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Ausgabe:

Juni/2008

Spalte:

628–630

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Nihan, Christophe

Titel/Untertitel:

From Priestly Torah to Pentateuch. A Study in the Composition of the Book of Leviticus.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2007. XVIII, 697 S. gr.8° = Forschungen zum Alten Testament. 2. Reihe, 25. Kart. EUR 99,00. ISBN 978-3-16-149257-0.

Rezensent:

Henning Graf Reventlow

Die umfangreiche – vor der Drucklegung noch dazu gekürzte! (VII)– bei T. Römer angefertigte Lausanner Dissertation von 2005 versucht, eine großangelegte redaktionsgeschichtliche (18) Einordnung des Buches Leviticus in den Gesamtzusammenhang der Pries­terschrift (gerechnet von Gen 1 bis Dtn 34) nachzuweisen. Dabei werden einige grundlegende methodische Voraussetzungen ge­macht: 1. Ausgangspunkt und Ziel der Erklärung ist der kanonische Endtext (69; vgl. 19). 2. Auszugehen ist grundsätzlich von schriftlich vorgegebenen Quellen, deren literarische Abhängigkeit voneinander im Rahmen einer relativen chronologischen Ansetzung nachzuweisen ist. Das ist die klassische Position, wie sie seit dem 19. Jh. in der Pentateuchforschung eine Rolle spielt. Der formkritische Ansatz, wie er für eine Periode charakteristisch war (6), der sich für die Vorgeschichte der verarbeiteten Überlieferungen interessierte und für Leviticus besonders von R. Rendtorff und K. Koch vertreten wurde (12), wird mit der herrschenden Meinung verworfen (12). 3. So, wie die Quelle P im Ganzen eine Erzählquelle ist, ist diese Charakterisierung auch auf das Buch Leviticus auszudehnen; »the book’s coherence is ultimately given by its narrative structure« (89). Im Ergebnis ist das Buch Leviticus sogar die Mitte dieses Erzählganzen (19), weil es diese Stellung in der kanonischen Endform der Tora besitzt (74 f.). Am Schluss einer Einleitung, die kurz auf die Auslegungsgeschichte des Buches eingeht (1–19), verweist N. auf den Hauptinhalt der folgenden Kapitel.
Zusammenfassend: Bereits Kapitel 2 (69–110) kommt zu dem Ergebnis, dass Leviticus in seiner kanonischen Form aus drei Haupt­abschnitten besteht: Lev 1–10; 11–16; 17–26 (27). Kapitel 2.2 ent­h­ält eine Diskussion mit anderen neueren Ansätzen, denen N. Teilerkenntnisse, die aber nicht ausreichten, zubilligt. U. a. werden (mit Zenger) Lev 16–17 als die Mitte von Lev bezeichnet; »it implies that the book’s dominent theme is the reconciliation between God and man operated by the ritual« (83). Der Übergang von Ex 40 zu Lev 1–10 ist dadurch vorbereitet, dass Mose nach Ex 40,35 nicht in das heilige Zelt treten kann, weil dieses durch den הוהי דובכ erfüllt ist, während in Lev 1,1 JHWH plötzlich Mose aus dem Zelt heraus anredet, um ihm Anweisungen für ihm darzubringende Opfer zu geben (90). Lev 1–10 bezeugen die graduelle Öffnung dieser Sperre, bis zur Zulassung von Mose und Aaron im Zelt der Begegnung (9,23a). Kapitel 3 (111–268) untersucht den Komplex Lev 1–10. Gegen die übliche Annahme, dass Lev 1–7 zwischen Ex 40 und Lev 8 interpoliert seien, verteidigt N. einen ursprünglichen Zusammenhang, wobei Lev 1–3 einen engen Bezug zu der Opfervorschrift in Ex 29,15–18 und Lev 8,18–21 aufweise (150). Innerhalb von Lev 1–7 sieht N. unterschiedliche Entwicklungsstufen: Die älteste Schicht ist Lev 1–3. Auch Ex 29 und Lev 8–9 seien abhängig von Lev 1–3, weil die Beschreibung des Brandopfers in Ex 29 und Lev 8–9 grundsätzlich mit der in Lev 1 identisch sei. Aus diesem Grunde sei die seit Ewald, Kuenen und Wellhausen herrschende Auffassung, dass Lev 8–9 ursprünglich unmittelbar auf Ex 40 gefolgt sei, unzutreffend (157). Die kürzere Fassung des Verfahrens mit den Fettstücken des Opfertieres in Lev 9 im Vergleich mit Lev 3 sei damit zu erklären, dass der Verfasser von Lev 9 seine Leser auf die ausführlichere Darstellung in Lev 3 verweisen konnte. Entsprechend beziehe sich die Notiz in Lev 9,16, dass das Brandopfer für die Gemeinde dargebracht worden sei, טפשׁמכ, auf die Übereinstimmung mit der Tora in Lev 1 (154). Eine ähnliche Abhängigkeit sieht N. z. B. in der Erwähnung von ungesäuerten Keksen in Ex 29,2.23; Lev 8,26; 7,12; Num 6,15.19, die alle von Lev 2,4 abhängig seien (153).
