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Ausgabe:

Juni/2008

Spalte:

625–628

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Kiefer, Jörn

Titel/Untertitel:

Exil und Diaspora. Begrifflichkeit und Deutungen im antiken Judentum und in der Hebräischen Bibel.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2005. 760 S. u. 1 CD-ROM. gr.8° = Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte, 19. Geb. EUR 78,00. ISBN 3-374-02316-9.

Rezensent:

Christoph Levin

Die von Thomas Willi betreute voluminöse Greifswalder Dissertation bietet genau das, was der Untertitel ankündigt: eine Untersuchung der Begriffe, in denen die Erfahrung von Exil und Diaspora ihren Ausdruck gefunden hat, sowie auf dieser Grundlage eine Bestandsaufnahme der theologischen Deutungen. Sie schließt nicht nur das Alte Testament ein, sondern auch das weitere Schrifttum des antiken Judentums einschließlich der Qumranschriften und des Neuen Testaments. Ziel ist es, die übliche negative Wertung des Exils durch ein differenziertes Bild abzulösen. Das Judentum des zweiten Tempels konnte dem Dasein in der Zerstreuung auch positive Züge abgewinnen. Jenseits der Deportationen des 8. und 6. Jh.s war »die besondere Gegebenheit, dass ein großer Teil des jüdischen Volkes außerhalb des Israel-Landes lebte und dabei die innere und äußere Beziehung zu seinem Mutterland aufrecht erhielt« (46), eine Grundbedingung jüdischer Existenz, die nach der Zerstörung des Zweiten Tempels bestimmend geworden ist, aber viel ältere Wurzeln hat.
Die Untersuchung ist in drei Durchgänge gegliedert. Der erste gilt dem Vokabular (107–229); der zweite behandelt die Deutungen im nachbiblischen, deuterokanonischen und jüdisch-hellenistischen Schrifttum (230–436); der dritte ist, wieder nach dem Vokabular gegliedert, den Belegen im Alten Testament gewidmet (437–695). Der nur in elektronischer Form publizierte Anhang (761–968) stellt dem Leser das gesamte Belegmaterial zur Verfügung. Auch hier gibt das Vokabular das Ordnungsprinzip vor, zunächst der hebräische und aramäische Wortbestand, jeweils unterschieden in biblischen und nachbiblischen Befund, zuletzt auch die griechischen Wörter. Die Darstellung gliedert sich für jede Vokabel nach der Semantik, wozu die Belege ausführlich dargeboten werden – eine Art »theologisches Wörterbuch« zum Thema.
Am Beginn steht ein geschichtlicher Abriss (47–106). Das geläufige Bild wird nach dem gegenwärtigen Forschungsstand dokumentiert einschließlich des außerbiblischen und archäologischen Befunds. Über die assyrische Deportationspraxis sind wir recht gut informiert, auch wenn man an den Zahlen, die in den Inschriften genannt werden, Abstriche machen muss. Hingegen »kann die babylonische De­portationspraxis nur in Anlehnung an assyrische Parallelen erschlossen werden« (51), so dass in diesem Fall die biblischen Nachrichten großes Gewicht erhalten. Deren Quellenwert ist nicht über jeden Zweifel erhaben. K. neigt dazu, die widersprüchlichen Angaben zu harmonisieren. Das ist historiographisch bedenklich. Es ist keineswegs »zweitrangig«, ob 2Kön 24,14 nachträglich eingefügt wurde (69, Anm. 117, gegen Würthwein und Albertz), denn die Behauptung, »ganz Jerusalem« sei deportiert worden, folgt offensichtlich der protochronistischen Theorie des »leeren Landes« und kann darum so wenig historisch sein wie die Zahl von 10.000 Deportierten. Dass die detaillierte Aufstellung in Jer 52,28–30, die sogar eine dritte Deportation behauptet, im griechischen Text fehlt, also erst im 2. Jh. v. Chr. positiv bezeugt ist, wird nicht bedacht. Auch für die Lage der Judäer in Babylon verlässt K. sich auf das biblische Geschichtsbild. Indessen gibt die Darstellung der Bücher Esra/Nehemia, die den Exulanten die Schlüsselrolle beim Wiederaufbau zuschreibt, kein zutreffendes Bild. Die notwendige Skepsis vermisst man auch sonst. Der heutige Stand der Redaktionskritik erlaubt nicht mehr ohne Weiteres, Jer, Dtjes und Ez als Quellen für das 6. Jh. zu lesen.
Hingegen bildet die jüdische Tradition in Mesopotamien ein seit dem Anfang des 6. Jh.s historisch greifbares Kontinuum. Sie gewann immer mehr an Bedeutung. »Die Diaspora wurde in persischer Zeit zur selbstverständlichen und akzeptierten Gegebenheit jüdischen Lebens« (90). »An Stelle der territorial bestimmten Volkszugehörigkeit musste nun eine religiös bestimmte ethnische Identität treten. Dadurch wurden letztlich auch die Gruppengrenzen prinzipiell für Menschen anderer Ethnien geöffnet« (91). Ziemlich von Anfang an dürfte die Diaspora sich mindestens ebenso sehr aus dem Übertritt zur jüdischen Gemeinschaft entwickelt haben wie aus der Deportation, Flucht oder Übersiedlung von Bewohnern Judäas.
Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt nicht auf dem Ge­schehen, sondern auf seiner Deutung. Wenn K. den Zugang über das biblische Vokabular wählt, nimmt er bewusst eine Einschränkung in Kauf. Ausgeschlossen sind jene Texte, »die dasselbe Phänomen mit ... unspezifischem Vokabular beschreiben« (107). Das be­trifft vor allem die erzählenden Texte, in denen die Diaspora ihre eigene Lage wiederfand, wie die Urgeschichte (von der wegen pwṣ/ npṣ wenigstens Gen 9,19–11,9 behandelt wird, 600–603) und die Vätergeschichte sowie die Traditionen von Exodus, Wüstenwanderung und Landnahme. »Wenn sich etwa die Motive Migration, Vertreibung und Fremdsein wie ein roter Faden durch die Genesis ziehen, dann spiegelt sich darin sicher nicht nur die Realität nomadischen Lebens einer grauen Vorzeit, sondern vor allem die Bedeutung dieser Themen in der Zeit der Sammlung und Redaktion dieser Überlieferungen« (694).
Das Vokabular, das untersucht wird, umfasst die einschlägigen Wurzeln für den Vorgang der Exilierung und Zerstreuung: glh, šbh, ndḥ, dḥh, npṣ, pwṣ, zrh, pzr einschließlich der Nebenformen. Von ihnen werden sämtliche Belege diskutiert. Die Trennung zwischen dem lexikographischen und dem dokumentarischen Durchgang führt zu einer gewissen Redundanz und vielen Verweisen. Sie ist auch methodisch nicht unproblematisch. Denn die Semantik kann streng genommen nur dann erfasst werden, wenn zugleich die Entwick­lung der Belege, also die biblische Literaturgeschichte, in Rechnung gestellt wird. Ein Beispiel: K. führt den Gebrauch des Verbs glh »entblößen« als Bezeichnung für die Deportation auf Amos zurück (123.225.455–457). Unter den Belegen Am 1,5; 5,5; 6,7; 7,11.17 ist keiner, der nicht schon dem Propheten abgesprochen worden wäre, bisweilen von namhaften Exegeten und mit triftigen Gründen. Man muss das nicht für richtig halten; aber die Herkunft aus dem 8. Jh. – und damit das höhere Alter als die übrigen Belege – ist keine selbstverständliche Vorgabe mehr.
Für die theologiegeschichtliche Aufgabe, die K. sich gestellt hat, wäre die Redaktionsgeschichte geeigneter gewesen als die Lexikographie. Deren Vorherrschaft geht so weit, dass auch der dokumentarische Teil in lexikographischer Manier nach Einzelbelegen, nicht nach Textzusammenhängen geordnet ist. Für Jer 29 gibt es daraufhin nicht weniger als sechs verstreute Abschnitte, so dass das innere Wachs­tum des Kapitels nicht in den Blick geraten kann. Innerhalb der semantischen Untergliederungen werden die Belege nach der kanonischen, nicht nach der traditionsgeschichtlichen Reihenfolge behandelt. Infolge dessen kommen die gewachsenen Querbezüge nicht zur Geltung. Wieder ein Beispiel: Man kann Ez 34 (551–556) nur gerecht werden, wenn man es als Auslegung von Jer 23,1–4 (544–546) liest. Diese Möglichkeit, in der Literatur breit behandelt, bleibt unerwähnt. Besonders vermisst man den Hinweis auf die golaorientierte Bearbeitung, die Karl Friedrich Pohlmann im Jeremia- und im Ezechielbuch entdeckt hat. Die »Zentrum-Peripherie-Thematik«, die zweifellos ein »Leitmotiv des gesamten Kanons« gewesen ist (694), hatte auch heftige Auseinandersetzungen zur Folge, die literaturbildend gewirkt haben wie weniges.
Der Gesamtertrag ist ein Bestand der möglichen Deutungen, die für Exil und Diaspora gebraucht werden (432.688). Sie stimmen für die biblischen und die nachbiblischen Belege im Wesentlichen überein: 1. Gottesgericht; 2. gegebene Realität; 3. Rückkehr als Hoffnung­ oder als zu deutendes Geschehen; 4. eschatologische Sammlung der Zerstreuten; 5. Akzeptanz der Diasporaexistenz; 6. wirksame Gottesgegenwart in der Zerstreuung; 7. die universale Bedeutung der Diaspora. In Form von Tabellen werden die einzelnen Belegtexte diesen Kategorien – meist sind es mehrere auf einmal – zugeordnet. Das ergibt eine nützliche Übersicht, die zur Weiterarbeit einlädt (432–435.688–690). Bemerkenswert ist, »dass die Deutung von Exil und Diaspora als Gottesgericht« (691) fast überall erhalten bleibt. Das »Exil« wird zum Ausdruck des eschatologischen Vorbehalts. Doch auch wenn das Gottesvolk auf die endliche Sammlung und Heimführung noch immer wartet, erfährt es in und trotz der Zerstreuung hier und jetzt die heilvolle Zuwendung Gottes.
Dass die Diaspora schon zur Zeit des Zweiten Tempels eine übliche und akzeptierte Lebensform des Judentums gewesen ist, wird man nach dieser Untersuchung nicht mehr in Frage stellen.