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Ausgabe:

Juni/2008

Spalte:

632–635

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Belle, G. van, Watt, J. G. van der, and P. Maritz [Eds.]

Titel/Untertitel:

Theology and Christology in the Fourth Gospel. Essays by the Members of the SNTS Johannine Writings Seminar.

Verlag:

Leuven: Leuven University Press; Peeters 2005. XII, 561 S. gr.8° = Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensium, 184. Kart. EUR 70,00. ISBN 90-5867-484-3 (Leuven University Press); 90-429-1571-4 (Peeters).

Rezensent:

Enno Edzard Popkes

Dieser Sammelband enthält 22 Aufsätze führender Exegeten der gegenwärtigen Johannesforschung, welche im Rahmen der SNTS-Arbeitsgruppe »Johannine Writings Seminar« im Zeitraum der Jahre 1999–2003 entstanden sind. Die Beiträge widmen sich unterschiedlichen Themenfeldern johanneischer Theologie, wobei der johanneischen Christologie eine besondere Aufmerksamkeit ge­widmet wird.
So stellt z. B. Craig R. Koester (»Jesus as the Way to the Father in Johannine Theo­­lo­gy« [Joh 14,6], 117–133) dar, in welcher Weise die Weg-Metaphorik ein zentrales Element johanneischer Christologie bildet, die zwar erst in Joh 14,6 in Gestalt einer Selbstprädikation Jesu expressis verbis formuliert ist, aber bereits in vorhergehenden Erzählsequenzen des vierten Evangeliums vorbereitet wird. Demgegenüber widmet sich Francis J. Moloney (»The Johannine Son of Man Revisited«, 177–202) einer Frage, die für das Verständnis der Entwick­lungsgeschichte frühchristlicher Christologie von zentraler Bedeutung ist, nämlich der Frage, in welcher Weise Jesus in der johanneischen Theologie als der erwartete Menschensohn dargestellt wird und in welcher Weise der vierte Evangelist hierbei traditionsgeschichtliche Vorgaben aufnimmt und modifiziert. Neben diesen u. a. für die traditionsgeschichtlichen Hintergründe der johanneischen Christologie aufschlussreichen Zugangsperspektiven widmen sich die Beiträge von Klaus Scholtissek (»›Ich und der Vater sind eins‹ [Joh 10,30]: Zum theologischen Potential und zur hermeneutischen Kompetenz der johanneischen Christologie«, 315–345), Otto Schwankl (»Aspekte der johanneischen Christologie«, 347–375) und Gilbert van Belle (»Christology and Soteriology in the Fourth Gospel: The Conclusion to the Gospel of John Revisited«, 435–461) der Aufgabe, das Verhältnis der johanneischen Christologie zu weiteren Themenfeldern des vierten Evangeliums darzustellen, insbesondere zu dessen Soteriologie und Hermeneutik.
Der Frage der polemischen Darstellung des zeitgenössischen Ju­dentums im vierten Evangelium widmen sich die Beiträge von Martin Hasitschka, Birger Olsson, Wilhelm Pratscher und D. Francois Tolmie. Der vielschichtigen Forschungsdebatte entspricht es, dass sich die Autoren diesem heiklen Thema johanneischer Theologie aus unterschiedlichen thematischen Zugangsperspektiven nähern.
Während z. B. Hasitschka (»Joh 8,44 im Kontext des Gesprächsverlaufs von Joh 8,21–59«, 109–116) und Tolmie (»The ̓Ισυδαῖοι in the Fourth Gospel: A Narratological Perspective«, 377–397) die Funktion der Aussagen über die jüdischen Gesprächspartner Jesu von ihrer textinternen Einbettung her zu erläutern versuchen, stehen in den Beiträgen von Olsson (»All my teaching was done in synagogues ...« [Joh 18,20], 203–224) und Pratscher (»Tiefenpsychologische Er­wägungen zur negativen Rede von den Juden im Johannesevangelium«, 277–290) die Analysen textexterner Gegebenheiten im Vordergrund, welche die entsprechenden Facetten des vierten Evangeliums erklären könnten (während Olsson diese Züge johanneischen Denkens vor allem als Ausdruck eines innerjüdischen Konflikts zu verstehen versucht, möchte Pratscher die Polemik des vierten Evangelisten aus einer methodisch sehr vorsichtig formulierten tiefenpsychologischen Perspektive heraus erklären).
