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Ausgabe:

Juni/2008

Spalte:

587–598

Kategorie:

Aufsätze

Autor/Hrsg.:

Dieter Grimm

Titel/Untertitel:

Nach dem Karikaturenstreit: Brauchen wir eine neue Balance zwischen Pressefreiheit und Religionsschutz?

A.


Die Forderung nach rechtlichen Reaktionen


In dem 2005 ausgebrochenen, 2006 eskalierten Karikaturenstreit, der 139 Menschen das Leben kostete, haben Religionskonflikte eine unvermutete Präsenz und Nähe gewonnen. Neu daran war vor allem, dass ein lokaler Vorgang, die Veröffentlichung einiger Zeichnungen in dem Provinzblatt eines kleinen nordeuropäischen Landes, globale Protestaktionen solchen Ausmaßes auslöste. Möglich wurde dies zum einen durch die wachsende Multikulturalität europäischer Gesellschaften, ohne die derartige Veröffentlichungen kaum Anstoß erregt hätten, zum anderen durch die moderne Informationstechnik, die es erlaubt, binnen kürzester Zeit weltweiten Protest zu mobilisieren und das Ursprungsland auch aus der Ferne zu bestrafen. Die Geschehnisse haben sich in dieser Form bislang nicht wiederholt. Da die Bedingungen aber fortbestehen, kann es jederzeit erneut dazu kommen. Deswegen ist dem Konflikt schnell die Diskussion gefolgt, wie im Recht auf diese Vorgängen reagiert werden soll.

Umstritten ist freilich schon, ob überhaupt rechtliche Konsequenzen nötig sind. Viele sehen dafür keinen Grund. Meinungs- und Pressefreiheit dürften nicht vor religiös motivierter Gewalt zurückweichen. Andere setzen auf eine Selbstzensur der Medien. Es erhebt sich aber auch der Ruf nach neuen gesetzlichen Verboten. So wie der Einzelne schon jetzt vor Beleidigungen und Personengruppen vor rassistischen Äußerungen geschützt seien, müssten auch die Religion und die religiösen Gefühle der Gläubigen vor Be­schimpfungen und Verhöhnungen geschützt werden. Ein ausgewogeneres Verhältnis zwischen Meinungs- und Pressefreiheit einerseits und Religionsfreiheit andererseits sei nötig. Das ist keineswegs allein der Standpunkt muslimischer Gruppen. Auch die bayerische Staatsregierung hat einen Gesetzentwurf angekündigt, der weitergehende Verbote von religionsrelevanten Äußerungen enthalten soll.

B.

Religion im säkularen Verfassungsstaat



I. Die Wiederkehr der Religionen


1) Solche Verbote sind westlichen Gesellschaften keineswegs fremd. Gotteslästerung war ein traditioneller Straftatbestand in allen europäischen Ländern. Er kommt sowohl im kodifizierten Recht Kontinentaleuropas als auch im angelsächsischen Common Law vor, lieh seinen Schutz allerdings nicht der Religion überhaupt, sondern nur der hier dominierenden Religion und dem christlichen Gott. Das Strafrecht der Vergangenheit hatte wie alles Recht einen transzendentalen Grund. Es vollstreckte Gottes Wille und bekämpfte die Sünde. Weil sie sich gegen die transzendentale Legitimationsgrundlage der Sozialordnung richtete, galt die Gottesläs­terung bis tief ins 18. Jh. hinein als verabscheuungswürdigstes Verbrechen. Gotteslästerung wurde mit dem Tode bestraft, und selbst auf der unterlassenen Anzeige standen schwere Strafen.

Erst als im Zuge der Aufklärung die vertragliche Legitimation von Herrschaft die transzendentale Legitimation verdrängte und die Sicherung individueller Freiheit statt tugendhaften Lebens zum Staatszweck erhoben wurde, begann das Strafrecht sich vom Sündenkatalog zu emanzipieren. Blasphemie verschwand zwar nicht sogleich aus dem Strafrecht, verlor aber ihre Spitzenstellung in der Verbrechenshierarchie und trat in der Bedeutung hinter den Schutz der Persönlichkeit zurück. Zugleich setzte eine Umstellung des Schutzguts von Gott auf die religiösen Gefühle der Gläubigen und den sozialen Frieden ein, so schon im vorrevolutionären preußischen allgemeinen Landrecht, prononciert dann im französischen Code Pénal von 1810.

Das bis heute geltende deutsche Strafgesetzbuch von 1871 machte die Gotteslästerung in § 166 zum Straftatbestand, zusammen mit der Beschimpfung der christlichen Kirchen und mit Un­fug in Gotteshäusern. Im Zuge der Entmoralisierung des Strafrechts in den 60er Jahren des 20. Jh.s wurde die Gotteslästerung aus § 166 StGB gestrichen, das Beschimpfungsverbot jedoch beibehalten, allerdings, angeleitet durch das Grundrecht der Religionsfreiheit in Art. 4 GG, auf alle Religionen und Weltanschauungen er­streckt, andererseits in seiner Reichweite jedoch verengt. Schutzgut des neu formulierten Tatbestandes war weder Gott noch das religiöse Gefühl der Gläubigen, sondern das geordnete Zusammenleben verschiedener Bekenntnisse. Die Religionsbeschimpfung wurde daher nur noch bestraft, soweit sie geeignet war, den öffentlichen Frieden zu stören.

