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Ausgabe:

Februar/1999

Spalte:

181–183

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Wilson, Walter T.

Titel/Untertitel:

The Hope of Glory. Education and Exhortation in the Epistle to the Colossians.

Verlag:

Leiden-New York-Köln: Brill 1997. XIII, 297 S. gr.8 = Supplements to Novum Testamentum, 88. Lw. hfl 170.-. ISBN 90-04-10937-4.

Rezensent:

Martin Karrer

Der Kol fand in den letzten Jahren beträchtliche Aufmerksamkeit. Vor allem seine Christologie (mit 1,15-20; 2,14 f.) und die von ihm kritisierte "Philosophie" (nach 2,8-23) fesselten. Schwächer war dagegen das Interesse an der exhortativen Gesamtlinie des Kol. Das ist erstaunlich, da sein Duktus auf die Ethik zielt: Aus der brieflichen Danksagung (s. "eucharistein"/ "eucharistia" von 1,3 bis 2,7) mit den angeführten christologischen Abschnitten entwickelt sich ein zentraler ethischer Leitsatz (2,6 f. nach 1,3-2,5; beachte dort 1,9 f.). Ihm lassen sich die Briefteile 2,8-23 als Auseinandersetzung um die ethische Lebensgrundlage sowie 3,1-4,6 als Orientierung für das dadurch eingeschärfte Leben in Christus zuordnen. Der Kol ist ein didaktisch-exhortatives Schreiben.

An diesem Punkt setzt W. an. Er verortet den Kol in der ethischen Ausgestaltung des frühen Christentums und füllt insofern die Forschungslücke. Er wählt eine klare Ausgangsthese (vgl. IX, 1-14 u. ö.): Der Kol ziele auf die moralisch-spirituelle Erziehung seiner Adressaten in ihrer historisch-kulturellen Umwelt. Dazu berücksichtige er diese Umwelt und gehöre seinerseits in ihren Kontext. Er nehme Traditionen und Formen der ethischen Argumentation aus der Zeit - griechischer, römischer und jüdisch-hellenistischer Art - auf. Namentlich die philosophische Paränese sei für ihn wesentlich. Da deren Sprachform sich um die Zeitenwende zuerst mündlich abgespielt habe, ergebe sich zwar ein Caveat, doch erlaubten der Text des Kol und die schriftlichen Vergleichsquellen zureichende Rückschlüsse.

Die Entscheidungen in den Einleitungsfragen bahnen dazu den Weg: Der Kol sei deuteropaulinisch (in den 70er oder 80er Jahren entstanden) und zähle somit zur verbreiteten pseudonymen Literatur der Zeit. Die von ihm kritisierte Philosophie vertrete eine judenchristliche Observanz. All diese Urteile (15-40) sind in der Forschungslage verankert, am strittigsten die zur Philosophie.

Wichtiger für W. sind die bereits bei einer ersten Lektüre auffälligen Momente ethischer Einübung, das Stichwort "peripatein" (2,6 f.), die Haustafel, die Listen in 3,5-4,6 und viele andere (40-50). Demnach vertrete der Brief wie philosophisch- ethische Texte der Zeit den direkten Kontakt von Lehrer und Schülern. Nachdem Paulus den Brief zur ethischen Instruktion christlich etabliert habe, sei der Übergang zum pseudonymen Brief etwa den pseudonymen Philosophenbriefen (Sokrates, Heraklit usw.) zu vergleichen.

Nun bedarf W. nur noch einer Typologie philosophischer Paränese, um den Kol genauer zu erschließen. Er postuliert dafür drei Glieder: den in seiner Schule autoritativen Lehrer und Mentor, die Adressaten der (bei Abwesenheit verschrifteten) Rede, die der Mentor in eine moralische Transformation geleite, sowie die dazu dienenden Gegenstände der Rede, die ein breites Spektrum umfaßten (Zusammenfassung 256 f.). Unverkennbar erinnern die Glieder an das seit Plato vorgezeichnete, aber vor allem moderne Kommunikationsdreieck. W. erhebt sie nicht aus einer detaillierten Untersuchung der Philosophenbriefe des 1. Jh.s, sondern gibt sie der Untersuchung vor. Das verleiht der Darstellung eine beträchtliche Unschärfe, da sich das Kommunikationsdreieck grundsätzlich bei Texten jeder Art bewährt.

Kommen wir zur Anwendung. Auf der Autorseite finden wir mit Paulus einen Lehrer von Wahrheit und Weisheit, der als aufrechter Gottesdiener wie ein Mystagoge wirkt, indem er göttliche Geheimnisse enthüllt, der moralisch leitet und in seinem Kampf für die Adressaten (vgl. 2,1) personal verkörpert, was er lehrt. Der Nachrichtenwechsel des Kol (4,10.16), die Beteiligung des Epaphras u. a. stellen ähnlich einem Philosophenbrief den lebendigen Kontakt zu den Adressaten her (51-82).