Drei Beiträge widmen sich der johanneischen Eschatologie und Pneumatologie, welche seit jeher zu den am häufigsten und kontroversesten diskutierten Themenfeldern der Johannesforschung gehören.
Während Martinus C. de Boer (»Jesus’ departure to the father in John. Death or resurrection?«, 1–19) sich speziell mit dem Problem auseinandersetzt, in welcher Weise das Motiv der Rückkehr des (Gottes-)Sohns zu seinem Vater zu verstehen ist (insbesondere das Verhältnis der Aussagen über die Erhöhung und Kreuzigung Jesu), legt Jörg Frey (»Eschatology in the Johannine circle«, 47–82) dar, inwieweit man die thematischen Differenzen unterschiedlicher Facetten johanneischer Eschatologie nicht als Indizien unterschiedlicher redaktioneller Überarbeitungen des vierten Evangelium verstehen muss, sondern als den Versuch der Bewältigung unterschiedlicher innergemeindlicher Probleme, die sich im Zuge des Schismas der johanneischen Gemeinde ergeben haben. Demgegenüber bietet Michel Gourgues (»Le paraclet, l’esprit de vérité. Deux désignations, deux fonctions«, 83–108) einen Einblick in die gegenwärtigen Diskussionen zur johanneischen Pneumatologie, wobei dem johanneischen Wahr­heitsbegriff eine besondere Aufmerksamkeit gilt.
Während bei den bisher angesprochenen Beiträgen sich die in den letzten Jahren in der Johannesforschung erkennbare Tendenz do­kumentiert, das vierte Evangelium vor allem durch eine synchrone Lektüre als ein theologisch und literarisch konsistentes Werk zu würdigen, widmen sich weitere Studien der Aufgabe, die Eigentümlichkeit johanneischen Denkens vor dem Hintergrund religionsgeschichtlicher Vergleichsgrößen zu profilieren.
Während z. B. John Painter (»Monotheism and Dualism: John and Qumran«, 225–243) sich der Aufgabe widmet, das Verhältnis des Gottesbegriffs und der dualistischen Vorstellungen im Johannesevangelium mit entsprechenden qumranischen bzw. essenisch-qumranischen Traditionen zu vergleichen (vor allem mit entsprechenden Facetten der Kriegsregel [1QM 13,1–18] und der Gemeinderegel [1QS 3,13–4,26]), beschäftigen sich zwei weitere Studien mit dem Vergleich johanneischer Theologie mit Traditionen, welche durch die Funde gnostischer Originalzeugnisse im Rahmen der sog. Nag Hammadi-Schriften zugänglich wurden. Interessanterweise konzentrieren sich beide Beiträge jeweils auf die sethianische Gnosis. Einerseits erörtert John D. Turner (»Sethian Gnosticism and Johannine Christianity«, 399–433) generell die Aufnahme johanneischer Vorstellungen in der sethianischen Gnosis, andererseits vergleicht Pheme Perkins (»Gnostic Revelation and Johannine Sectarianism: Rea­d­ing 1 John from the Perspective of Nag Hammadi«, 245–276) den im 1.Jo­han­nesbrief erkennbaren Offenbarungsanspruch mit entsprechenden Strukturen sethianischer Gnosis (dabei gilt in beiden Beiträgen dem Verhältnis der johanneischen Schriften zum Johannesapokryphon ein hohes Interesse).
Eine weitere Gruppe von Beiträgen fragt, welche traditionsgeschichtlichen Vorgaben die Gestaltung des vierten Evangeliums geprägt haben.