Dabei handelte es sich nicht um eine auf Deutschland be­schränkte Entwicklung. Ähnliche Veränderungen zeigen sich vielmehr in vielen Ländern zur selben Zeit. Die USA entdeckten, dass das Blasphemie-Verbot mit dem First Amendment der Verfassung unvereinbar war, und Großbritannien kam zu der Auffassung, dass die Beschränkung des Schutzes auf den christlichen Gott sich nicht mehr aufrechterhalten ließ. Die praktische Bedeutung der verbleibenden Normen sollte allerdings gering bleiben, nicht nur in Deutschland. Wegen Verstoßes gegen § 166 StGB und § 167 StGB, der die Störung von Gottesdiensten oder Kulthandlungen ahndet, kommt es zu etwa zehn Verurteilungen pro Jahr, wobei die Statistik nicht verrät, wie viele davon auf § 166 StGB entfallen.

Darin spiegelt sich eine allgemeine Tendenz wider, die in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s Europa veränderte. Religionsfragen verloren zusehends ihre Konfliktträchtigkeit. Die Indifferenz gegen­über Religion wuchs. Vor pauschalen Erklärungen muss man sich hüten, weil die Verhältnisse sehr unterschiedlich sind und selbst »der Westen« kein einheitliches Bild abgibt. Ins Gewicht fällt aber sicher, dass Religion als Sinnstifter in einer kontingenten Welt, als Erklärung für das rational Unbegreifbare und Unbeherrschbare sowie Gottesdienst als Mittel zur Besänftigung und Gnädigstellung Gottes mit der Verwissenschaftlichung der Welt und der Beeinflussbarkeit natürlicher Abläufe immer weniger benötigt wurde. Der Bedeutungsverlust verstärkte sich dort, wo wachsender Wohlstand das Gefühl existenzieller Unsicherheit an den Rand gedrängt hatte.

Wissenschaftlich-technischer Fortschritt und steigender Wohlstand verstärkten auch die Tendenz zur Individualisierung und Mobilität in westlichen Gesellschaften, die die Befriedigung religiöser Bedürfnisse auch außerhalb traditioneller einheimischer Formen und Institutionen ermöglichte. Der »Religionsmarkt«, wie es gelegentlich in ökonomisch beeinflusster Terminologie heißt, er­weiterte sich. Das minderte zugleich die gesellschaftliche Bedeutung der christlichen Kirchen und zwingt die Konfessionen, von ihrer traditionellen Konfrontation abzulassen und zu verstärkter Kooperation überzugehen. In der Konfrontation mit nicht-christlichen Religionen oder atheistischen Einstellungen verlieren die konfessionellen Differenzen an Gewicht, und wo sie noch bestehen, sind sie den Gläubigen nur noch schwer zu vermitteln. Die Kirchen gewöhnen sich daran, dass sie in einem pluralistischen Umfeld agieren und zur Durchsetzung ihrer religiösen Anforderungen nicht mehr auf den Staat bauen können.

Das hat eine Entsprechung auf der verfassungsrechtlichen Ebene. Das Grundrecht der Religionsfreiheit, lange Zeit eines der umstrittensten, verlor juristisch betrachtet immer mehr an Bedeutung. Die Verfassungsrechtsprechung ist dafür ein Indikator. Die großen gesellschaftlichen Konflikte, die vor dem Bundesverfassungsgericht ausgetragen wurden, fanden, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht auf dem Feld der Religionsfreiheit statt. Unter den verfassungsgerichtlichen Entscheidungen zu Art. 4 und 140 GG betrifft eine erhebliche Zahl nur die pekuniäre Seite der Religionszugehörigkeit, nämlich die Kirchensteuer. Das Problem, auf welches das Grundrecht der Religionsfreiheit ursprünglich geantwortet hatte, die Glaubensspaltung und die Konfessionsstreitigkeiten bis hin zum Bürgerkrieg, waren bewältigt.
2) Darin ist seit der säkularen Wende von 1989/90 ein Wandel eingetreten. Religiöse Gegensätze, die lange Zeit vom politischen Ost-West-Gegensatz überlagert waren, kommen wieder an die Oberfläche. Konfliktreiche Grenzen, die lange Zeit nur als politische wahrgenommen wurden, geben sich in ihren tieferen Schichten als Religionsgrenzen zu erkennen. Der von den großen monotheistischen Religionen erhobene Absolutheitsanspruch wird vielerorts wieder prononcierter vertreten. Auch im Christentum regen sich fundamentalistische Strömungen, vorerst in Nord- und Südamerika stärker als in Europa. Die Religionen treten als Kritiker an dem rationalen Weltbild der westlichen Moderne in Erscheinung und politisieren sich. Es ist von einem Prozess der »desecu­larization« die Rede.

Allerdings handelt es sich nicht um ein Wiederaufleben der alten innerchristlichen Konflikte. Vielmehr sind es andere Religionen, die zwar wie das Christentum einen Anspruch auf alleinigen Wahrheitsbesitz erheben, aber Wandlungsprozesse, die das Christentum im Lauf der Zeit durchlaufen hat, nicht mitgemacht haben: die Historisierung und Kontextualisierung der Offenbarung, die zu einer distanzierteren, plurale Deutungen zulassenden Betrachtung heiliger Texte führt; die Möglichkeit, zwischen dem Irrtum und dem Irrenden zu unterscheiden und unüberbrückbare inhaltliche Gegensätze durch Toleranz gegenüber Andersgläubigen zu entschärfen; die Gewöhnung an einen Staat, der sich nicht mit der Religion identifiziert, und die Anerkennung einer von religiösen Normen unabhängigen weltlichen Rechtsordnung.

