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Ausgabe:

März/1997

Spalte:

234–237

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Holzhausen, Jens

Titel/Untertitel:

Der "Mythos vom Menschen" im hellenistischen Ägypten. Eine Studie zum "Poimandres" (= CH I), zu Valentin und dem gnostischen Mythos.

Verlag:

Bodenheim: Athenäum 1994. VIII, 299 S. gr. 8° = Athenäums Monografien Theophaneia, 33. geb. DM 78,­. ISBN 3-8257-0000-3.

Rezensent:

Hans-Martin Schenke

Der Urmensch-Mythos innerhalb der Gnosis (und in ihrem Umfeld) hat seit den Zeiten von R. Reitzenstein und W. Bousset seine Faszination, oder aber Bedrohlichkeit, offenbar nicht verloren. Jedenfalls greift J. Holzhausen dieses Thema in dem vorliegenden Buch, das die leicht überarbeitete Fassung seiner Dissertation darstellt, die er im Fachbereich Altertumswissenschaften der Freien Universität Berlin im Wintersemester 1992/93 eingereicht hatte, wieder auf, und zwar in dem Bewußtsein, eine ganz neue Sicht der Dinge gefunden zu haben, die er nun der wissenschaftlichen Öffentlichkeit unterbreiten und empfehlen möchte.

Die These selbst ist einfach und klar: Der Urmensch-Mythos als Mythos von einem Gott, der den Namen "Mensch" trägt, ist zwar vorchristlich, aber nicht erheblich. Er sei nämlich erst im hellenistischen Ägypten entstanden, und zwar im Rahmen der dort gebräuchlich gewesenen platonisierenden Auslegung der Genesis, besonders der beiden Stellen Gen 1,26 f. und 2,7. Valentinus sei der erste und einzige gewesen, der diesen Mythos in gnostisches Denken einbezogen hat. Und allein über Valentin und die Valentinianer hat dieser schließlich Eingang in die betreffenden anderen gnostischen Mythen und Systeme gefunden.

Der Weg, den der Autor nimmt, um seine These zu entfalten, wird in den wesentlichen Etappen schon im Untertitel seines Werkes verraten. Er beginnt, nach einer kurzen Einleitung (1-6), mit einer erneuten und sehr gründlichen Analyse des Poimandres (7-79), die, wenn man sich erlaubt, ihr Ziel ein wenig aus den Augen zu verlieren, viele interessante Beobachtungen und Einsichten zu vermitteln hat. Dabei imponiert mir ganz besonders H.s Ernstnehmen und sein Eingehen auf den überlieferten Wortlaut des Textes. Das eigentliche Ziel bzw. die Tendenz dieser Partie des Buches ist ja aber nun, daß der Poimandres überhaupt nicht gnostisch ist und daß seine so überaus auffällige Urmensch-Lehre ihre Entstehung einfach platonischer Exegese der betreffenden Genesis-Stellen verdankt. Es ist klar, daß diese Interpretation und dieses Gesamtverständnis des Poimandres die Basis für H.s neues Verständnis des Urmensch-Mythos ist bzw. für den, der sich nicht gleich ganz überzeugt fühlt, der wohl wichtigste neuralgische Punkt. Am Ende dieses Teils (71-79) wird anhangweise eine neue Übersetzung des Poimandres geboten. Der nächste Schritt ist die Exegese von Valentins Fragment Nr. 1, einer weiteren wichtigen "Karte" im Urmensch-Mythos-"Spiel", dessen Karten H. vor unseren Augen neu verteilt ( 80-101).