Wenn man nicht von den Voraussetzungen der Redaktionskritik ausgeht, die mit der Herstellung von schriftlichen Texten durch Redaktoren rechnet und deren Abhängigkeit voneinander in einer chronologischen Abfolge nachzuweisen sucht, sind derartige Argumentationsgänge schwer nachvollziehbar. Ein Ansatz, der von einer weitgehend mündlich überlieferten Tora ausgeht, wie sie für altorientalische Traditionsgesellschaften charakteristisch ist, würde vielfache Übereinstimmungen von auf die Tora bezogenen Texten untereinander wie auch leichte Abweichungen zwischen ihnen viel einfacher erklären.
Was die Entstehung des Komplexes Lev 1–9 angeht, kommt N. zu dem Ergebnis einer chronologischen Aufeinanderfolge ver­schie­dener Stücke: Der Text von P bestand ursprünglich aus Lev 1–3.8–9, wobei Lev 8–9 von vornherein von Lev 1–3 abhängig waren. Ex 28–29 und Lev 8–9 waren von Anfang an als Rahmenwerk zu Lev 1–3 gedacht. Lev 4. 5. 6–7 sind spätere Ergänzungen zu diesem Grundtext, wobei wiederum Lev 4 und 5,13 von Lev 1–3 abhängig sind, während Lev 5–6 wenigstens in ihrer heutigen Form Lev 1–4 als Ganzes voraussetzen (§ 3.2; 150–198; vgl. besonders die Zusammenfassung, 197–98). Lev 4 enthält, besonders mit der Er­wähnung des תאטח-Opfers Hinweise auf Num 1–10 und auch Ez 40–48 (!) (166–67).
Kapitel 4 (269–394) bietet eine detaillierte Analye des Komplexes Lev 11–16. Die Übersicht über die von P verwendeten Quellen (299–301) ergibt zunächst, dass dieser verschiedene Toroth über körperliche Unreinheiten (12,2aβ–7; 13,2–44; 13,47–59; 14,34–53; 15,2b–30.32–33) verwendet hat. Die Instruktion über essbare und nicht essbare Tiere in Lev 11,2b–23, die auch von dem Verfasser von Dtn 14 verwendet wurde, wird gesondert gesehen. Besonders beachtet werden aber die nach N. von P selbst stammenden Beiträge (301): Lev 11,24–42 als Brücke zu Lev 12–15 sowie ein Ausbau des ursprünglich eintägigen Rituals für die Reinigung von ערצמ (Lev 14,2–8a) durch die Ausdehnung in ein schrittweises Acht-Tage-Ritual in drei Schritten mit Opfern am achten Tag (Lev 14,1–20*).
Ein längerer Abschnitt (§ 4.3; 340–382) wird dem Kapitel Lev 16 gewidmet. V. 1 mit seinem Bezug auf Nadab und Abihu (Lev 10) wird als Zusatz ausgeschieden, außerdem V. 29–34a wegen seiner andersartigen Terminologie (346–347). Das Problem einer Mi­schung verschiedener Rituale in Lev 16 wird, im Gegensatz zu früherer Forschung, nicht als Uneinheitlichkeit bewertet. Die Riten in V. 7–10 und 11–19 bilden zusammen einen Akt (359). V. 17(b?) ist allerdings interpoliert. Auch einige weitere kleinere Zusätze werden identifiziert. Der Kern des Rituals V. 6–25 ist aber ursprünglich (366). Im Ganzen war Lev 16 der ursprüngliche Schluss von P (382). Hieran an schließt sich (§ 4.4.2; 383–394) ein Datierungsvorschlag für P an: die ersten Jahrzehnte persischer Herrschaft nach der Rückkehr aus dem Exil. Adressat ist die kleine Tempelgemeinde (390). Diese Ansetzung hat die gesamte Quelle P von Gen 1 bis Lev 16 im Blick.