Die Folge ist, dass die Anhänger dieser Religionen auch in westlichen Gesellschaften ihren religiösen Anforderungen entsprechend leben wollen und diese gelegentlich sogar allgemeinverbindlich zu machen versuchen. Daraus entstehen neue Konfliktlinien. Generelle Rechtsnormen, die hier keinen spezifischen Religionsbezug haben, stoßen sich mit religiösen Anforderungen von Zuwanderern. Daraus ergeben sich die zahlreichen kleineren Konflikte im Schulrecht, im Arbeitsrecht, im Verkehrsrecht und die großen Konflikte um Meinungsfreiheit und Wahrheit, um die Geschlechterrollen und das Verhältnis von göttlicher und weltlicher Ordnung. Das wird heute besonders sichtbar im Islam, ist aber keineswegs an eine bestimmte Religion gebunden. Es gibt christliche und jüdische Fundamentalismen, sogar hinduistische Fundamentalismen innerhalb der jeweiligen Religionsgruppen, die deswegen genauso wenig undifferenziert betrachtet werden dürfen wie der Islam.

Im Islam erhalten Absolutheitsansprüche im Gegensatz zu den meisten anderen Religionen aber dadurch besonderes Gewicht, dass sich zahlreiche Staaten mit ihm identifizieren und zwischen Religion und Politik nicht trennen. Viele islamische Gesellschaften haben überdies an den westlichen Modernisierungsprozessen nicht nur nicht teilgenommen, sondern lehnen sie ausdrücklich ab und finden gerade in ihrer Religion die Rechtfertigung dafür. Schließlich spielt es eine Rolle, dass der größte Teil der Zuwanderer in Europa aus der islamischen Welt kommt. Für Religionen, die den Modernisierungsprozess westlicher Gesellschaften nicht mitvollzogen haben, wie es das Christentum, wenn auch zögernd und warnend, am Ende getan hat, ist schon die Konfrontation mit westlichen Normen und Lebensstilen und die damit verbundene Kontingenzerfahrung existenziell bedrohlich. Abschottung gegenüber den Aufnahmegesellschaften, aber auch der Kampf gegen sie sind die Folge, wobei Gewaltanwendung nicht durchweg verpönt ist.

Für die westlichen Gesellschaften, wenn sie kein allzu kurzes Gedächtnis haben, ist dies eine Begegnung mit der eigenen Geschichte, die ihrerseits von Kreuzzügen, Inquisition, Ketzer-Verbrennungen, Buchverboten etc. durchzogen ist, die erst in einem langwierigen Prozess überwunden werden konnten, bis ein fried­liches Zusammenleben unter den Bedingungen der Anerkennung von Pluralität erreicht wurde. Für das Verständnis der gegenwärtigen Konfliktlagen ist es aber wichtig, sich klarzumachen, dass diese Überwindung unterschiedlich interpretiert wird: vom Westen als Abkehr von einer irrigen Haltung und als Fortschritt, vom Islam und von anderen Religionen sowie Strömungen im Christentum als Relativismus und Dekadenz. Diese unterschiedliche Bewertung verleiht vielen Konflikten ihre Schärfe. Sie steht auch hinter dem Karikaturenstreit.

II. Der säkulare Verfassungsstaat als Freiheits- und Friedensgarant


1) Daraus ergibt sich die Frage, wie die Überwindung der Religionskonflikte im Westen gelungen ist. Die Antwort heißt: durch den säkularen Verfassungsstaat. Seine Entstehung ist Teil des länger­fristigen Vorgangs der Säkularisierung, dessen Anfänge tief ins Mittelalter zurückreichen. Der entscheidende Schritt wurde aber erst in Reaktion auf die Glaubensspaltung des 16. Jh.s getan, die der mittelalterlichen Ordnung den Boden entzog, nicht weil sie die Maßgeblichkeit der göttlichen Offenbarung für die menschliche Lebensführung und die irdische Ordnung in Frage gestellt hätte, sondern weil der Inhalt der göttlichen Offenbarung umstritten wurde und der Streit sich bis zum Bürgerkrieg steigerte. Die Bei­legung des Bürgerkriegs und die Wiederherstellung des inneren Friedens wurden so zur dringendsten Aufgabe der Politik, deren Lösung in der Etablierung des säkularen Verfassungsstaats be­stand.

Das war freilich nicht Ereignis, sondern Prozess, der zudem nicht linear, sondern reich an Umwegen und Rückschlägen, örtlich und zeitlich unterschiedlich verlief und von Land zu Land auch verschiedene Variationen hervorbrachte. Insbesondere nahmen die Bestandteile des Begriffs »säkularer Verfassungsstaat« nicht gleichzeitig Gestalt an und waren nicht notwendig miteinander verbunden. Erst zusammengenommen ergeben sie aber diejenige Errungenschaft, die ein friedliches Zusammenleben der Anhänger unterschiedlicher Glaubensbekenntnisse unter Anerkennung von Verschiedenheit ermöglicht hat. Wegen seiner Dauer und Vielgestaltigkeit kann der Prozess hier nicht nachgezeichnet werden. Vielmehr wird nur das Produkt beschrieben, und auch dieses nur auf hoher Abstraktionsebene.

Als Staat betrachten wir im Unterschied zum mittelalterlichen Ge­meinwesen diejenige Herrschaftsorganisation, welche die ehedem verstreuten, auf zahlreiche unabhängige Träger verteilten, nicht als selbständige Funktion, sondern als Annex anderer Rechts­positionen ausgeübten Prärogativen in einer Hand vereinigte und zur umfassenden öffentlichen Gewalt im Singular verdichtete, deren Träger auf die Ausübung politischer Herrschaft spezialisiert war und zur Erfüllung seiner Pazifizierungsaufgabe die Befugnis reklamieren musste, ein von der göttlichen Offenbarung unabhängiges Recht zu setzen und es mit Hilfe des Gewaltmonopols gegen alle Widerstände durchzusetzen, während umgekehrt die Gesellschaft aller Machtmittel entkleidet und in diesem Sinn privatisiert wurde.

