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Ausgabe:

März/1997

Spalte:

257 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Boismard, Marie-Emile

Titel/Untertitel:

Jésus, un homme de Nazareth.

Verlag:

Paris: Cerf 1996. 216 S. gr.8°. ISBN 2-204-05361-9.

Rezensent:

Walter Rebell

Auch im hohen Alter hört, wer ein richtiger Bibelwissenschaftler ist, nicht mit dem Schreiben auf! Aber es gibt Unterschiede: Eduard Schweizer z. B. partizipiert noch am Fachgespräch, arbeitet sich in neue Fragestellungen ein, und seine Publikationen sind (noch immer) mit wissenschaftlichem Gewinn zu lesen. Das Markus-Buch von M.-E. Boismard dagegen, ein Kommentar (was aus dem Titel nicht sichtbar wird), kommt bescheidener daher.

Deutlich wird das schon daran, daß keine Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur geführt wird (dementsprechend auch kein Literaturverzeichnis existiert), ferner daran, daß neuere Methoden der Markus-Forschung ignoriert werden, etwa der doch durchaus im franzöischen Sprachraum mit-entwickelte Ansatz der Narratologie. Also nur an ein Laien-Publikum kann sich dieser Kommentar wenden, der auch in seinen exegetischen Ansprüchen schlicht gehalten ist.

Bemerkenswert ist freilich der Schlußabschnitt: «La personnalité de Jésus» (177-187). Hier legt der Vf. dar, daß der Titel des Buches «Jésus, un homme de Nazareth» nicht zufällig gewählt ist, er soll vielmehr verdeutlichen, daß Jesus für Markus ein Mensch ist ­ kein Gott. Schon im Vorwort kündigt der Vf. an: «Nous allons découvrir [im Markusevangelium] un homme, sans doute investi par Dieu d’une mission spéciale, mais un homme avec ses problèmes, ses luttes, ses souffrances, ses doutes mêmes, un homme finalement très proche de nous.»(7)

Nun ist aber B. weit entfernt davon, aus dem Neuen Testament einen Jesus erheben zu wollen, der bloß Mensch wäre; nein, der französische Gelehrte macht einen komplizierten Prozeß christologischer Lehrentwicklung aus, der bei Markus und Johannes recht unterschiedlich verlaufen ist. Jesus selber bezog beim letzten Mahl mit seinen Jüngern atl. Aussagen auf seine Person, die von der Sendung der göttlichen Weisheit und des göttlichen Wortes in die Welt handeln. Er nahm damit für sich, aber erst am Ende seines Wirkens, göttliche Würde in Anspruch, sein Selbstverständnis machte also eine Entwicklung durch.

Johannes nun greift sozusagen den Endpunkt dieser Entwicklung auf und zeichnet Jesus durchgehend als Gott, Markus hingegen geht viel vorsichtiger vor: Jesus ist für ihn ein Mensch, der von Gott mit einer Mission betraut worden ist, die er auf Erden zu vollbringen hat, nämlich König und Prophet des Gottesreiches zu sein. Mit einem menschlichen Bewußtsein begreift Jesus mehr und mehr, wie sich seine Mission zu erfüllen hat, daß er in den Tod gehen muß, und in einem menschlichen Bewußtsein spielen sich die diesen Weg begleitenden Kämpfe ab.

B. liest von diesem Ansatz her das Markusevangelium fast wie ein Leben Jesu, das Aufschlüsse gibt über die innere Entwicklung des Nazareners, und kehrt zu einer vor-formgeschichtlichen Betrachtungsweise zurück. Hatte nicht übrigens Martin Dibelius das Markusevangelium das "Buch der geheimen Epiphanien" genannt (Formgeschichte, 232) und damit eine doch wohl überzeugendere Lösung für den Tatbestand angeboten, den B. zu erklären versucht?

Immerhin wagt B. von jener "menschlich-psychologischen" Sichtweise Jesu her, wie er sie bei Markus zu finden meint, Aussagen, die für einen katholischen Gelehrten immer noch nicht selbstverständlich sind; so befürwortet er bezüglich leiblicher Geschwister Jesu die Lösung,«que Marie aurait eu d’ autres enfants après la naissance de Jésus.» (69)