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Ausgabe:

März/1997

Spalte:

209–226

Kategorie:

Aufsätze

Autor/Hrsg.:

Jacob A. van Belzen

Titel/Untertitel:

Spiritualität als Bemühen sinnvoll zu leben. Profil eines kulturpsychologischen Ansatzes

Was der Mensch sei, das erfährt
er ja doch nicht durch Grübelei über sich,
auch nicht durch psychologische Experimente,
sondern durch die Geschichte.

(Dilthey)

Die Beschränktheit sozialwissenschaftlicher Betrachtungsweisen zur Sinnfrage

Da man zur Zeit von überall her alles Mögliche zum Thema Sinn und Sinngebung hört, gibt es ausreichend Veranlassung, bei einem Artikel mit einer solchen Überschrift skeptisch zu werden. Die nachfolgenden Gedankengänge handeln jedoch aus unterschiedlichen Gründen nicht von Sinn oder Sinngebung. Aus sozialwissenschaftlicher Sicht läßt sich ja auch nicht viel zum Thema ’Sinn’ beisteuern. Die nur randständige Präsenz dieser und verwandter Themenstellungen in der psychologischen Fachliteratur wurde bereits von Husserl kritisiert (1) und heutzutage scheint sich die Situation nicht grundlegend geändert zu haben. Noch vor kurzem äußerte sich ein in den Niederlanden vielgelesener Psychologe wie folgt zu obigem Thema: ’Sei froh, daß das Leben keinen Sinn hat’ und ein weiterer wußte dem nicht viel hinzuzufügen (2). Genausowenig wie andere Fachdisziplinen ist die Psychologie dazu berufen, inhaltliche Aussagen über so etwas wie ’Sinn’ anzustellen, und sie verliert an Glaubwürdigkeit, wenn sie sich doch hierzu verleiten läßt, da sie dann die Grenzen ihrer (bescheidenen) professionellen Kompetenz aus den Augen verliert. Andererseits bedeutet dies jedoch keinesfalls, daß Sozialwissenschaftler sich nicht auf ihre Art mit der Sinnfrage befassen könnten, im Gegenteil. Nur muß überlegt werden, wie sie dies anstellen sollen.

So wie die Philosophie nicht dazu berufen ist, die Sinnfrage zu beantworten, sondern zu durchdenken und zu bestimmen, um was für eine Frage es sich dabei handelt, so sollten sich die Sozialwissenschaften mit der Frage befassen, wie es zu dieser Fragestellung und zu den entsprechenden Antworten gekommen ist, was sie für denjenigen, der sich diese Frage stellt, bedeutet. Für die Psychologie kann nicht (der Inhalt von) Sinn Forschungsobjekt sein, wohl aber die menschliche Beziehung zum Sinn. Schließlich muß es in der empirischen Wissenschaft, welche die Psychologie nun einmal ist, um den Menschen gehen ­ geht sie doch von konkreten Menschen und nicht von theoretischen Abstraktionen aus. Hierbei spricht sie nicht allgemein über Menschen, sondern über das, was speziell im immer kulturhistorisch eingebetteten menschlichen Handeln, Erkennen und Erfahren psychologisch ist. Sie wird betrachten müssen, wie Sinn mit der Gesamtheit der menschlichen Existenz zusammenhängt und diese strukturiert.

Selbst dann, wenn man die Überlegungen bei den sogenannten Sinnerfahrungen beginnen läßt, überrascht ein transzendentes Moment: Sinnerfahrungen lassen sich offensichtlich nicht organisieren oder produzieren, sie ereilen einen (oder eben nicht), sind offenbar abhängig von etwas oder zeigen etwas, was der Mensch nicht in der Hand hat und was im Blick auf ihn in jeder Hinsicht transzendent ist. Man macht solche Erfahrungen im Modus der ’Betroffenheit’ (Jaspers). In der Sinnerfahrung wird der Mensch an die Grenzen seiner Autonomie erinnert. Doch nicht nur für eventuelle, beiläufige und vorübergehende Erfahrungen von Sinn gilt ein heteronomer Charakter. Es wird bei der Reflektion über Sinn und Spiritualität nötig sein, neben der Heteronomie auch Partizipation als zweite Begrenzung der Autonomie zu berücksichtigen. Gilt doch für jedes Handeln und für das gesamte Leben, daß dessen Sinn und Bedeutung nicht in sich selbst bestehen, sondern der Einbindung in ein sinnreiches Ganzes entlehnt sind, ob man sich dieser Einbindung nun bewußt wird oder nicht. Was das letzte angeht, darf übrigens davon ausgegangen werden, daß es weit mehr sinnvolles Leben gibt als allein das, was sich ­ bisweilen allzu lautstark ­ als solches anpreist. Es sprechen sogar gute Gründe dafür, einer diesbezüglich zu starken Artikulierung und Reflexion eine gehörige Portion Mißtrauen entgegenzubringen: Nicht umsonst bemerkt Freud, daß dann, wenn Sinn und Wert des Lebens explizit befragt werden, man es mit einem Symptom zu tun hat, das auf Krankheit hinweist (3).