Der säkulare Staat ist derjenige Staat, der die Identifikation mit der Religion abstreift und sich von ihrem Wahrheitsanspruch un­abhängig macht. Er leitet seine Legitimation nicht mehr von Gott ab, sondern begründet seine Herrschaftsberechtigung innerweltlich. Er steht nicht im Dienst des göttlichen Heilsplans und fühlt sich nicht für Tugend und Seelenheil seiner Untertanen verantwortlich, sondern strebt ein irdisch definiertes Gemeinwohl an, dessen Kern die Sicherheit der Einzelnen vor Aggressoren von Außen und Rechtsbrechern im Innern ist. Die Kehrseite dieses Vorgangs besteht darin, dass die Frage der religiösen Wahrheit individualisiert und privatisiert wird, Sache der Einzelnen und der verschiedenen Religionsgemeinschaften, deren Wirken mit der Funktion des säkularen Staats vereinbar ist, solange sie sich im Rahmen der staatlichen Friedensordnung halten.

Der säkulare Verfassungsstaat schließlich ist derjenige Staat, der seine Herrschaftslegitimation vom Konsens der Herrschaftsunterworfenen ableitet, also der demokratische Staat, in dem die Aus­übung von Herrschaft zeitlich und gegenständlich als Auftragsangelegenheit verstanden wird, für deren Wahrnehmung sich die Auftragnehmer vor dem Auftraggeber zu rechtfertigen haben, ferner derjenige Staat, in dem die gesamtgesellschaftlich verbindliche Ordnung in einem diskursiven öffentlichen Prozess änderbar festgelegt wird und Freiheit und Gleichheit der Bürger gegenüber dem Staat grundrechtlich abgesichert sind. Zum Grundrechtsbestand gehört die Religionsfreiheit als gleiche Freiheit aller. Sie ist dem demokratischen Willensbildungsprozess also vorgeordnet, so dass der Staat, um das grundrechtliche Versprechen der Religionsfreiheit und Religionsgleichheit einlösen zu können, selbst religiös und weltanschaulich neutral sein muss.

Das bedeutet, dass er die Religionsfreiheit nicht nur wahrt, sondern Religion und Religionsgemeinschaften als kollektiven Ausdruck individuellen Bekenntnisses und individueller Werthaltungen anerkennt, die Religion auch nicht aus der öffentlichen Sphäre verdrängt, sondern ihr Raum gibt und erforderlichenfalls sogar verschafft, also das Gegenteil eines gegen die Religion gerichteten säkularen Fundamentalismus. Gerade weil Religionen absolute Wahrheitsansprüche erheben, die einander ausschließen, schützt er jede in ihrer Religionsausübung, verbietet aber auch jeder die Erhebung ihrer Wahrheit zur einzig erlaubten sowie die Unterdrückung Andersgläubiger oder Nichtgläubiger. Die Religionen werden also nicht zur Aufgabe ihres Wahrheitsanspruchs gezwungen. Sie können ihre jeweiligen Wahrheitsansprüche vielmehr ge­rade deswegen aufrechterhalten, weil der Staat sich aus Wahrheitsfragen heraushält.

Voraussetzung dafür ist eine Differenzierung zwischen innen und außen. Der Absolutheitsanspruch der Religion entfaltet sich in der Binnensphäre der Religionsgemeinschaften, erstreckt sich aber nicht auf das Außenverhältnis. Freie Entfaltung der religiösen Selbstverständnisse gibt es unter den Bedingungen von religiöser Heterogenität nur, wenn zugleich der Anspruch auf gesamtgesellschaftliche Geltung zurückgewiesen wird und der Staat diese Grenze sichert. Insofern bedingen Religionsfreiheit und säkularer Staat einander. Die Wahrung des inneren Friedens unter Aufrechterhaltung der Freiheit auch in Religionsdingen beruht darauf. Aus diesem Grund ist der säkulare Verfassungsstaat eine Errungenschaft, die in dem neu entbrannten Kampf gegen ihn nicht geopfert werden darf.
2) Die Religionsfreiheit im säkularen Verfassungsstaat hat eine individuelle und eine kollektive Seite. Zur individuellen Seite gehören vor allem die freie Entscheidung des Einzelnen, ob er sich zu einer Religion bekennt oder nicht und, falls er sich zu einer Religion bekennt, zu welcher; die freie Entscheidung, dieses Bekenntnis publik zu machen oder für sich zu behalten; die Freiheit, öffentlich für seine Religion einzutreten und sich gegen andere Religionen auszusprechen; die Freiheit, nach den Geboten seiner Religion zu leben. Zur kollektiven Seite gehört die Freiheit der Religionsgemeinschaften, den Inhalt ihrer Religion und die daraus folgenden Verhaltensanforderungen für die Gläubigen selbst zu definieren und die Religion gemeinsam zu praktizieren. Ebenso besteht aber die Freiheit, aus einer Religionsgemeinschaft auszutreten und neue Religionsgemeinschaften zu bilden.