Auf der hier beginnenden längeren Weg-Strecke, die Valentin und dem Valentinianismus gewidmet ist, hat H. übrigens als "ständigen Begleiter" den "Schatten" von C. Markschies.(1) Im Unterschied zu Markschies, dessen Exegese von Valentins Fragmenten ja zu dem ungewöhnlichen Resultat geführt hatte, daß (auch) Valentin selbst noch gar kein Gnostiker war, steht H. der communis opinio nicht unbeträchtlich näher, insofern als er den gnostischen Geist und das typisch gnostische Weltverständnis auch schon in Valentins Fragmenten spürt. In der Linearität der Betrachtungsweise bei Fixierung auf den Valentinianismus (in meinen Augen geradezu eine valentinianische "Farbenblindheit") besteht freilich völlige Übereinstimmung. Bevor nun aber der Valentin-Abschnitt mit der Analyse des kosmologischen Fragments Nr. 5 weitergeht (130-164), wird das bedeutendste der bei H. benutzten "freischwebenden" Bauteile eingefügt; ich meine seinen "Versuch einer Rekonstruktion des hellenistisch-jüdischen Mythos" (102-129). Weil die Urmensch-Lehren von CH I und Valentins Fragm. 1 nicht voneinander abhängig sein können, wird eine dritte Größe gesucht, die beiden vorausliegt. Und die findet H. eben in einer gewissen mythischen Verfestigung platonischer Genesis-Interpretationen, die es neben denen Philos noch in Alexandria gegeben haben müsse. In diesem Zwischenstück macht H. dann zum Schluß aus der Beweis-"Not" auch noch eine "Tugend", indem er den Christus-Hymnus des neutestamentlichen Philipperbriefes als Stütze in die Argumentation einbezieht (118-129). Im Philipper-Hymnus sei jener hellenistische Mythos vom Menschen auf Christus übertragen worden (das ist praktisch die verbreitete religionsgeschichtliche Theorie, nur eben unter Abzug des Etiketts "gnostisch"). Auch am Ende des gesamten Valentin-Abschnitts findet sich ein Anhang, diesmal mit Text und Übersetzung der anderen Valentin-Fragmente, die in der Argumentation eine Rolle gespielt haben, nämlich Nr. 2, 4, 6, 7 und 8. Nach diesen "steilen" Aufwärtsstrecken geht es jetzt "bergab" (es läuft, wie es nach den Prämissen laufen muß), mit dem Schlußkapitel "Von Valentin zum gnostischen ’Mythus vom Menschen’" (165-228), in dem nacheinander nicht nur die Urmenschlehren der beiden valentinianischen Systemtypen besprochen werden, sondern auch noch die der einschlägigen (nicht-valentinianischen) gnostischen Texte mit Einschluß derer aus der Nag Hammadi-Sammlung: Es sind dies der Reihe nach: Irenäus adv. haer. I 30; Das Apokryphon des Johannes (BG/NHC III,1; NHC II,1/IV,1); Satornil; Vom Ursprung der Welt (NHC II,5); Die Hypostase der Archonten (NHC II,4). Quintessenz: Auch die Urmenschlehre der anderen Systeme ist durch valentinianische Kanäle gelaufen.

Der nächste hervorhebenswerte Aspekt bei der Vorstellung von H.s Buch (nach Ziel und Weg) ist die Art und Weise, wie er sich auf dem Weg verhält; ich meine die besondere Art seiner Exegese der jeweils zur Behandlung stehenden Texte. Wenn ich recht sehe, entwickelt sich die Interpretation bei ihm weder aus dem Eingehen auf die Probleme des Textes selbst noch in der Diskussion mit den schon vorhandenen Forschungsbeiträgen, sondern vollzieht sich vornehmlich direkt im "Vorlegen" dessen, wie er denkt, daß man den Text verstehen müsse. (2) So spielt die wissenschaftliche Paraphrase eine zentrale Rolle und hat der Leser im Vollzug der Lektüre beinahe nur die Wahl zwischen voller Bejahung und voller "Reserve". Und der so überaus reiche Anmerkungsapparat hat nach meinem Gefühl eine relativ lockere Beziehung zum Haupttext. Zu dieser Art der "impliziten" Exegese gehört wohl auch so etwas wie eine mindestens gelegentliche implizite "Entmythologisierung". (3) In diesem Zusammenhang sei dann gleich auch noch konkret hingewiesen auf die mir besonders eindrucksvolle Erklärung der himmlischen Fehlentwicklung (des sogenannten "Falls"), wie sie (ihn) der valentinianische Mythos zu erzählen weiß, aus der Dialektik von Unkenntnis und Erkenntnis (155-159). Mit H.s Interpretationsprinzip dürfte es wohl auch noch zusammenhängen, daß für ihn mit den kosmogonischen auch immer gleich die soteriologischen Entsprechungen zur Stelle sind.

