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Ausgabe:

Juni/2008

Spalte:

606–608

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Zander, Helmut

Titel/Untertitel:

Anthroposophie in Deutschland. Theosophische Weltanschauung und gesellschaftliche Praxis 1884–1945. 2 Bde.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007. XVIII, 1884 S. m. Abb. u. Tab. gr.8°. Geb. EUR 246,00. ISBN 978-3-525-55452-4.

Rezensent:

Andreas Fincke

Um es vorweg zu sagen: An dieser monumentalen Studie kommt auf absehbare Zeit keiner vorbei, der sich ernsthaft mit der Anthroposophie beschäftigen möchte. Zwar gibt es eine Fülle von Literatur zu Einzelfragen und zu Rudolf Steiner, aber keiner hat bisher versucht, Steiners Werk und Wirken historisch-kritisch durchzusehen und wissenschaftshistorisch einzuordnen. Allein dieser Ansatz hebt Z.s Habilitationsschrift weit von anderen Arbeiten zum Thema ab, die sich oftmals entweder vorurteilsschnell negativ oder (ebenso vorurteilsschnell) hagiographisch äußern.
Doch der Reihe nach: Die Anthroposophie ist eine der interessantesten und spannendsten Weltanschauungen des 20. Jh.s. Sie wurde von Rudolf Steiner (1861–1925) begründet, einem Mann, der zu den produktivsten Persönlichkeiten der Geistesgeschichte ge­zählt werden muss. Sein Gesamtwerk aus philosophischen, theologischen und esoterischen Schriften umfasst in der Dornacher Ge­samtausgabe (Rudolf Steiner Verlag) etwas mehr als 350 Bände. Die Anthroposophie erhebt den Anspruch, übersinnliche, »höhere« Erkenntnis vermitteln zu können.
Steiner, 1861 geboren in Österreich-Ungarn, studierte in Wien Naturwissenschaften, Mathematik und Philosophie. Er war später Herausgeber von Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften und arbeitete an der Weimarer Sophienausgabe mit. Um die Jahrhundertwende kam er mit der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft in Kontakt, der er als Generalsekretär ab 1902 vorstand. 1913 kam es zum Bruch und Steiner konstituierte die Anthroposophische Gesellschaft. In den nächsten Jahren gab Steiner eine große Fülle von Impulsen und Anregungen. Er entwarf die Idee einer sozialen Dreigliederung, entwickelte die Waldorfpädagogik, kre­ierte eine anthroposophische Heilkunst, vermittelte Impulse für eine neue Landwirtschaft und wurde zum geistigen Vater der Chris­tengemeinschaft. Was hier nur in Stichworten angedeutet werden kann, ist bei Z. ausführlich untersucht und detailreich dargestellt. Darin liegt eine Stärke dieser Studie. So ist z. B. landläufig bekannt, dass Steiner sich wegen Differenzen um die Bedeutung des Hinduknaben Krishnamurti von der Theosophischen Gesellschaft entfernt hat. Annie Besant sah in ihm einen neuen Weltenlehrer bzw. Messias. Dahinter stand die theosophische Vorstellung, dass sich der Buddha-Maitreya immer wieder in einem Menschen inkarniert – so deutete man auch Jesus Christus. Steiner jedoch unterstrich die Einmaligkeit des Christusereignisses (147.855). Z. zeigt, wie vielgesichtig die Ereignisse damals waren; es fand »eine Auseinandersetzung auf vielen Feldern« statt (151).
Vermutlich zur Bestürzung eingeschworener Anthroposophen zeigt Z., wie sehr Steiner nach seiner Trennung von der (organisierten) Theosophie den theosophischen Quellen verbunden blieb, wie groß seine Abhängigkeit ist und bleibt. Damit leistet Z. einen entscheidenden Beitrag zur Entzauberung Steiners. Denn vieles von dem, was »fromme Anthroposophen« aus vermeintlich höherer Einsicht Steiners in jenseitige Welten – gar in die »Akasha-Chronik«, eine Art »Weltgedächtnis« – gespeist glauben, ist aus der Theo­-sophie.
Steiner hat darauf bestanden, dass er theologische Fragen und historische Ereignisse aus übersinnlichen Erkenntnissen heraus neu beschreiben kann. Über solche Angaben ist schwer zu diskutieren. Daher liest man mit gewissem Schmunzeln, was Z. über Steiners »geistige Schau« König Artus’ und seiner Tafelrunde schreibt (647 f.). Steiner besuchte im August 1924 mit einigen Anhängern Schloss Tintagel in Cornwall, der Sage nach im 5/6. Jh. die Residenz des Königs. Steiner erklärte seinen Freunden anschaulich, wie Artus hier in der Runde getafelt hat – nur, das Schloss wurde erst um 1140 gebaut, der Stoff der Artuslegende erst im Mittelalter erfunden. Steiner muss also einer Täuschung erlegen sein (648).
Ausführlich beschreibt Z. die Entstehung der Christengemeinschaft unter Nutzung der erstmals in den 1990er Jahren veröffentlichten Dokumente aus der Gründungszeit (1611 ff.). Steiner schrieb die Ritualtexte für die Christengemeinschaft, d. h. er soll sie »ge­schaut« haben. Ausdrücklich sagte er über einen Ritualtext: »Dies ist unmittelbar aus der geistigen Welt gegeben« (1650). Bis heute ist das Verhältnis der ökumenischen Kirchen zur Christengemeinschaft schwierig, weil unklar ist, wie Letztere das Verhältnis von biblischer Offenbarung und Steiners neuer Offenbarung sieht. Haben Steiners Texte Offenbarungsqualität oder eröffnen sie lediglich ein »Organ für Offenbarung«? Z. sieht weitere Fragen im Gottesbild, Steiners Konzeption der Selbsterlösung und in seiner Vorstellung einer Reinkarnation (1676).
Im Nachwort schreibt Z.: »Ich wünsche mir, dass Anthroposophen und Anthroposophinnen diese Arbeit nicht als Werk des Scharfrichters, sondern als wissenschaftliche Analyse lesen.« (1719) Es ist wie so oft bei der Entzauberung von (vermeintlichen) Heiligen: Die Anhänger dürften entrüstet sein – dabei sieht man die wirkliche Bedeutung einer Person und ihres Werkes erst, wenn man bereit ist, auch den historischen Kontext angemessen zu würdigen.
Abgerundet wird das großartige Werk mit einem hilfreichen Sach- bzw. Personenregister, einer 115 Seiten umfassenden Bibliographie und einem eher persönlichen Nachwort. Kann man etwas kritisieren? Nun, der Preis ist keine Freude und dürfte die wünschenswerte Verbreitung behindern.