Aus dieser Freiheit folgen bestimmte Anforderungen an den Staat. Er darf keine Religionsgemeinschaft privilegieren, also auch nicht den im eigenen Kulturkreis heimischen Religionen Vorzugsrechte einräumen. Das ist allerdings zu unterscheiden von den Prägungen, welche Kultur und Lebenswelt innerhalb eines Landes von der Religion empfangen hat, ohne dass sie heute noch als spezifisch religionsgebunden angesehen würden. Ferner darf der Staat Religionen nicht bewerten. Was eine Religionsgemeinschaft als religiös gefordert definiert, ist vom Staat hinzunehmen. Er hat keine Befugnis, den Gläubigen vorzuhalten, was ihre Religion eigentlich von ihnen verlangt, ihnen also religiösen Irrtum zu unterstellen, oder religiösen Anforderungen deswegen Schutz zu verweigern, weil sie von der öffentlichen Lehre der Religionsgemeinschaft nicht gedeckt sind. Er darf sich von den Religionsgemeinschaften auch nicht für Zwecke des Orthodoxie-Schutzes in Anspruch nehmen lassen.

Die Religionsfreiheit bleibt allerdings Freiheit im Staat, Religionsgemeinschaften sind nicht extraterritorial. Die Religionsfreiheit gilt deswegen nicht schrankenlos. Schranken folgen zunächst aus der gleichen Freiheit der Religionen. Deswegen ist die Erstre­-ckung religiöser Wahrheitsansprüche auf die Gesamtgesellschaft, auch wenn dies innerreligiös gefordert ist, unzulässig. Der Staat muss solchen Ansprüchen entgegentreten. Man darf für seine Religion werben, man darf aber niemanden zur Übernahme einer Religion zwingen. Schranken folgen weiter aus anderen verfassungsrechtlich gesicherten Rechtsgütern. Die Religionsausübung ist an Ge­setze gebunden, die religionsneutral dem Schutz anderer Rechtsgüter dienen und dabei die Religionsfreiheit nicht unverhältnismäßig beschneiden.

Durch die wachsende Religionsvielfalt und das Auftreten fremder Religionen vergrößert sich allerdings die Konfliktzone. Es kommt vermehrt vor, dass Verhaltensweisen, die hier keinen Religionsbezug haben, für Zuwanderer religiös bestimmt sind. Fragen der Kleidung und Ernährung, aber auch schulische Unterrichtsgegenstände bilden Beispiele dafür. Daraus erwächst das Verlangen, aus religiösen Gründen etwas nicht tun zu müssen, was allgemein geboten ist, oder aus religiösen Gründen etwas tun zu dürfen, was allgemein verboten ist. Es geht also um eine Erweiterung des Freiheitsrahmens, der der Allgemeinheit gezogen ist. Hier können freilich in beträchtlichem Umfang Dispense von allgemein geltenden Rechtsnormen helfen. Maßgeblich dafür ist eine Abwägung zwischen der Bedeutung der religiösen Gebote einerseits und dem Gewicht des Schutzzwecks der allgemein geltenden Ge- oder Verbotsnormen andererseits.

Es gibt aber auch das umgekehrte Bestreben, innerhalb der Religionsgemeinschaft den Freiheitsrahmen, der für die Allgemeinheit gilt, zu verengen. Den Angehörigen einer Religionsgemeinschaft soll dann etwas verboten werden dürfen, was allen anderen erlaubt ist, oder etwas geboten werden dürfen, was allgemein ins freie Be­lieben der Einzelnen gestellt ist. In diesem Bereich ist die Anpassungsfähigkeit des Staates wesentlich geringer. Die Religionsfreiheit gilt auch im Innenbereich der Religionsgemeinschaften nicht schrankenlos. Religiöse Verhaltensanforderungen sind im Unterschied zu staatlichen Normen auf freiwillige Anerkennung durch die Gläubigen angewiesen. Weder duldet das staatliche Gewaltmonopol Gewaltmittel in den Händen von Religionsgemeinschaften noch dürfen die staatlichen Zwangsmittel in den Dienst religiöser Normen gestellt werden. Religiöse Verhaltensanforderungen, die mit Essentialia der Verfassungsordnung kollidieren, können selbst bei freiwilliger Duldung nicht vom Staat hingenommen werden.

Religionsfreiheit setzt zudem die Möglichkeit voraus, sich über die eigene Religion und andere Religionen frei zu informieren. Daraus folgt, dass es kein Recht der Religionsgemeinschaften geben kann, die Gläubigen von allgemein zugänglichen Informationen abzuschneiden. Nicht aufgebbar ist weiterhin der grundsätzliche Achtungsanspruch jedes Einzelnen als Person. Dazu ge­hört u. a. die geistige und physische Integrität. Ebenso wird man die Gleichheit der Geschlechter dazu rechnen. Diese Gewährleis­tungen begrenzen auch die Elternrechte und die Rechte des Familienvaters gegenüber den Familienangehörigen. In all diesen Punkten folgt aus den Grundrechten eine staatliche Schutzpflicht für die Freiheit des Einzelnen gegenüber seiner Religionsgemeinschaft. Die Neutralität des Staates gegenüber der Religion darf sich nicht zu einer Indifferenz gegenüber seinen eigenen Prämissen ausweiten.

Da die Schranken der Religionsfreiheit wie alle Grundrechtsbegrenzungen in einem demokratischen Prozess festgelegt werden müssen, der wiederum eine ungehinderte Diskussion voraussetzt, kann schließlich keiner Religionsgemeinschaft die öffentliche Infragestellung oder Kritik ihrer Glaubensinhalte, ihrer religiösen Praxis und ihrer Ansprüche an die Gläubigen erspart werden. Innerreligiöse Diskussionsverbote haben keine Außenwirkung. Meinungs- und Medienfreiheit sind nicht weniger wichtig als Religionsfreiheit. Religionskritik bis hin zur Leugnung alles Göttlichen steht jedem frei. Religionen können keine Exemption von diesen Freiheiten verlangen. Je mehr sie allgemeine Verbindlichkeitsansprüche erheben, desto mehr müssen sie sich der öffentlichen Diskussion stellen.

