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Ausgabe:

Juni/2008

Spalte:

604–606

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Molendijk, Arie L.

Titel/Untertitel:

The Emergence of the Science of Religion in the Netherlands.

Verlag:

Leiden-Boston: Brill 2005. XII, 311 S. gr.8° = Numen Book Series, 105. Geb. EUR 89,00. ISBN 90-04-14338-6.

Rezensent:

Sigurd Hjelde

Fragt man nach den Anfängen der allgemeinen Religionswissenschaft, erhält man in der Regel die Auskunft, dass sie bei dem deutsch-englischen Sprachwissenschaftler Max Müller zu suchen sind. In Vorträgen und Büchern hat er sich enthusiastisch und energisch für ein vergleichendes Studium aller Religionen eingesetzt, und durch die Herausgabe der Sacred Books of the East hat er europäischen Lesern fremde religiöse Quellenschriften zugänglich gemacht. Wenn man aber die Institutionalisierung dieses akademischen Unternehmens im Blick hat, liegt es am nächsten, auf jene Neuordnung des theologischen Studiums hinzuweisen, die 1876 in den Niederlanden beschlossen und im Jahr danach durchgeführt wurde; damals wurden an den öffentlichen Universitäten des Landes Religionsgeschichte und Religionsphilosophie als theologische Fächer aufgenommen, während Dogmatik und Praktische Theologie in kirchliche Hochschulen überführt wurden. Die besondere Bedeutung dieser »Säkularisierung« der niederländischen Theologie liegt auch darin, dass sie für gleichzeitige Neuansätze in anderen Ländern, vor allem in Frankreich, als Vorbild diente.
Im Hinblick auf die zentrale Rolle, die niederländische Religionshistoriker nicht nur in der Anfangsphase, sondern auch in der späteren Geschichte der Religionswissenschaft gespielt haben, ist die 2005 vorgelegte Monographie von Arie L. Molendijk, seit 1999 Professor für Geschichte des Christentums an der Rijksuniversität Groningen, von größtem Interesse. Hier wird zum ersten Mal der Versuch gemacht, ein Gesamtbild von der entstehenden niederländischen Religionswissenschaft zu zeichnen. Wertvoll an dieser Darstellung ist nicht zuletzt die Art und Weise, wie sowohl der internationale als auch der fächerübergreifende Charakter des akademischen Religionsstudiums hervortreten, wobei im niederländischen Kontext dessen enge Verbundenheit mit der theologischen Tradition von besonderer Bedeutung ist.
Im ersten Kapitel (»Introduction«) stellt M. seine Arbeit in die fachhistorische Diskussion und plädiert dabei nicht nur für eine möglichst offene Auffassung, was die Frage der ideen- und forschungsgeschichtlichen Wurzeln der Religionswissenschaft be­trifft, sondern auch für einen dementsprechend breiten Ansatz in der historiographischen Arbeit. Er warnt mit Recht vor einer Ge­schichtsschreibung aus der »teleologischen« Perspektive, innerhalb derer die heutigen Disziplingrenzen allein Blickwinkel und Fragestellungen bestimmen.
Eine einleitende Funktion ist auch dem zweiten Kapitel (»Reputation«) zugedacht, in dem M. das internationale Ansehen der nie­derländischen Religionswissenschaft thematisiert und auf folgende drei Faktoren zurückführt: die Institutionalisierung derselben innerhalb des öffentlichen Universitätssystems, das internationale Prestige der ersten Fachvertreter sowie den niederländischen An­teil an der Religionsphänomenologie. Das sind alles interessante Perspektiven, nur fragt man sich, ob nicht die relativ eingehende Erörterung der Religionsphänomenologie, die bis weit ins 20. Jh. hineinführt, streng genommen den zeitlichen Rahmen dieser Arbeit sprengt.
Die Mitte der Untersuchung M.s machen die Kapitel III–VII aus. Besondere Aufmerksamkeit wird C. P. Tiele zuteil, dem ersten Inhaber des Leidener Lehrstuhls; sein Religionsbegriff und sein evolutionistisches Interpretationsmuster werden in den Kapiteln V: »Tiele on Religion« und VI: »Religious Development: Tiele’s Paradigm of the Science of Religion« eingehend untersucht und analysiert. Das Schwergewicht liegt dabei auf Tieles Gifford Lectures aus den Jahren 1896 bzw. 1898, aber frühere und spätere Texte werden zum Vergleich ebenfalls herangezogen.