Nach diesen einführenden Bemerkungen soll in diesem Artikel nicht weiter auf zufällige oder außergewöhnliche Sinnerfahrungen eingegangen werden, sondern auf das Leben, wie es sich tagtäglich konkret abspielt, und insbesondere auf eine Unterkategorie potentiell sinnvollen Lebens, bei welchem sich durchaus von einer mehr oder weniger bewußten Einbindung in ein größeres Ganzes sprechen läßt, das das Leben als sinnvoll erscheinen läßt. Wenn man auch per definitionem die Transzendenz, die dem Menschenleben seinen Sinn verleiht, nicht in den Griff bekommen kann, so will dies nicht sagen, daß der Mensch ihr völlig unfrei gegenüberstände oder ausschließlich von ihr überfallen würde. Für jene Unterkategorie menschlichen Lebens, die mehr oder weniger bewußt und artikuliert eine Beziehung zur Transzendenz aufnimmt und ausgestaltet, läßt sich der Begriff ’Spiritualität’ verwenden. Hier soll nun nicht versucht werden, Spiritualität als Antwort auf die veraltete essentialistische Frage "Was ist...?" zu definieren, kennt sie doch je nach Zeit, Ort und Individuum viele verschiedene Formen. Ich plädiere für eine minimale Umschreibung: Spiritualität als Gestaltung der Bezogenheit auf Transzendenz.

Auf die Bescheidenheit dieser Umschreibung sei ausdrücklich hingewiesen. In ihr wird nicht postuliert, der Mensch sei von Natur aus spirituell, im Gegenteil: Nicht jeder wird Transzendenz annehmen wollen und sicher nicht jeder wird die Möglichkeit der Kultivierung selbiger Beziehung wahrnehmen wollen. Die Beschreibung läßt außerdem offen, ob vielleicht angenommen werden darf, daß jeder Mensch ­ auch, wenn er sich dessen nicht bewußt ist oder dem keinerlei Bedeutung beimißt ­ eine Beziehung zu etwas hat, das sich mit Begriffen wie ’das Absolute’, ’das Unbedingte’ oder ’die Gesamtwirklichkeit’ bezeichnen läßt. In der vorgeschlagenen Umschreibung geht es genau um jene Fälle, in welchen sich von einer mehr oder weniger bewußten und gestalteten Beziehung sprechen läßt. Man achte auch darauf, daß hier Transzendenz nicht bestimmt wird, und daß genausowenig davon ausgegangen wird, daß die Pflege einer solchen Beziehung eine höhere Form des Menschseins sei. Diese Umschreibung versucht wider den Imperialismus vieler Definitionen und Systematisierungen ­ also eher induktiv ­ zu formulieren, was immer aufs Neue wahrnehmbar ist: Die Pflege und Kultivierung einer Beziehung zu dem, was als transzendent erlebt wird, kann eine Form sinnvollen Lebens sein, während nicht behauptet werden soll, es sei die einzige Form sinnvollen Lebens und genausowenig beansprucht wird, daß diese Form sinnvollen Lebens immerzu mit Sinnerfahrung erfüllt sei. In dieser minimalen Umschreibung soll mitbedacht sein, daß sich die (gewünschte) Art der Gestaltung der Bezogenheit und der Konzeptualisierung der Transzendenz je nach Tradition, Kultur und Zeit unterscheidet und unterschiedlich sein kann. Die Umschreibung soll Spiritualität vor einer Vereinnahmung durch ein religiöses Verständnis schützen; ist doch Spiritualität keinesfalls ein Synonym für Religiosität.