III. Neue Regeln für multikulturelle Gesellschaften?


1) Damit steht noch nicht fest, ob es für die Auseinandersetzung mit Religionen im Interesse des Religionsschutzes Grenzen der Meinungs- und Pressefreiheit gibt und, wenn ja, wo sie verlaufen. Erst recht steht nicht fest, ob Karikaturen wie die dänischen erlaubt werden müssen oder verboten werden dürfen. Bevor darauf eingegangen wird, ist es allerdings hilfreich zu fragen, warum die Karikaturen in der muslimischen Welt eine derartige Empörung auslösten, dass Menschen zu Tode kamen, Todesdrohungen ausgesprochen, Kopfgelder für die Tötung von Personen ausgesetzt, Jour­nalisten entlassen und verhaftet, Zeitungen geschlossen, Botschaften gestürmt und in Brand gesetzt wurden. Auch wenn ein Gutteil der Empörung von religiösen oder politischen Nutznießern geschürt und organisiert wurde, erklärt sich ihre Breitenwirkung doch nur daraus, dass viele Muslime sich durch die Karikaturen tief verletzt fühlten.

In der Berichterstattung wurden die Reaktionen auf die Karikaturen anfangs mit einem Verbot, den Propheten Mohammed bildlich darzustellen, erklärt. Indessen ist ein derartiges Verbot als allgemeingültige islamische Lehre nicht auszumachen. Es gibt im Islam im Gegenteil eine lange Tradition von Mohammed-Darstellungen. Wohl aber finden sich Gruppen innerhalb des Islam, die von der Existenz eines solchen Verbots ausgehen. Bedeutsamer scheinen jedoch zwei andere Umstände zu sein. Der erste betrifft die Form der Darstellung, die Karikatur, die Einsichten durch Zuspitzung und Verzerrung vermittelt und ihre Wirkung dadurch erzielt, dass sie mit ihrem Gegenstand Spott treibt und ihn ins Lächerliche zieht. Der zweite Umstand besteht darin, dass diese Darstellungsform hier auf einen Gegenstand angewandt wurde, der dem gläubigen Muslim heilig ist. Mohammed ist die Zentralfigur des islamischen Glaubens, der Prophet, die außerhalb der Kritik steht und die zum Gespött zu machen nichts anderes heißt als sie zu entheiligen. Darin bestand die Kränkung.

Ob Bilder oder Worte eine Kränkung enthalten, wird in der Regel nicht schon durch die Darstellung bestimmt, sondern ist Ergebnis einer Sinndeutung durch den Betrachter oder Leser, der dabei freilich Deutungsmustern folgt, die kulturell geprägt sind und daher nicht allgemein geteilt werden. Gerade wenn es um Kränkungen und Beleidigungen geht, verhält es sich selten so, dass ein Wort oder ein Bild die Kränkung auf der Stirn trägt. Das ist nur der Fall, wenn der Gebrauch eines bestimmten Wortes bereits die Beleidigung ist und wenn im Bild das schlechthin Verbotene gezeigt wird. Regelmäßig ist es aber erst der Sinn, welcher einem Wort oder einem Bild beigelegt wird, der sie dann als Kränkung erscheinen lässt. Zwischen Bild und Text gibt es dabei graduelle Unterschiede. Bilder sind einerseits sinnfälliger als Texte und evozieren unmittelbare Vorstellungen und Reaktionen. Andererseits determinieren sie die Rezeption weniger intensiv als Texte, sind deutungsoffener und deutungsbedürftiger.

Das zeigt sich auch am Anlassfall. Nimmt man die am stärksten umstrittene Karikatur, die den Propheten mit einem Bombenhut zeigt, so sind hier zwei Dinge zusammengebracht, die in der Realität nicht gleichzeitig möglich sind: der Prophet, der 632 starb, und die Bombe, die nicht vor der Erfindung des Schießpulvers gut 600 Jahre später existieren konnte und im Übrigen nicht als Kopfbedeckung getragen wird. Der Zeichner muss sich bei der Zusam­menbringung dieser Elemente also etwas gedacht haben, legt aber den Betrachter nicht auf seine eigenen Intentionen fest. Der Betrachter muss sich einen Reim darauf machen und wird das gewöhnlich im Kontext seiner Vorstellungswelt und der aktuellen Situation tun. Nach den Medienberichten bestand dieser Reim häufig darin, dass der Prophet als jemand erschien, der den Terrorismus predigt, oder noch allgemeiner, dass die von dem Propheten gegründete Religion terroristisch sei. Darin wurde eine Beleidigung des gesamten Islam erblickt.

