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Ausgabe:

März/1997

Spalte:

251 f

Kategorie:

Judaistik

Titel/Untertitel:

Abraham ibn Esras Kommentar zur Urgeschichte. Mit einem Anhang: Raschbams Kommentar zum ersten Kapitel der Urgeschichte. Übers. und erkl. von D. U. Rottzoll.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1996. XXXIII, 243 S. gr.8° = Studia Judaica. Forschungen zur Wissenschaft des Judentums, 15. Lw. DM 164,­. ISBN 3-11-015068-9.

Rezensent:

Stefan Schreiner

In der Geschichte nicht nur der jüdischen Bibelauslegung wird der vermutlich aus dem spanischen Toledo gebürtige und ­ nach einem in oft erzwungener Unstetigkeit in vielen Ländern und Städten Westeuropas zugebrachten Leben ­ möglicherweise in England gestorbene Universalgelehrte Abraham ben Me’ir ibn Esra (um 1092/93-1167) des öfteren, zu Unrecht zwar, als erster Bibelkritiker und Begründer einer (historisch-)philologischen Bibelkritik hingestellt. Wenn man darüber auch durchaus geteilter Meinung sein kann, so ist doch unbestritten, daß mit seinen Bibelkommentaren, nicht zuletzt der darin angewandten exegetischen Methode(n) wegen, die mittelalterliche Bibelwissenschaft der sogenannten spanischen Exegetenschule zweifellos ihren Glanz- und Höhepunkt erreichte. Dabei war es das besondere Verdienst des selber hebräisch schreibenden, mit der judaeo-arabischen Überlieferung aber gleichwohl bestens vertrauten Ibn Esra, mit seinen bibelexegetischen Werken zugleich einen Großteil des Erbes eben jener judaeo-arabischen Tradition kritisch gesichtet und an die des Arabischen weitgehend unkundige Judenheit in den christlichen Ländern Europas weitergegeben zu haben; und von seiner in dieser Hinsicht alles überragenden Bedeutung zeugt denn auch die intensive Rezeption(sgeschichte) seiner Werke. In der neuzeitlichen christlichen alttestamentlichen Wissenschaft hat Ibn Esra die verdiente Aufmerksamkeit indessen bislang nicht gefunden, obwohl mit den vor mehr als hundert Jahren bereits vor allem von W. Bacher, D. Rosin und M. Friedlander begonnenen und seither von vielen anderen fortgesetzten Forschungen zu Ibn Esra auch und gerade in deutscher und englischer Sprache Zugänge zu seinen Werken eröffnet wurden. Insofern ist Dirk U. Rottzolls (= Vf.) Bemühen, durch Übersetzung die Kenntnis Ibn Esras zu befördern und zu weiterer Beschäftigung mit ihm Anstösse zu geben, nur zu begrüßen.

Wie in Titel und Untertitel des hier vorzustellenden Buches angezeigt ist, hat der Vf. im Hauptteil eine Übersetzung von Ibn Esras Kommentar zur Urgeschichte (30-220) vorgelegt, jenes Teiles aus seinem großen Kommentar zur Tora also, der zugleich für die Rekonstruktion und das Verständnis seiner Religionsphilosophie grundlegend ist. Der einst von Saadja Gaon (um 882-942) begründeten Praxis folgend, hat auch Ibn Esra seinem eigentlichen Kommentar eine nicht minder wichtige Einleitung (1-29) vorangestellt, in der er sich kritisch mit anderen Methodologien, vom rabbinischen Midrasch über die der Karäer bis hin zu derjenigen der christlichen Schriftauslegung, auseinandergesetzt, bevor er am Ende seine eigene, auf primär philologisch-lexikographischer Analyse aufbauende exegetische Methode dargestellt und begründet hat. Seine Übersetzung hat der Vf. unter Heranziehung beachtlich umfangreicher Literatur in Gestalt von Fußnoten zur Übersetzung eingehend erläutert und kommentiert, wobei er sich in seiner Interpretation weithin insbesondere D. Rosin und W. Bacher anschließt. Daß freilich Saadja im "persischen Sura" gelebt hat (3 A.15), Tobia ben Eliezer und sein Schüler Me’ir von Kastoria "Bulgaren" gewesen sind (16 A.100 f) und ähnliches mehr, war mir bis dato allerdings nicht bekannt. Im Durchschnitt nehmen die Fußnoten, die oft aus auch längeren Sekundärliteraturzitaten bestehen, die Hälfte bis zwei Drittel jeder Seite ein. Der Übersetzung voraus geht eine Einleitung (IX-XXXIII), in der der Vf., gestützt auf profunde Kenntnis der Literatur, eine Fülle von Details aus der Biographie Ibn Esras sowie zur Entstehung, Rezeption und Bedeutung seiner exegetischen Werke ausgebreitet hat, gleichsam all das zusammenfassend, was bis heute dazu erforscht worden ist.

