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Ausgabe:

März/1997

Spalte:

259–261

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Leschert, Dale F.

Titel/Untertitel:

Hermeneutical foundations of Hebrews. A study in the validity of the Epistle’s interpretation of some core citations from the psalms.

Verlag:

New York: The Edwin Mellen Press 1994. 286 S. gr. 8° = NABPR dissertation series, 10. Lw. $ 99,95. ISBN 0-7734-2860-7.

Rezensent:

Hermut Löhr

Die vorliegende Arbeit entstand unter der Anleitung von Daniel P. Fuller am Fuller Theological Seminary in Pasadena, Kalifornien. Der Vf. wagt sich an ein heikles hermeneutisches Grundsatzproblem im Zusammenhang antik-jüdischer und frühchristlicher Schriftauslegung. Die Verwendung atl. Zitate für die christologische und soteriologische Argumentation des Hebr soll der Legitimitätsprüfung unterzogen werden: Ist der Umgang des Hebr mit dem AT nachvollziehbar und überzeugend? Steht und fällt die Überzeugungskraft der Botschaft des Hebr nicht auch mit der Plausibilität seiner Exegesen?

Der bisherigen Forschung zum Thema wirft L. ­ m. E. zu pauschal ­ vor, entweder bei der Beschreibung des Befundes stehengeblieben zu sein (5) oder gleichsam Entschuldigungen für einen allgemeinen, hermeneutischen Plausibilitäten nicht entsprechenden Umgang mit dem Alten Testament zu suchen (6-15).

Die aufgeworfene Frage erscheint nur auf den ersten Blick naiv. Gewiß ist es vornehmliche Aufgabe der Exegese, den Befund zu eruieren und im historischen Kontext, d. h. der frühjüdischen Rezeption des AT und vergleichbarer paganer Konzepte (etwa der Homer-Auslegung oder auch juristischer Exegese) darzustellen; und die detaillierte Arbeit der letzten Jahre gerade zu diesen Themen hat spürbare Erkenntnisfortschritte gezeitigt. Dennoch bleibt die Frage: Kann man sich systematisch-theologisch oder in der Verkündigung mit einer Botschaft auseinandersetzen, deren argumentativer Unterbau nicht überzeugt?

Freilich muß sich eine Arbeit, die sich den vom Hebr provozierten hermeneutischen Fragen dezidiert zuwendet, gerade auch an den Antworten messen lassen, die sie zu geben vermag.

L. widmet sich nach einer Darstellung seiner Sicht der Forschungslage (1-15) dem fundamentalen hermeneutischen Problem in seiner "Introduction" (l5-21). Der Gedankengang des Hebr entwickele sich anhand einiger weniger "core citations" L. nennt die Zitaten-Katene in Kapitel l, Ps 8,4-6; Ps 95,7-11; Ps l10,4 und Jer 31,31-34. Aus diesen Texten werden ausgewählt Ps 45,6 f. (23-78), Ps 8,4-6, (79-l21), Ps 95,7-l1 (123-197) sowie Ps l10,4 in Verbindung mit Gen14, 18-20 in Hebr 7 (199-241).

Diese Einteilung wird überlappt durch die andere, die nach der Einleitung unterscheidet zwischen "Exegesis" (23-170), "Methodology" (171-241), welche grundlegendere Fragen nach der Gültigkeit ("validity") des Umgangs mit dem alttestamentlichen Text im Vergleich zum Midrasch und in Hinblick auf die Typologie anhand der konkreten Beispiele aus Hebr. 3 f. und 7 stellt, und einer die Studie beschließenden "Conclusion" (243-256). Beigegeben ist ein thematisch stark gegliedertes, zumal die angelsächsische Forschung reich dokumentierendes Literaturverzeichnis, während Register fehlen.

L. wählt zentrale Beispiele der Schriftbenutzung des Hebr; und ginge es um eine Detailuntersuchung zur exegetischen Methodik, wäre die Beschränkung zu rechtfertigen. Daß man jedoch das angedeutete hermeneutische Grundsatzproblem ohne Analyse der Rezeption von Jer 31 oder von Hebr 11 angemessen bewältigen kann, ist zweifelhaft. Die Beschränkung auf Psalmzitate überzeugt nicht; andererseits wird die naheliegende Frage nach dem Umfang, dem hermeneutischen Status und der Auslegung des Psalters und seiner Einzeltexte im religiösen Umfeld nicht gestellt.

L. kommt nach detaillierten und in vielem überzeugenden, öfter jedoch auf das gewünschte Ergebnis hin zu sehr forcierten, Einzelexegesen zu dem Ergebnis, daß der Hebr in seinem Umgang mit dem AT nirgends die Prinzipien der "historical-grammatical hermeneutics" verletze.

Man vermißt eine eigene Erörterung dieser für L. essentiell-menschlichen, überzeitlichen und transkulturellen (7) Prinzipien. Gemeint sein dürfte ein doch wohl an den syntaktischen und semantischen Regeln der jeweiligen Sprache orientiertes Bemühen um das vom Autor des Textes selbst Intendierte. L. stellt nicht die so wichtige Frage nach dem historischen Ort der Plausibilität solcher Prinzipien. Blicken wir etwa auf die Exegese Philos, so finden wir bei ihm (entgegen dem auch von L. weiter tradierten Vorurteil) durchaus nicht nur allegorische, sondern natürlich auch literale Auslegung, die aber nicht als ausreichend angesehen wird. D. h. es stellt sich die Frage nach hermeneutischen Hierarchien.