Das ist freilich keineswegs die einzig mögliche Deutung. Die Karikatur kann auch so gedeutet werden, dass viele Bombenattentate unter Berufung auf den Propheten oder in seinem Namen begangen werden. Das wäre dann keine Frage der Kränkung, sondern des Zutreffens. Hätte die dänische Zeitschrift Jyllandsposten einen Satz dieses Inhalts in einem Textbeitrag gedruckt, wäre kaum dieselbe Empörung entstanden. Wird der Vorfall zum Rechtsstreit, führt kein Weg an einer objektivierenden Deutung vorbei: Zwar kann nur der Betrachter Auskunft darüber geben, ob er sich oder seinen Glauben durch die Darstellung verletzt fühlt. Das heißt aber weder, dass seine Deutung der Darstellung der rechtlichen Beurteilung zu Grunde gelegt werden muss, noch dass sein Gefühl, verletzt zu sein, ausreicht, die Darstellung zu verbieten. Den Maßstab dafür gibt das Recht.
2) Deswegen ist nun die Frage zu stellen, was im säkularen Verfassungsstaat erlaubt sein muss, was ohne Verstoß gegen seine Prinzipien verboten werden kann. Nicht verbietbar ist nach den Grundsätzen des säkularen Verfassungsstaats alles, was allein gegen die Binnennormen einer Religionsgemeinschaft verstößt. Für staatliche Verbote ist eine tragfähige Grundlage im säkularen Recht nötig. Damit scheidet ein etwaiges Abbildungshindernis einer Religion als Verbotsgrund aus. Ferner kann kein Verbot anerkannt werden, alles, was einer Religion heilig ist, zum Gegenstand kritischer Erörterung zu machen. Ebenso wenig lässt sich ein Verbot rechtfertigen, sakrale Symbole oder heilige Texte nicht im Sinn der Religionsgemeinschaft zu deuten. Schließlich ist es inakzeptabel, Sakrales generell der Darstellung in Karikaturform zu entziehen. Karikaturen leisten einen eigenen Beitrag zur öffentlichen Diskussion, die für die säkularen Verfassungsstaat essentiell ist.

Was könnte umgekehrt ein Verbot religionsbezogener Äußerungen im Einklang mit den Maximen des säkularen Verfassungsstaats rechtfertigen? In Deutschland existiert bereits eine Verbotsnorm, der eingangs erwähnte § 166 StGB. Seine Verfassungsmäßigkeit ist bisher nicht in Zweifel gezogen worden. Die Tathandlung besteht im öffentlichen Beschimpfen des Inhalts eines religiösen Bekenntnisses, des Beschimpfens einer im Inland bestehenden Kirche oder anderen Religionsgemeinschaft, ihrer Einrichtungen und Gebräuche. »Beschimpfen« ist mehr als Kritik üben und etwas an­deres als verspotten. Es muss ein Element des Verächtlich-Machens enthalten. Ob das der Fall ist, ist objektiv festzustellen. Der Umstand, dass Religionsgemeinschaften oder ihre Anhänger sich beschimpft fühlen, reicht nicht.

Strafbar ist das Beschimpfen gemäß § 166 StGB aber nur, soweit es geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören. Schutzgut ist also nicht die Religion, sondern der öffentlichen Friede. Dabei handelt es sich um einen vagen Begriff. Üblicherweise wird unter öffentlichem Frieden ein Zustand allgemeiner Rechtssicherheit verstanden, dessen subjektive Entsprechung das Bewusstsein der Bürger ist, in einem solchen Zustand zu leben. Von daher lässt sich bestimmen, wann eine Störung des öffentlichen Friedens vorliegt. Das ist dann der Fall, wenn die Beschimpfung die Gefahr heraufbeschwört, dass ihre Opfer rechtswidrig angegriffen werden oder wenn Religionsgemeinschaften oder Gläubige aufgrund der Be­schimpfung die begründete Besorgnis haben, dass ihnen gegen­über die Rechtssicherheit nicht mehr gewährleistet wird.

Prüft man, ob nach dieser Norm die Publikation der dänischen Karikaturen in Deutschland untersagt ist, so lautet die erste Frage, ob sie eine Beschimpfung darstellen. Die Betroffenen haben das so gesehen, aber ihr Verständnis kann nicht maßgeblich sein, sonst hätten es die Betroffenen in der Hand, jede ihnen missliebige Äußerung zu unterdrücken. In der deutschen Verfassungsrechtsprechung zur Meinungs- und Pressefreiheit, ist der Grundsatz anerkannt, dass bei mehrdeutigen Äußerungen, diejenige, welche zur Bestrafung führt, nur dann der Entscheidung zu Grunde gelegt werden kann, wenn andere Deutungsmöglichkeiten, welche zur Straffreiheit führen würden, zuvor mit überzeugenden Gründen ausgeschlossen worden sind. Es ist unwahrscheinlich, dass es unter diesen Voraussetzungen zur Annahme einer Beschimpfung käme.

Angenommen, eine Beschimpfung wäre zu bejahen, schlösse sich die Frage an, ob diese geeignet wäre, den öffentlichen Frieden zu stören. Das wäre dann der Fall, wenn auf Grund der Karikaturen Gewaltakte gegen Muslime zu besorgen wären oder wenn sie bei ihnen begründetermaßen die Besorgnis schürten, in Deutschland nicht mehr in Frieden leben zu können. Für beides spricht nichts. Allerdings kam es im Gefolge der Karikaturen zu Gewaltakten. Jedoch gingen diese Gewaltakte von den Betroffenen aus, sie waren nicht gegen sie gerichtet. Es waren vielmehr die Betroffenen, die sich rechtswidrig verhielten. Wenn dies genügte, hätten es wiederum die Betroffenen in der Hand, durch ihr rechtswidriges Verhalten die Äußerungen oder Zeichnungen zu rechtswidrigen zu machen. Das kann nicht der Sinn der Norm sein. Aus einer Norm wie dem § 166 StGB wäre also ein Verbot der Karikaturen nicht zu begründen.

