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Ausgabe:

Juni/2008

Spalte:

617–619

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Jonquière, Tessel M.

Titel/Untertitel:

Prayer in Josephus.

Verlag:

Leiden-Boston: Brill 2007. XIV, 311 S. gr.8° = Ancient Judaism and Early Christianity, 70. Geb. EUR 124,00. ISBN 978-90-04-15823-8.

Rezensent:

Karl-Heinrich Ostmeyer

Antike Gebete stehen seit etwa zwei Jahrzehnten hoch im Kurs. Da verwundert es, dass erst jetzt die Rolle und die Funktion des Betens bei Flavius Josephus, als dem bedeutendsten jüdischen Historiker der Antike, systematisch in den Blick genommen werden. Tessel M. Jonquière unternimmt es in ihrer 2007 erschienenen, von P. W. van der Horst betreuten und von der Universität Utrecht angenommenen Dissertationsschrift, das Gebetsverständnis des Josephus unter Berücksichtigung aller in seinen Werken greifbaren Gebete und Aus­sagen über das Beten einer eingehenden Analyse zu unterziehen.
Den fünf seit 1950 erschienenen Artikeln (13), die sich explizit mit dem Thema Beten bei Josephus beschäftigen, stehen laut J.s Zählung 134 Gebete im Werk des Historikers gegenüber (23). Angesichts dieses Missverhältnisses fällt es J. leicht, die Notwendigkeit ihrer Studie zu begründen. Der Aufgabe vorab zu bestimmen, was sie unter »Gebet« versteht und welche Texte sie in ihrer Untersuchung berücksichtigt, entledigt sich J. mit einiger Eleganz: Grundlage ist Judith Newmans Definition von Gebet als von Menschen initiierte, nicht als Konversation gestaltete Hinwendung zu Gott in der zweiten Person, worin auch Beschreibungen Gottes in der dritten Person einbezogen sein können (22). J. ergänzt diese Eingrenzung um den Aspekt des Ausdrucks der Abhängigkeit von Gott und um die Erwartung einer Antwort (22.275). In der überwiegenden Mehrzahl bewährt sich J.s Definition. Fälle, die mit einbezogen werden, obwohl sie der Vorgabe nicht vollständig genügen, werden als solche gekennzeichnet (78.171) und nicht in ein Schema ge­presst. Überhaupt zeichnet sich J.s Arbeit durch zurückhaltende und differenzierende Urteile aus.
Die Definition bindet das Vorliegen eines Gebetes nicht an dessen Unmittelbarkeit, und so beschränkt sich J. nicht auf die von ihr gezählten elf Gebete in direkter Rede (66.184), sondern sie zieht ebenso die Stellen heran, in denen Josephus Gebete seiner Vorlagen referiert (23 f.).
Darüber hinaus spielen Texte über das Beten eine zentrale Rolle. Auch wenn den 134 Gebetseinheiten je nach Definition und deren Auslegung noch der ein oder andere Text hinzugefügt werden könnte (z. B. BJ I, 584; Ant II, 346), ist doch das erfasste Material so umfassend, dass J. mit Recht für sich beanspruchen kann, das Ge­betsverständnis des Josephus im Wesentlichen berücksichtigt zu haben.
Nach der Klärung der Voraussetzungen (1–24) geht es im zweiten (25–56) der sechs Kapitel um die von Josephus selbst aufgestellten Gebetsregeln (vor allem in cAp II, 195–197) und um verstreute Aussagen zur Gebetspraxis.
Der umfangreichste Abschnitt des Buches widmet sich der Analyse von etwa 30 als repräsentativ ausgewählten Gebetsabschnitten (57–220). Auswahlkriterien waren die Länge, der Inhalt und das Verhältnis der Gebetstexte zu ihren (biblischen) Quellen (24). Einbezogen sind vier Texte ohne greifbare Vorlagen (199–216; darunter Josephus’ eigenes Gebet in BJ III, 354) und ein kurzer Anhang mit Gebeten von Nicht-Juden (217–220).
In der Einzelanalyse lässt J. in der Regel auf die Übersetzung eines Gebetstextes eine Darstellung des Kontextes folgen, daran anschließend widmet sie sich dem Gebet selbst und der Untersuchung zentraler Aspekte oder Begriffe. Als aussagekräftig erweist sich der Vergleich mit den Quellentexten und das Aufzeigen von Unterschieden, die von (scheinbar) minimalen Abweichungen bis hin zu vollständigen Neuformulierungen reichen. Bereits hier wird häufig deutlich, ob und inwieweit die jeweiligen Gebete den von Josephus in cAp II, 195–197 selbst aufgestellten Vorgaben genügen (vgl. Kapitel 2 der Studie).
