer der eigene methodische Ansatz entwickelt wird (Kapitel 1). Darauf wird der Begriff »die Juden« im Evangelium auf seine Bedeutungsbreite hin untersucht (Kapitel 2). Das Ergebnis dieser Untersuchung belegt, dass »die Juden« im Johannesevangelium nicht nur in negativer, sondern auch in neutraler und positiver Bedeutung erscheinen. Im dritten Kapitel vergleicht K. das Vorkommen der beiden Begriffe Ioudaioi und kosmos in Hinsicht auf ihre Rolle in der Komposition, der narrativen Abfolge und der Gesamtkonzeption des Johannesevangeliums. Er kommt zu dem Schluss, dass beide Begriffe parallel gebraucht werden. So findet er im Prolog (1,1–18) und in den Abschiedsreden (13–17) den Gebrauch des Begriffes »Welt«, während »die Juden« im ›Buch der Zeichen‹ (1,19–12) und in der Passionsgeschichte (18–19) auftreten. Auf die Frage nach der Funktion dieses Parallelismus innerhalb der Makro- und Mikrostruktur des Evangeliums kommt er zu dem Ergebnis, dass der Begriff »die Juden« meist in den narrativen Passagen vorkommt, während »die Welt« in den wörtlichen Reden auftritt (Kapitel 4). Ein fünftes Kapitel wägt drei verschiedene Ansätze ab, wie das Verhältnis der Juden und der Welt gedeutet werden kann (z. B. Welt als Symbol für die Juden oder umgekehrt), und bietet Schlussfolgerungen zu dem historischen Kontext, der aus der bisherigen Analyse folgt: Demnach macht der Gebrauch des Begriffes »die Welt« in wichtigen Passagen wie dem Prolog und den Ab­schiedsreden aus dem Mund Jesu ihn zu einem hermeneutischen Schlüssel für das ganze Evangelium. Er bezeichnet die gesamte Menschheit als Ziel der Mission und ist nicht nur ein Symbol für die Juden. Dementsprechend sieht K. den »Sitz im Leben« des Evangeliums nicht in einem Konflikt mit der Synagoge, sondern in der Polemik gegen den Kaiserkult und das gesamte polytheistische System der Antike. Dabei stellt er die Behauptung auf, dass die Bezüge zum Judentum im Johannesevangelium nicht mehr als Erinnerungen seien: »If Gentiles can become ›Jews‹ by join­ing the religious community …, then Jews can become non-Jews by exiting the religious community« (216). Ein letztes Kapitel fasst die Ergebnisse zusammen und kommt zu dem Schluss, dass es nicht die Darstellung der Juden ist, die den Stolperstein des vierten Evangeliums ausmacht, sondern die aller nichtchristlichen Religionen, da der Dualismus des Johannesevangeliums nicht einer der Rasse, sondern der Religion ist (219).
K.s Hauptthese der Verbindung »der Juden« im Johannesevangelium mit »der Welt« ist überzeugend argumentiert und sorgfältig am Text belegt. Die Ausgangsfrage der Studie, ob das Johannesevangelium an sich judenfeindlich ist oder nur so interpretiert wurde, ist berechtigt. K. setzt aber nicht erst bei dieser Frage ein, sondern beginnt seine Studie auf fast einer ganzen Seite mit einem Verweis auf die »culture of death« des 20. Jh.s und den »Genocide Research«. Dabei listet er Massenmorde des 20. Jh.s (z. B. Armenien, Jugoslawien, UdSSR, China) und schließlich die Abtreibung ungeborener Kinder parallel auf (1, Anm. 1). Entweder hat dieser Einsatz nichts mit der eigentlichen Studie zu tun, oder die Schlussfolgerung der Studie, dass das Problem des Johannesevangeliums nichts mit Antijudaismus, sondern mit der Ablehnung anderer Religionen zu tun hat (219), hätte diesen Zusammenhang wieder aufnehmen müssen, da sich der Zusammenhang zwischen der Ablehnung einer Gruppierung in einem Text und der Gewalt gegen diese Gruppierung dann nicht nur auf die Juden, sondern auf jede Art von Gewalt erstreckt.
Bei aller Sorgfalt in der Beobachtung des Verhältnisses zwischen den beiden Hauptbegriffen treten einige Ungenauigkeiten im Ge­brauch der Sekundärliteratur auf, so sollte z. B. die »New Perspec­tive« zu Paulus selbst in einer kurzen Andeutung nicht nur anhand einer sekundären Studie belegt werden (3, Anm. 11). Auch kann man Martin Hengels Arbeiten zur Hellenisierung Palästinas nicht zum Beweis der These eines »Gentile Galilee« hinzuziehen, da es in Hengels Arbeit gerade um den Einfluss der hellenistischen Kultur auf das Judentum in ganz Palästina und die Verschmelzung der beiden geht (67). Auch die Nähe zwischen Weisheitstraditionen und Gnosis (86), wie auch die gnostische Deutung des Kosmosbegriffes (163 f.), ist in der hier postulierten Pauschalität nicht haltbar, da die genannten gnostischen Texte nicht älter sind als das Johannesevangelium und schon die Auseinandersetzung mit jo­hanneischem Gedankengut voraussetzen.
Darüber hinaus sind einige der Schlüsse, mit denen K. die kritischen Aussagen zu den Juden entschärfen will, zu einseitig. Es ist zwar korrekt, dass die Juden nicht mit dem Dualismus von Licht und Finsternis in Verbindung gebracht werden (149), doch wird in Joh 8 die Ablehnung Jesu durch bestimmte Juden mit deren Teufelskindschaft in Verbindung gebracht, was auf einen Konflikt mit der Synagoge hinweist. K.s Ablehnung der These eines Konflikts mit der Synagoge (167–174) basiert auf einer zu engen Interpretation eines formellen Ausschlusses aus der Synagoge (Joh 9,22; 12,42; 16,2). Auch wenn sich ein formaler Ausschluss aus der Synagoge nicht belegen lässt, zeigen die genannten Passagen des Johannesevangeliums dennoch, dass das Zusammenleben mit oder die Trennung von der Synagoge mindestens ein Problemfeld der jo­hanneischen Gemeinde war. Daher ist auch die Betonung des Konfliktes mit dem heidnischen Polytheismus (181–213) nur eine Seite des sozialen Kontextes des Johannesevangeliums. Es genügt nicht, die Probleme mit der jüdischen Gemeinde einem früheren Stadium der Gemeindegeschichte zuzuordnen (206), da das Johannesevangelium auch in seiner endgültigen Form die Gemeinde noch immer im Gespräch mit »den Juden« verortet. In diesem Zusam­menhang ist es auch fragwürdig, ob es mit dem damaligen jüdischen Selbstverständnis vereinbar ist, dass ein Jude durch Austritt aus der Gemeinde ein Nichtjude werden konnte (216). Diese Be­hauptung K.s scheint eher eine Übertragung moderner christlicher Konfessionswechsel zu sein.
Bei aller Kritik muss betont werden, dass K. mit seiner Studie einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Juden im Johannesevangelium geleistet hat. Der Zusammenhang zwischen der Deutung ›der Juden‹ und der ›der Welt‹ ist ein wichtiger Aspekt der Interpretation beider Begriffe. Dass er dabei das Pendel stärker auf der Seite der Welt ausschlagen lässt, tut diesem Verdienst keinen Abbruch.