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Ausgabe:

Juni/2008

Spalte:

616–617

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Jaffé, Dan

Titel/Untertitel:

Le Talmud et les origines juives du christianisme. Jésus, Paul et les judéo-chrétiens dans la littérature talmudique.

Verlag:

Paris: Cerf 2007. 227 S. 8°. Kart. EUR 23,00. ISBN 978-2-204-08264-8.

Rezensent:

Günter Stemberger

Der Vf. führt mit diesem Buch, das zum Teil auf schon früher publizierten Aufsätzen beruht, die Thematik seines Bandes Le Judaïsme et l’Avènement du Christianisme (Paris 2005) weiter, die Rezeption des Christentums in der rabbinischen Literatur. Eine ausführliche Einleitung stellt die Erneuerung des Judentums durch die Rabbinen von Jabne vor und zeichnet die sozialen und religiösen Strukturen der Zeit nach. Die einzelnen Kapitel verfolgen dann die einzelnen Stadien des Bruches zwischen Juden und Christen, soweit in rabbinischen Texten verfolgbar. Zuerst analysiert er die Geschichte von Eliezer ben Hyrkan, der wegen Minut verhaftet wird und beim Nachsinnen, wie ihm dies widerfahren konnte, daran erinnert wird, dass er einst an einer halakhischen Auslegung im Namen des Jeshua ben Pantira Gefallen fand. Das war seine Schuld (t. Hullin 2,24). Das zweite Kapitel befasst sich mit dem direkt vorangehenden Ab­schnitt (2,22–23), in dem sich schon der Bruch ankündigt: Eleazar ben Dama wird von einer Schlange gebissen, muss aber eher sterben, als sich von Jakob von Kefar Sama im Namen Jesu ben Pantera heilen zu lassen. Den schon vollzogenen Bruch sieht der Vf. in t. Schabbat 13,5, wonach man giljonim und Bücher der Minim an einem Sabbat nicht aus einem Feuer rettet, sie vielmehr samt den darin enthaltenen Gottesnamen verbrennen lässt. Er diskutiert die verschiedenen Deutungen von giljonim, sieht aber darin letztlich doch einen Hinweis auf die Evangelien. Ein Passus aus b. Schabbat 116a–b zeigt schließlich, wie R. Gamaliel und seine Schwester einen angeblich so unbestechlichen Richter übertölpeln, indem sie in einem Streit um das Erbe sich gegenseitig mit Bestechungen überbieten. Zuerst beruft sich der Richter auf das Evangelium, das das jüdische Gesetz abgelöst hat, doch dann zitiert er fast wörtlich Mt 5,17 für seine geänderte Meinung. Der Ausschluss der Judenchristen aus der Synagoge durch die Einführung des Ketzersegens in Jabne (y. Ber 5,4,9c) ist Thema des nächsten Kapitels. Als letzte Etappe der Trennung von Juden und Christen gilt b. Sanh 107b: Jesus ist hier ein Jünger des Jehoschua ben Perachja (1. Jh. n. Chr.!): Dieser bestraft ihn wegen einer Verfehlung; durch ein Missverständnis kommt es zum endgültigen Bruch und Jesus gibt sich dem Götzendienst hin. Ein weiteres Kapitel sucht in der rabbinischen Literatur Reaktionen auf die Lehren des Paulus. Ein Überblick über Studien jüdischer Historiker zu Jesus beschließt den Band.
Die hier besprochenen Texte sind seit Langem die Kernstücke rabbinischer Literatur, wenn man darin nach Spuren der Trennung der Kirche von der Synagoge sucht. Der Vf. bietet jeweils einen guten Überblick zur Forschungsgeschichte und analysiert gut die einzelnen Texte. Was die als Reaktion auf paulinische Lehren verstandenen Texte betrifft, sind diese allerdings zu wenig spezifisch und ebenso rein innerjüdisch zu verstehen. Das flüssig und gut lesbar geschriebene Buch wäre an sich brauchbar und lehrreich. Doch leider ist der Zugang zu den Texten trotz aller Hinweise auf methodische Probleme höchst historistisch. Für den Vf. besteht kein Zweifel daran, dass die Rabbinen sofort nach 70 die unbestrittene Führung des jüdischen Volkes übernommen haben, ihre Halakha als die allgemeine Norm akzeptiert wurde und somit auch Maßnahmen wie der Ketzersegen, der in der Zeit Gamaliels Ende des 1. Jh.s eingeführt worden sein soll, schnell zur Selbstausschließung der Judenchristen aus der Synagogengemeinde geführt haben. Trotz der mehrfach betonten Unterscheidung von frühen und späten Texten datiert der Vf. diese doch regelmäßig einfach nach den Zu­schreibungen an bestimmte Rabbinen, egal wo sie erstmals belegt sind. Sogar die schon überwunden geglaubte Vorstellung der Synode (hier »assemblée«) von Jabne Ende des 1. Jh.s, auf der unter Gamaliels Führung der Kanon der Bibel festgelegt und die Abgrenzung von den Anhängern Jesu fixiert wurde, aufersteht hier wieder. Auch wenn die einzelnen Texte, die der Vf. diskutiert, zum Teil erst Jahrhunderte später entstanden sind, gelten sie ihm als Kronzeugen einer Entwicklung weniger Jahrzehnte, bis die Anhänger Jesu von einer innerjüdischen Gruppierung zu einer aus der Gemeinde ausgeschlossenen Sekte geworden sind. Trotz vieler Zi­tate aus späterer Sekundärliteratur hätte dieses Buch vor 50 oder 100 Jahren geschrieben sein können. Die Entwicklungen der letzten Generation in der historischen Bewertung der rabbinischen Texte oder auch der langsamen sozialen Entwicklung des Rabbinats sind spurlos an ihm vorübergegangen. Schade, weil das Buch sonst kenntnisreich die wesentlichen Texte der rabbinischen Literatur gut und verständlich diskutiert und damit auch einem weiteren interessierten Publikum näherbringen könnte. Doch mit seinem­ historistischen Zugang ist das Buch leider ein Anachronis­mus.