Das Stichwort "Entmythologisierung" bringt mich schließlich zu der bemerkenswerten Rolle, in der "Mythos" auch explizit erscheint. Am Ende der Einleitung sagt H., daß er in seiner Verwendung des Begriffes Mythos der Mythos-Definition von G. Sellin folge, und entfaltet das dann so: "Ein mythologischer Entwurf liegt vor, wenn überzeitliche Größen zu gleichsam geschichtlich handelnden Person[en] werden, mit deren Hilfe das von der Zeit unabhängige Sein des Menschen erklärt wird, indem seine Schöpfungsgeschichte erzählt wird. Durch die Einführung einer göttlichen Person, die in einem zeitlichen Sinne Schöpfungsursache ist, wird die Lehre vom Menschen zum Mythos. Diese Schöpfungsgestalt hat dann unabhängig von der dargestellten Anthropogonie keine selbständige Existenz. Sie dient nur der Darstellung der Anthropologie. In diesem Sinne sind die Darstellungen in CH I, bei Valentin und den gnostischen Darstellungen als Mythos zu bezeichnen, weil sie göttliche Hypostasen als in der Zeit handelnde Personen einführen, die nur innerhalb der Schöpfungshandlung als eigenständige Wesen faßbar sind. Sie dienen den Autoren, das Wesen und Ziel des menschlichen Daseins in einem Mythos zu beschreiben" (5/6 [Hervorhebungen von mir]). Nach diesem Kanon wird auch in der Durchführung konsequent verfahren, und diesbezügliche Urteile gehören zu dem, was am konstantesten wiederkehrt. Und eine der dringlichsten Fragen, die H. in mir wachgerufen hat, ist nun, ob und in welchem Maße dieses Mythosverständnis etwa sein Ergebnis tangiert oder mitbestimmt. H. kann ja diese mythologischen Gestalten direkt auch als Fiktion bezeichen (4). Aber kann eine solche bloße Fiktion wirklich Tradition bilden? Jedenfalls habe ich den eigentlich gnostischen Mythos immer so verstanden, daß von ihm gerade nicht gilt, was der Neuplatoniker Sallust in De diis et mundi c. 4 über den Attis-Mythos sagt, nämlich: tanta de egeneto men oudepote, esti de aei. (5)

Schließlich sei noch auf einige solcher Punkte hingewiesen, von deren Prüfung das Ja oder Nein, falls der Leser diese Entscheidung nicht schon beim Lesen gefällt hat, abhängen könnte. Daß der ganze Poimandres ein solcher "Punkt" ist, wurde schon angedeutet. Dabei ist mir die entscheidende Frage, wie das zu beurteilen ist, was nach Abzug der jüdischen und platonischen Elemente übrig bleibt, bzw. was das eigentlich für ein "komischer" Platonismus ist, der sich hier präsentiert. Auf derselben Dringlichkeitsstufe steht für mich die Einbeziehung der Urmenschlehre einer Nag Hammadi-Schrift (UW p. 108,14-112,25), die mit der des Poimandres so oder so irgendwie verwandt sein muß, die H. aber unter Hinweis auf möglichen manichäischen Einfluß praktisch weggelassen hat (vgl. 220 f. mit Anm. 227. 228.). Ihre Berücksichtigung ist aber um so wichtiger, als ich seinerzeit in dem Buche "Der Gott ’Mensch’ in der Gnosis", das für H. in Zustimmung und Ablehnung sowieso eine zentrale Rolle spielt, das Ende der "Geschichte" noch nicht kannte. Wichtig ist wohl auch die Einsicht, daß H.s "eingleisige" Auffassung nur möglich ist, wenn die moderne Sethianismus-Theorie falsch ist. (Dazu, daß das eine neuralgische Stelle ist, vgl. 17330 und 18996). (6)