Gleiches hat der Vf. ­ in gebotener Kürze freilich ­ im Anhang (221-240) im Blick auf Schelomo ben Me’ir (Rasch-bam) (um 1060-um 1135) getan, dessen Bibelkommentare den Glanz- und Höhepunkt der mittelalterlichen nordfranzösischen Exegetenschule markieren. Als phänomenologischen Vergleichs- und Kontrapunkt zu Ibn Esra bietet er hierin in gleichfalls kommentierter Übersetzung Raschbams Kommentar zum ersten Kapitel der Genesis (226-240).

So verdienstvoll die vom Vf. geleistete Arbeit und so beeindruckend seine darin unter Beweis gestellte Kenntnis sowohl der ­ nicht nur exegetischen ­ Werke Ibn Esras insgesamt als auch der älteren und neueren und neuen Sekundärliteratur zum Thema ohne Zweifel auch sind, so kann man sich des Eindrucks dennoch nicht erwehren, es handele sich bei dem vorgelegten Buch nurmehr um eine Vorstufe, nicht jedoch schon um die Endfassung (s)einer Arbeit. Für eine ins Einzelne gehende Kritik ist hier zwar nicht der Ort, einige Bemerkungen seien dazu gleichwohl angebracht. Sie betreffen zuerst die Übersetzung, die über weite Strecken eine Übersetzung nicht genannt werden kann.

Wenn sie auch angesichts der häufig sehr kurzen, elliptischen Formulierungen Ibn Esras, vor allem aber seiner oft vorsichtigen, eventuell Anstößiges vermeidenden Ausdrucksweise wegen zugestandenermaßen ohne eine paraphrasierende Wiedergabe nicht auskommt, so ist des paraphrasierenden Guten doch oft zuviel getan worden; der "Übersetzung" fehlt es nicht nur an Flüssigkeit; sie ist an vielen Stellen weit umständlicher ­ und mitunter noch schwerer verständlich ­ als das hebräische Original. Zudem ist sie vielfach ungenau und zuweilen sogar falsch. Das gilt hinsichtlich der Wiedergabe philosophischer und/oder naturwissenschaftlicher Termini ebenso wie für ihre Treue gegenüber dem Original in grammatisch-syntaktischer Hinsicht. Ein besonderes Problem ist schließlich auch das Deutsch des Buches, dessen Niveau vor allem in den monographischen Teilen (Einleitung) einiges zu wünschen übrig läßt. Nicht zuletzt angesichts der zahlreichen Druck- respektive orthographischen und auch grammatischen Fehler gilt der im Vorwort vom Vf. an zwei namentlich Genannte abgestattete Dank für "die in äußerst gewissenhafter Weise bei den Korrekturarbeiten" geleistete Hilfe wie blanke Ironie ­ oder Spott. Eine ansprechendere "Verdeutschung" hätte Ibn Esras Arbeit durchaus verdient.