Die Adressaten sind sämtlich zum Christentum konvertiert. Neben der Konversionsliteratur scheint das Motiv philosophischer Novizen, denen noch mancherlei verborgen ist, beiziehbar (W. verweist auf die Kategorien bei Seneca, ep.mor. 52,1-6). Der Kol spielt mit vielen Bildern (Tod und Aufstehen etc.) auf den Transfer der Existenz (die Taufe) an. Durch moralische Führung will er ihn habituell machen. Er nützt die Valenz des Verborgenen, hält Enthülltes fest (1,26 f.) und verweist (3,1-4) auf weitere Enthüllung, wo aufgrund der Antithese von Wirklichkeit und Erscheinung noch etwas verborgen bleibt (83-131).

Die Gegenstände der Unterweisung sind theologisch-christologisch und polemisch-korrektiv. Um der Paränese willen ist im Gedächtnis zu verfestigen, was die Adressaten von Gott und Christus schon wissen. Dieses Wissen - um Gottes Regiment, Christi göttliche Fülle, seine Prädominanz über die Elemente und die kosmische Versöhnung - etabliert die ethischen Grenzen, deren Novizen bedürfen. Die Christologie ist seit Kap. 1 auf die Antithese zur kolossischen Philosophie zu akzentuiert. Deren Durchführung in Kap. 2 gemahnt an philosophische Strategien der Kritik gegenüber Rivalen und schädlichem Aberglauben (133-182). - Ziel des Projekts ist die Bekräftigung des neuen Weltbilds, das die Konversion ins Christentum für ehemalige Heiden mit sich brachte. Der Kol baut es in einem Viereck von Gott/Christus, kosmischen Mächten, alter und neuer Menschheit auf. Kritisch-narrativ gibt er den Adressaten guten Grund zum moralischen Handeln. Er lockt sie zu einer Entscheidung, die Selbstidentität und elementare Verpflichtung mit sich bringt (183-218).

Die narrative Substruktur verflicht die Ebenen der externen Handlung (Gott, Christus, kosmische Mächte), des angenommenen Autors Paulus (der von Gott mit der Verkündigung des Evangeliums beauftragt ist) und der Adressaten, die von Gott zur Taufe und zum Leben des Evangeliums berufen sind. Alle ihre Linien laufen eindrücklich beabsichtigt bei Gott zusammen. Die rhetorische Struktur des Briefes liegt darüber, angepaßt der Gattung eines paränetischen Briefes. Der große Aufbau entspricht in etwa dem in Senecas ep.mor. 16: Eingebettet in den Briefrahmen (1,1 f.; 4,7-18), konstituiert 1,3-2,7 die paränetische Behauptung, 2,8-23 die paränetische Berichtigung und 3,1-4,6 die paränetische Ermahnung (219-254; ab 230 Übersicht über die Abschnitte).

Überblicken wir die Arbeit, bildet ihre Stärke gleichzeitig ihre Grenze. Eine These - der Kol partizipiere an zeitgenössischen Konventionen über moralische Erziehung und Ermahnung, die sich auch in philosophischem Material spiegelten - ist klar und in sich geschlossen durchgeführt. Sie ergibt ein interessantes Bild des Briefes und bestätigt sich am Ende (263) aus dem Argumentationsgang.

Doch wie stünde es bei einer Korrektur an Nahtstellen? Wie wirkte sich aus, wenn wir in den Mittelpunkt rückten, daß der Kol von "Philosophie" ausschließlich in der Abwehr 2,8 spricht? Was ergäbe sich, wenn vorgängig zur Analyse das Genus der zeitgenössischen (pseudonymen und nichtpseudonymen) Philosophenbriefe zu erheben und die vielen bemerkenswerten Einzelbeobachtungen W.s zu den Texten dem nachzuordnen wären? Welche Korrektur erwüchse, wenn wir bei der theologischen Briefanlage (dem theologisch-christologischen Briefpräskript etc.) nach Paulus anfingen? Wohin führte ein genauer Vergleich der ethischen Argumentation in 3,5-4,6 mit den Listen und Topoi der Umwelt? Die Gesamtlinie bedarf stärker als bei W. geschehen der Gegenprüfung, gerade weil so viel gemeinsam ist.

Das mindert nicht das Verdienst der Arbeit. Sie lenkt das Augenmerk zu Recht darauf, daß die Ethik den Skopus des Kol konstituiert, und erschließt wertvolles Material der Umwelt. Sie ist sorgfältig erarbeitet und durch Register gut erschlossen. Literatur ist in großem Umfang beigezogen (die Indexverweise 277 ff. sind zur Auswahlbibliographie 267 ff. zu ergänzen).