Daß H. es auch sonst oft nicht leicht hat, seine These durchzuführen, kann man auch an dem mir merkwürdigsten aller seiner Sätze sehen, mit denen er sich zu Satornil aus der Affäre zieht. Der gemeinte Satz findet sich innerhalb der 11. und vorletzten These seines schön übersichtlich in Thesen zusammengefaßten Schlußteils (229-233), die hier, auch weil sie an sich vieles von H.s Ergebnissen widerspiegelt, als ganze zitiert sei: "Auch die angeblich älteste gnostische Anthropogonie, die Irenäus für Satornil überliefert, steht in der valentinianischen Tradition. Sie enthält im wesentlichen die gleichen valentinianischen Motive, wobei auch hier der platonische Hintergrund vergessen zu sein scheint. Die scheinbare Einfachheit des Mythos erweist sich bei näherem Zusehen nicht als altertümlich, sondern als Reduktion komplizierterer Zusammenhänge. Irenäus hat möglicherweise eine Fassung des ’Mythos vom Menschen’, die ein Anhänger Satornils unter dem Einfluß Valentins und seiner Schule entwickelte, als Werk Satornils ausgegeben, um beweisen zu können, daß der gesamte Valentinianismus letztlich bei dem Magier Simon seinen Ursprung hat" (233 [Hervorhebung von mir]).

Vielleicht ist aber nun doch, über der Hervorhebung des Besonderen und zur Diskussion Reizenden, und dafür wohl auch Gedachten, das grundsolide handwerkliche Können, das der Autor auf jeder Seite seines Werkes unter Beweis stellt, und seine beeindruckende Gelehrsamkeit ein bißchen zu kurz gekommen. Daß das alles eben auch vorhanden ist, möchte ich wenigstens zum Schluß noch einfach bekennen. Und zugleich sei als äußeres Zeichen dafür auf das enorme Literaturverzeichnis (234-262) und auf die ausführlichen Indices, unterteilt in: "Antike Autoren, Stellen" (263-287) und: "Begriffe, Namen, Orte, Sachen" (288-299), hingewiesen.

Fussnoten:

(1) Vgl. vor allem dessen Buch: Valentinus Gnosticus?, WUNT 65, Tübingen 1992.
(2) Als das typischste Beispiel für das, was ich hier meine, habe ich mir die Anmerkung 243 auf S. 224 notiert, wo der exegetische "Knoten", der mit dem Ausdruck "die arglosen, kleinen, seligen Geister" gegeben ist (UW p. 124,8 ff.), mit einem solchen "Schwert"-Streich gelöst wird.
(3) Der Begriff selbst findet sich z. B. S. 152292.
(4) Vgl. etwa zur valentinianischen Achamoth-Gestalt: "Für die äußere Sophia gilt wohl in besonderem Maß: sie ist eine Fiktion, die nur im Mythos eine Existenz besitzt" (17018 [Hervorhebung von mir]).
(5) H. könnte sich freilich hier auf keinen geringeren als Hans Jonas berufen, für den das geradezu das Motto zum gnostischen Mythos ist (vgl. Gnosis und spätantiker Geist, I3, 1964, S. 92. 351 mit Anm. 1; II, 1993, S. 65).
(6) Wenn es übrigens in der zweiten Hälfte der Anm. 96 von S. 189 heißt: "In der Sethianismus-Forschung stehen sich Schenkes Ansatz... und Rudolphs Position... gegenüber", so trifft das bei mir auf völliges Unverständnis, allein schon deswegen, weil hier ein Grundsatzpapier mit einem Stichwortzettel auf eine Stufe gestellt wird.