Die Frage lautet daher, ob ein zusätzlicher religionsspezifischer Schutz nötig ist. In Betracht gezogen wird ein Verbot der Verletzung religiöser Gefühle. Indessen sprechen zwei Gründe dagegen, dass ein solches Verbot einer verfassungsrechtlichen Prüfung standhielte. Zum einen würde es die öffentliche Diskussion zur Dis­position der besonderen Empfindlichkeiten einzelner religiöser Gruppen stellen. Zum anderen wäre angesichts der Vielfalt von Religionsgruppen, die es gibt, und der globalen Aufmerksamkeit, die religionsbezogene Äußerungen wie die dänischen finden können, für einen Autor nicht mehr vorhersehbar, was verboten oder was erlaubt ist. Infolgedessen könnte eine solche Norm nicht in einer den rechtsstaatlichen Anforderungen der Vorhersehbarkeit genügenden Weise formuliert werden.

Allerdings ist der säkulare Verfassungsstaat kein religionsfeindlicher Staat. Die Religionen werden anerkannt. Das ist mehr als Toleranz. Sie haben einen aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG folgenden Achtungsanspruch, den der Staat nicht nur selbst respektieren, sondern auch vor Störungen durch Dritte schützen muss. Schon jetzt ist in der Volksverhetzungsvorschrift des § 130 StGB die Religion in die Gruppenmerkmale einbezogen, bei denen die Anstachelung zum Hass strafbar ist. Ohne spezifischen Religionsbezug ist anerkannt, dass das Recht vor Äußerungen schützt, die fern jeder Auseinandersetzung in der Sache allein in der Diffamierung der Person bestehen. Einen derartigen Achtungsanspruch genießen Personen auch in ihrer Rolle als Gläubige sowie Religionsgemeinschaften als Zusammenschluss von Gläubigen. Im Wege der Interpretation lässt er sich schon jetzt auf religiöse Diffamierung anwenden. Das würde den Gesetzgeber aber nicht hindern, ein religionsspezifisches Verbot aufzustellen. In dieser engen Form wäre es als säkular begründetes zulässig. »Zulässig« darf freilich nicht mit »geboten« in eins gesetzt werden.

C.

Mehr oder weniger Redefreiheit?



Die Frage, ob multikulturelle Gesellschaften weniger oder mehr Redefreiheit benötigen, stellte sich in zwei Gerichtsurteilen aus der angelsächsischen Welt. Bei dem ersten handelt es sich um eine britische Entscheidung aus dem Jahr 1979, die erste Verurteilung wegen Blasphemie seit dem Jahre 1922. Den Anlass gab ein Gedicht, das in der Homosexuellen-Zeitschrift »Gay News« erschienen war und homosexuelle Akte von Christus und an ihm nach seinem Tod beschrieb. Das House of Lords bestätigte die Verurteilung des Autors mit drei gegen zwei Stimmen. Lord Scarman schrieb zur Begründung: »I do not subscribe to the view that the common law offence of blasphemous libel serves no useful purpose in the modern law. On the contrary, I think that there is a case for legislation extending it to protect the religious beliefs and feelings of non-Christians. … In an increasingly plural society such as that of modern Britain it is necessary not only to respect the differing religious beliefs, feelings und practices of all but also to protect them from scurrility, vilification, ridicule and contempt.« 1

Bei der zweiten Entscheidung handelt es sich um einen Fall, der 1940 in den USA entschieden wurde. Ein Zeuge Jehovas hatte in einer katholischen Wohngegend über Lautsprecher die Katholische Kirche als »Werkzeug des Satans« hingestellt und mit einer Anzahl weiterer Invektiven belegt. Er war darum wegen Friedensstörung verurteilt worden. Der Supreme Court hob die Verurteilung auf. Im Urteil schrieb Justice Roberts zur Begründung: »In the realm of religious faith, and in that of political belief, sharp differences arise­. In both fields the tenets of one man may seem the rankest error to his neighbor. To persuade others to his own point of view, the pleader … at times resorts to exaggeration, to vilification … and even to false statement. But the people of this nation have ordained in the light of history, that, in spite of the probability of excesses and abuses, these liberties are … essential to enlightened opinion and right conduct … The essential characteristic of these liberties is, that under their shield many types of life, character, opinion and belief can develop unmolested and unobstructed. Nowhere is this shield more necessary than in our country for a people composed of many races and of many creeds.« 2

Die Frage, die sich aus diesen beiden Urteilen ergibt, lautet, ob multikulturelle und multireligiöse Gesellschaften mehr Redefreiheit als homogene verlangen oder weniger. Die Antwort dieser beiden Höchstgerichte ist konträr, aber man kann den Unterschied wohl nicht damit abtun, dass das eine eine europäische, das andere eine amerikanische Entscheidung sei.

Summary



The reaction to the Danish cartoons in the Muslim world gave rise to the question whether religious beliefs or religious feelings enjoy sufficient legal protection or whether a new balance between freedom of speech and protection of religion seems necessary. The author argues that religious freedom and peaceful co-existence of various religious groups is best secured by the secular constitutional state. Only by not identifying with one religion can it guarantee equal freedom to all religions. The secular constitutional state does not only respect religious freedom but also protects it against attacksby others. But the secular constitutional state cannot immunize religious beliefs from criticism, ridicule or denial of their creed. Neither can it protect religious beliefs against an interpretation or presentation of their dogmata or symbols that differs from their self-understanding. Any limitation of free speech needs a secular justification. However, this does not prevent the state from protecting individuals or religious groups against speech that incites to hatred or humiliates persons or groups of persons be­cause­ of their religion. The Danish cartoons were not of that sort.

Fussnoten:

1) Regina v. Lemon, 1979 App. Case 617.
2) Cantwell v. Connecticut, 310 U.S. 296.