In Anbetracht der dominierenden Stellung Tieles – in seiner Heimat wie in der internationalen Fachgemeinschaft – darf diese Konzentration auf eben seine grundlegenden Ideen wohl als berechtigt gelten. Im vorangehenden Kapitel (IV: »Conceptualizing Science of Religion«) kommt – neben Tiele – auch P. D. Chantepie de la Saussaye, der 1877–1898 den religionshistorischen Lehrstuhl in Amsterdam innehatte, dann aber auf einen Lehrstuhl für Ethik in Leiden überwechselte, zu seinem Recht. Sein internationaler Ruhm basiert bekanntlich auf dem groß angelegten »Lehrbuch der Religionsgeschichte«, das sowohl ins Englische als auch ins Französische übersetzt wurde und – durch vier deutsche Ausgaben – mehrere Jahrzehnte hindurch seine Stellung als internationales Standardwerk behaupten konnte. Dessen erster Ausgabe sowie dem (nur) hier verwendeten Begriff der Religionsphänomenologie widmet M. besondere Aufmerksamkeit. In seiner Erörterung der Frage, was La Saussaye unter diesem Begriff verstand und was ihn zum Gebrauch eben dieses Terminus’ veranlasst hatte, bringt er den deutschen Philosophen Eduard von Hartmann ins Spiel, auf den La Saussaye in seinem Lehrbuch mehrmals hinweist.
Neben Tiele und Chantepie de la Saussaye beschäftigten sich viele andere Gelehrte – innerhalb und außerhalb der Universität – mit religionswissenschaftlichen Themen. Zu jener Zeit lagen, wie M. sowohl in Kapitel III (»Institutionalization«) als auch in Kapitel VII (»Ethnology and Religion«) betont, die heutigen Disziplinengrenzen noch nicht fest; so ließe sich das Entstehen der Religionswissenschaft im weiteren Sinn des Wortes als »a joint enterprise of people from various backgrounds« bezeichnen. Als einen Meilenstein auf dem Weg zur akademischen Professionalisierung be­trachtet M. die Herausgabe der großen Schriftenreihe De voornaamste godsdiensten (1863–1884), die Initiative eines führenden Verlegers (A. C. Kruseman), dem es gelang, eine Reihe anerkannter Spezialis­ten (u. a. R. A. P. Dozy, C. P. Tiele, A. Kuenen, A. Pierson, J. H. C. Kern) für sein Unternehmen zu gewinnen. Hier zeigten sich einzelne Autoren, so M., als Vertreter einer neuen, komparativen Methode, aber die öffentliche Debatte, die den Prozess der Institutionalisierung vorantrieb, habe nicht so sehr die Einführung einer neuen akademischen Disziplin als ihr wesentliches Anliegen vor Augen gehabt als vielmehr eine Neustrukturierung des theologischen Unterrichts. Vor diesem Hintergrund könnte man also das Endergebnis, die Errichtung der neuen Lehrstühle, am ehesten als einen Sieg der liberalen Richtung innerhalb der Theologie interpretieren.
Im letzten Hauptkapitel (Kapitel VIII: »Representation: The 1883 Colonial and Export Trade Exhibition in Amsterdam«) geht es M. darum, die heranwachsende Religionswissenschaft in eine weitere Perspektive hineinzustellen. An einem niederländischen Beispiel untersucht er, wie Religionen und religiöse Lebensbereiche zur Zeit des Kolonialismus vor einem größeren Publikum dargestellt wurden, und wie sich Ethnologen und Religionshistoriker an diesem Projekt beteiligten.
Zweifellos hat M. mit diesem Buch einen verdienstvollen Beitrag zur Geschichtsschreibung der Religionswissenschaft geliefert. Er informiert gründlich und sachkundig über die niederländische Fachgeschichte und stellt dieselbe in einen größeren internationalen Zusammenhang, indem auch relevante wissenschaftstheoretische Fragestellungen fruchtbar gemacht werden. Über Stoffauswahl und Struktur lässt sich natürlich immer streiten – so auch hier. M. bietet keine geradlinige, chronologische Berichterstattung, die sozusagen aus einem Guss konzipiert worden wäre, sondern setzt Schwerpunkte, die jedoch im großen Ganzen sinnvoll ausgewählt und organisch miteinander verbunden sind.