In den drei folgenden Kapiteln bündelt J. die Befunde der Einzel­analysen unter verschiedenen Aspekten. Zunächst fragt sie nach den Funktionen der Gebete in den jeweiligen Texten (Kapitel 4; 221–240): Bei fast allen besprochenen Texten kommen literarische oder inhaltliche/theologische Intentionen des Autors zum Tragen. Bezogen auf die literarische Funktion unterscheidet J. zwischen dramatisierenden (romantisierenden) Effekten (222–224); dem Markieren eines Wendepunktes (224 f.), der Rechtfertigung (225 f.), dem, was sie »Twisting the story« (226–229) nennt, und der Porträtierung einer Figur (229–237). Nicht selten lassen sich die Texte mehreren Rubriken zuordnen. Wie jüdische Identität und Theologie in den Gebeten ihren Ausdruck finden, beleuchtet J. im ab-schließenden Abschnitt dieses Kapitels (237–240).
Im fünften Kapitel (241–252) geht J. explizit der Frage nach, inwieweit die Betenden den von Josephus in cAp II formulierten Gebetsregeln gerecht werden (241). Hier zeichnet J. ein differenziertes Bild und macht plausibel, dass die erst deutlich später in cAp II fixierten Merkmale des rechten Betens bereits bei der Formulierung vieler Gebete im Hintergrund standen: »What Josephus wrote­ in Contra Apionem was what he believed to be the universally applicable rules regarding prayer« (242). Zu diesen allgemeingültigen Regeln zählen u. a. der Vorrang des Betens für das Allgemeinwohl vor dem für eigene Belange und der Verzicht auf das Bitten um konkrete Güter. Auch wenn insbesondere der letzte Punkt von Josephus nicht immer durchgehalten wurde (252) und der Aspekt des Allgemeinwohls in seinem eigenen Gebet keine Rolle spielt (248), hält J. als Ergebnis mit Recht fest: »the main trend is that the rules are adhered to by the people in Josephus’ account« (252).
In ihrer Art zu beten spiegelt sich die Theologie der Betenden und ihre Beziehung zu Gott (253). So ist es folgerichtig, dass J. im Schlusskapitel (253–271) ihre Ergebnisse für Überlegungen zum Gottesbild des Josephus fruchtbar macht. Dass sie schließlich die Frage, ob Josephus sich Gott als (Er-)Hörenden vorgestellt hat, mit Ausnahme von wenigen begründeten Fällen positiv beantwortet, kann auf Grund ihrer Definition von Gebet als eines Antwort heischenden Aktes nicht verwundern (22.275).
J. zieht in ihrer Gesamtzusammenfassung (273–278) als Fazit: »Josephus is enabled to tell a story and keep to the storyline of the source text, but angle the story by adding a prayer or by changing the content of an existing prayer. In this way he manages to put his own stamp on his stories. He used the prayers to stress particular features of the story or even turning points in history. He also used prayers to portray certain characters« (277).
Gebete dienen bei Josephus als wichtige Träger seiner theologischen und philosophischen Vorstellungen. Mit ihrer Hilfe zeichnet er das Bild einer intimen Beziehung zwischen Gott und allen Menschen, unabhängig von deren Zugehörigkeit zum jüdischen Volk (277, vgl. 263).
Als hilfreich erweisen sich die verschiedenen Register (297–315) und die beiden Anhänge des Buches (279–286), in denen J. die über 130 von ihr als Gebetstexte identifizierten Stellen in historisch und in thematisch orientierter Reihenfolge auflistet und mit einer stichwortartigen Benennung des jeweiligen Themas samt Angaben der Paralleltexte versieht.
Für ein Bild der Persönlichkeit des Josephus und für ein Verständnis seiner Gedankenwelt und seiner Arbeitsweise erweist sich J.s Ansatz bei den über sein Werk verstreuten Gebetsaussagen als ergiebig. In ihnen lässt sich greifen, was den Historiker bewegt hat und welche Einflüsse seiner jüdischen Erziehung und seiner hellenistischen Umwelt für ihn prägend waren.
J. schließt mit ihrer Untersuchung zum Gebet bei Josephus eine Lücke, zugleich reizen ihre Ergebnisse zum Weiterfragen: Warum lässt Josephus in den Antiquitates die großen Lobpreisungen aus, z. B. die Dankgebete Moses und Mirjams (Ex 15,1–21; Ant 2,346), Deboras (Ri 5) oder Hannas (1Sam 2,1–10; Ant 5,346)? Unterscheiden sich Josephus und Philo hinsichtlich ihrer Art des Umgangs mit Gebeten?
Durch die Aufbereitung und Darbietung des Materials hat J. sowohl der Josephus- als auch der Gebetsforschung ein wertvolles Arbeitsinstrument zur Verfügung gestellt. Ihre Ergebnisse und ihre Herangehensweise sind geeignet, beiden Gebieten wichtige Impulse zu geben.