So geht z. B. Urban C. von Wahlde (»The Samaritan woman episode, synoptic form-criticism, and the Johannine miracles. A que­s­tion of criteria«, 503–518) der Frage nach, inwiefern sich an der Erzählung von der Begegnung Jesu mit einer Samaritanerin (Joh 4,1–42) und von der Heilung des Sohnes eines königlichen Beamten (Joh 4,43–54) die Struktur und das Anliegen der Adaption vorgegebener synoptischer Traditionen erkennen lassen. Die johanneische Adaption alttestamentlich-frühjüdischer Vorstellungen wird hingegen in den Beiträgen von William R. G. Loader und Maarten J. J. Menken betrachtet. Während Loader (»Jesus and the law in John«, 135–154) das johanneische Verständnis jüdischer Gesetzestraditi­onen thematisiert, widmet sich Menken (»Observations on the significance of the Old Testament in the fourth gospel«, 155–175) Fragen der johanneischen Schrifthermeneutik.
Mit der Eigentümlichkeit der erzählerischen Kunstfertigkeit des vierten Evangeliums beschäftigen sich vor allem Jan A. Du Rand (»The creation motif in the fourth gospel. Perspectives on its narratological function within a Judaistic background«, 21–46), der darstellt, wie in der Erzählung des Johannesevangeliums unterschiedliche Facetten alttestamentlich-frühjüdischer Schöpfungsvorstellungen aufgenommen und johanneisch interpretiert werden, und Jan Gabriël Van der Watt (»Double entendre in the gospel according to John«, 463–481), der im Rekurs auf literaturwissenschaftliche Methodendiskurse erläutert, in welcher Weise der Au­tor des Johannesevangeliums bewusst mit der Mehrdeutigkeit von Begriffs- und Bildfeldern arbeitet, um seines Erachtens unangemessene Deutungen der Worte und Taten Jesu zu paraphrasieren und im johanneischen Sinne neu zu deuten. Dieser in das Thema­ der johanneischen Hermeneutik hineinreichenden Fragestellung steht auch der Beitrag von Udo Schnelle (»Das Johan­nesevangelium als neue Sinnbildung«, 291–313) nahe. Schnelle widmet sich der Aufgabe, die Intention der Abfassung des Johannesevangeliums präziser zu erfassen, und gelangt im Rekurs auf kulturanthropologische und erzähltheoretische Be­schreibungskonzepte zu dem Urteil, dass man das vierte Evangelium als das Ergebnis einer ›neuen Sinnbildung‹ verstehen kann, in welchem sich die Identitätsbildungsprozesse des frühen Christentums spiegeln.
Auch wenn die vorgelegten Studien durchweg durch ein hohes wissenschaftliches Niveau überzeugen, verdient eine Studie besondere Erwähnung, nämlich der Beitrag des am 22. Mai 2003 verstorbenen Sjef van Tilborg (»Cosmological implications of Johannine Christology«, 483–502). Bei diesem Text handelt es sich um einen der letzten Artikel dieses großen Gelehrten, der die Erforschung der johanneischen Theologie über viele Jahre in besonderer Weise prägte.
Angesichts der Breite der skizzierten Themenfelder ist der Sammelband für jeden Leser im höchsten Maße empfehlenswert, der einen Einblick in gegenwärtige Diskussionen der Erforschung der johanneischen Schriften gewinnen möchte. Die Attraktivität dieser Textsammlung besteht nicht zuletzt darin, dass man an den einzelnen Studien erkennen kann, dass sie aus einem langjährigen Diskurs einer Arbeitsgruppe hervorgegangen sind, deren Teilnehmer zuweilen sehr unterschiedliche methodische Zugangsperspektiven wählen bzw. religionsgeschichtliche Verortungen der johanneischen Schriften vertreten. In diese offenen Diskurse wird der Leser des Sammelbandes hineingenommen und zur eigenen Weiterarbeit angeregt.