Für die Orientierung an der Autorenintention wie für die Unterscheidung von Sinn und Bedeutung eines Textes beruft sich L. auf die bei uns viel zu wenig beachteten, doch gerade für die neuere hermeneutische Diskussion um verschiedene Lektüren und Sinne des Textes hilfreichen Arbeiten von Eric Donald Hirsch jr. Gerade in Hinsicht auf die Psalmen ist die Frage nach der Autorenintention freilich differenzierter zu bedenken, worauf etwa der Begriff des "canonical shape" oder die Einsicht einer sekundären Zuschreibung von Psalmengruppen an konkrete Gestalten aus der Geschichte Israels aufmerksam machen kann. Ist die von der modernen atl. Exegese im Idealfall erschlossene Intention des Dichters für den Hebr überhaupt zugänglich gewesen? Die vorgängige Klärung solcher historischer Fragen ist für ein systematisch-theologisches Gespräch mit den frühchristlichen Konzepten unabdingbar. L. berücksichtigt zwar immer wieder auch die antike jüdische und christliche Auslegungsgeschichte der betreffenden Schriftstellen, bleibt aber zu einseitig an der Frage nach der "richtigen" Interpretation der biblischen Texte orientiert.

Die atl. Schriftstellen gewinnen jedoch für den Hebr eine über das vom ursprünglichen Autor Intendierte hinausgehende Bedeutung; sie werden in einen weiteren, zuletzt von einer typologischen, auf Christus zulaufenden Geschichtsauffassung geprägten, Horizont gestellt.

Indem L. den Hebr als Zeugnis typologischer Schriftauslegung (vor allem zu Hebr 7) auffaßt und ihn von der Allegorese Philos oder dem Midrasch der rabbinischen Schrifauslegung positiv abzusetzen sucht, transportiert er nicht nur ein schablonenhaftes und nicht in optimam partem würdigendes Bild frühjüdischer Schriftdeutung. Er gewinnt so auch kein wirklich überzeugendes Argument zugunsten der Schriftauslegung im Hebr. Teilweise spürt L. dies selbst, wenn er formuliert (253): "Herein lies the real hermeneutical difficulty with typology: in understanding the presupposi-tions upon which the NT writers constructed this method of interpretation and the function which they intended it to serve." In der Anwendung geht die typologische Textauslegung genauso über die Autorenintention hinaus wie etwa die Allegorese. Die Frage bleibt, ob das von der Typologie zugrundegelegte Geschichtsbild einzuleuchten vermag. Und wenn die Typologie des Hebr ihre Pointe nicht so sehr in der Relation von atl. bezeugtem und in Jesus von Nazareth faßbarem geschichtlichen Geschehen findet, sondern vielmehr die im AT berichteten Ereignisse als "divinely intended illustrations of spiritual realities" (254) ansieht, wie L. zu Recht präzisiert, so ist damit das Plausibilitätsproblem nicht gelöst. Die Ausführungen des Hebr. sind eben kaum als "controlled by the remembered life and ministry of Jesus" (253) zu verstehen.

L. nähert sich dem aufgezeigten Problem mit noch zu wenig differenzierender hermeneutischer Reflexion. So muß er zuletzt zur Rechtfertigung der typologischen Schriftanwendung des Hebr zu einer vagen Korrespondenztheorie der Wahrheit Zuflucht nehmen (256), die hermeneutisch nicht mehr zu kontrollieren ist. Dem Exegeten böte sich dagegen die Möglichkeit, den hermeneutischen Ansatz des Hebr im Kontext seiner Zeit (und d. h. auch: im Kontext anderer frühchristlicher Schriftauffassungen) zu beschreiben und sodann aufgrund seiner Präsuppositionen und Leistungsfähigkeit zu bewerten. Wenn das Kriterium der Autorenintention hingegen absolut gesetzt wird, ist ein fruchtbares Gespräch mit anderen hermeneutischen Entwürfen nicht mehr möglich. Auch bleibt die Berufung auf ein die Typologie plausibilisierendes Geschichtskonzept ohne eingehendere Begründung unbefriedigend.

Störend wirken in der Arbeit öfter auftretende unpräzise Formulierungen (z. B. 17 u. ö.: "Israel’s monothestic faith", 21: Jer. 31 als "undisputed messianic prophecy"; 81 Anm. 5: "almost superstitious avoidance of the divine name which characterized later Judaism"; 175: "conversion of the emperor Constantine elevated it [i.e. Christiannity; H. L.] to the status of the state religion"; 183: halakah" und haggadah" als "sub-categories" des Midrasch als literarisches Genus). Moderne Autoren müssen sich manche Eigenmächtigkeit gefallen lassen; so erhält Friedrich Giesebrecht den schönen neuen Vornamen Greifswald (47 Anm. 83; 276).