Wichtig ist Kapitel 5 (395–575), in dem N. (in einer laufenden Diskussion, die das neuerdings häufiger bezweifelt) nicht nur für ein gesondertes Korpus »Heiligkeitsgesetz« (H) eintritt, sondern sich spezifischer der These von I. Knohl (The Sanctuary of Silence, 1995; auch J. Milgrom) einer »Heiligkeitsschule« anschließt (§ 5,4; 559–579). Allerdings sieht N. mit einer Reihe von Vorgängern H nicht als ein unabhängiges Korpus an, sondern findet in ihm fast ausnahmslos Abschnitte, die frühere Quellen (P und Dtr) aufnehmen (als »a synoptic reading«; 616) und zwischen ihnen zu vermitteln suchen. Ausgenommen wird lediglich Lev 18,7–17a, wo N. mit zahlreichen Vorgängern die Aufnahme einer unbekannten früheren priesterlichen Instruktion vermutet (441–444) und sogar be­merkenswerterweise andeutet, dass diese auch mündlich tradiert gewesen sein könnte (!) (554; dagegen 443–444 eine entschiedene Abwehr formgeschichtlicher Untersuchungen des Textes). Im Übrigen sieht N. überall in H Redaktoren am Werk, die ihnen vorliegende ältere Texte bearbeiten. Eine post-P und post-D Ansetzung ergibt als Konsequenz eine Datierung in der zweiten Hälfte des 5. Jh.s (584). Auch dies entspricht einer aktuell zu beobachtenden Tendenz zu immer späterer Datierung der Pentateuchquellen.
Anschließend bringt N. noch einen kurzen Abschnitt über Lev 10 (§ 6.3; 602–607). Er sieht das Kapitel als eine in V. 1–2 mit der Episode von Nadab und Abihu bewusst in Entsprechung zu der Erzählung von den 250 Männern in Num 16–17 (in deren Endfassung, welche die Figur Korachs einführte) formulierte Episode, die Gelegenheit gab, weitere Anweisungen für die Priester (V. 6–20) einzuführen, die teils neu sind (V. 6–7.8–11) oder im Hinblick auf die Beseitigung von Opferresten mit der bestehenden Tora übereinstimmen (V. 12–15.16–20). In Anlehnung an R. Achenbach (Die Vollendung der Tora, 2003) hat er dabei auch die Tora in Ez 40–48 mit im Blick.
Ein Abschlusskapitel »From Priestly Torah to Pentateuch« (608–619) fasst die Ergebnisse zusammen. Wichtigste Punkte sind: 1. Leviticus 1–16 waren als ursprünglicher Bestandteil von P geplant als Bestandteil einer fortlaufenden Erzählung, die von Gen 1 bis Dtn 34 reichte. 2. Eine Unterscheidung zwischen rechtlichen und erzählerischen Elementen in Leviticus (Wellhausen) ist nicht möglich. Auch die gängige Annahme, dass Lev 1–7 den Zusammenhang zwischen Ex 40 und Lev 8–9 unterbreche, ist unzutreffend. 3. Innerhalb von Lev 1–7 sind Lev 1–3 der älteste Text, Lev 4, daran anknüpfend Lev 5 und 6–7, spätere Zusätze. 4. Das Dokument Lev 1–3 war ursprünglich ein priesterliches Manual. 5. In Lev 11–16 hat P zwei Quellen benutzt: eine Sammlung über körperliche Verunreinigungen Lev 12–15 und über reine und unreine Tiere Lev 11,2–23, von P sind sie aber als Einheit gestaltet. Lev 16,2–28 sind, wenn auch auf kürzeren Riten fußend, »a coherent creation by the Priestly writer« (613).
Als Ganzes ist der umfangreiche Band das Ergebnis eines erheblichen Arbeitsaufwandes, der mit großer Sorgfalt bis in alle Einzelheiten hinein durchgeführt ist. Dafür zeugt auch die umfangreiche, aktualisierte und genutzte (!) Bibliographie (621–660). Eine solche­ Leistung verdient Respekt. Dennoch liegt über dem Ganzen ein Zweifel, der freilich nicht speziell N.s Dissertation betrifft, sondern eine ganze Schule. Die redaktionskritische Methode, als eine Tochter der Literarkritik des 19. Jh.s seit 1981 (O. Kaiser, ATD 17) in der Pentateuchexegese wenigstens auf dem europäischen Kontinent fast zur Alleinherrschaft gelangt, kann doch ihre Ursprünge auf den gelehrten Schreibtischen Deutschlands und der Nachbarländer vor rund 200 Jahren nicht verleugnen. Sind Schriftrollen die Wege, auf denen narrative und kultische Traditionen im alten Israel ausschließlich überliefert wurden? Da schriftliche Quellen seiner Kultur erst aus hellenistischer Zeit erhalten sind (Qumran), ist die zunehmende Neigung zur Spätdatierung von Pentateuchquellen verständlich, aber möglicherweise irreführend. Tora wird praktiziert und deshalb vor allem memoriert, narrative Stücke werden erzählend weitertradiert. Die einseitige Verwendung eines Zu­gangs zu den Texten birgt leicht zu übersehende Gefahren.
Ein Zeichen der Zeit ist wohl auch, dass ein frankophoner Autor es für ratsam hielt, seine Arbeit auf Englisch zu publizieren.