In der Charakterisierung von Spiritualität ’als sinnvolles Leben’ läßt sich dessen ungeachtet eine Distanzierung gegenüber instrumentalistischen oder gar hedonistischen Anschauungen heraushören. Es geht nicht darum, Spiritualität als ein Mittel anzubieten oder zu preisen, mit dessen Hilfe sich das Leben angenehmer gestalten ließe, anhand dessen sich der Sinn des Lebens ablesen oder gar begreifen ließe, mit dem sich die geistige (Volks-)Gesundheit auf eine höhere Ebene bringen ließe oder was es sonst noch geben könnte. Spiritualität ist ein bestimmter Modus des Lebens, mit seinen eigenen Möglichkeiten, Schwierigkeiten und Abweichungen. Wenn man beispielsweise dem Zeugnis vieler Mystiker Gehör schenkt, könnte Spiritualität eher mit Heideggers ’Entschlossenheit’ als mit Marx’ ’Opium des Volkes’ zu tun haben, mit der Bereitschaft, das Leben des "man" aufzugeben und die hiermit einhergehende Angst auszuhalten... Durch die Bestimmung ’als sinnvolles Leben’ soll der Begriff Spiritualität mysteriöser und ätherischer Konnotationen entledigt werden: Spiritualität ist äußerst konkret. Sie ist eine Möglichkeit des Lebens ­ und weist auf eine Lebensform im Sinne von Wittgenstein hin; mit dem Begriff wird ein Deutungsrahmen angegeben, der eine bestimmte Art des Denkens, Fühlens, Wahrnehmens und Handelns trägt und ermöglicht, aber kein Verhaltenskodex, welcher nach einem Klassifizierungssystem umfassend festlegbar wäre. Obgleich spirituelle Lebensformen nicht notwendigerweise religiöser Natur sind, muß gleichwohl eingeräumt werden, daß ihrer viele religiöser Natur sind, und daß ­ umgekehrt ­ Religionen immer Formen der Spiritualität darstellen. Entsprechend ist der Löwenanteil in der humanwissenschaftlichen Forschungsarbeit über Spiritualität bis dato den religiösen Formen der Spiritualität gewidmet worden.

Soweit diese vorläufige Bestimmung des Forschungsobjektes, das sich ergibt, wenn sich die Psychologie ’sinnvollem Leben’ als Forschungsobjekt zuwendet. Spezifisch für den Menschen und als gänzlich menschlich läßt sich Spiritualität als mögliche Form sinnvollen Lebens ohne Zweifel durch die Humanwissenschaften betrachten. Wenn jemand auf eine bestimmte Art spirituell (geworden) ist, hat das mit seinem gesamten Mensch-Sein zu tun, also auch mit seiner Subjektivität, diesem bevorzugten Objekt der Psychologie. Wie alles Menschliche hat auch Spiritualität einen psychologischen Aspekt. Da jedoch so viele Arten von Psychologie existieren ­ Vroon (4) sprach unlängst von einer explodierten Konfetti-Fabrik ­, werden wir im folgenden zunächst näher zu erörtern haben, welche Form der Psychologie dazu geeignet scheint, (religiöse oder aber nichtreligiöse) Spiritualität zu untersuchen. Hierbei wird einer kulturpsychologischen Sichtweise die Lanze gebrochen, deren historisches Pendant näher dargelegt wird, um anschließend ­ als Beispiel ­ den zahlreichen Beziehungen zwischen der Religionspsychologie und der sogenannten "Psychohistory" nachzugehen. Im dritten Teil schließlich wird dargelegt, daß die Religionspsychologie die ihr übergetragene Aufgabe nur dann zu bewältigen in der Lage sein wird, wenn sie einen intensiven Grenzverkehr pflegt.

Psychologie in der Mehrzahl

Die je nach Zeit, Kultur und Individuum immer und bisweilen sehr unterschiedlichen Gestaltungen einer möglichen Bezogenheit auf Transzendenz ermöglichen eine erste Auslese der vielen unterschiedlichen Psychologien und psychologischen Strömungen. In der Theoretischen Psychologie oder in der Philosophie der Psychologie wird die sehr unterschiedlich ausgeprägte psychologische Theoriebildung zumeist in zwei bis drei Gruppen unterschieden. So spricht man von mechanistischen, organistischen und hermeneutischen Theorien, die wegen der zunehmend historisch-kulturellen Bestimmtheit des Forschungsobjektes und der Resultate einen steigenden Grad der Strukturierung aufweisen. (5) In mechanistischen oder organistischen Theorien wird von der historisch-kulturellen Bestimmtheit menschlicher Wirklichkeit abstrahiert, während dies in hermeneutischen Psychologien als unmöglich und unerwünscht gilt. Diese und andere wissenschaftsphilosophische Einteilungen der unterschiedlichen Psychologie-Arten gehen auf eine ältere, aber keineswegs ganz überholte Zweiteilung zurück. Der um 1900 vorgebrachte Unterschied zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zielt auf einen Methodendualismus ab, dem man in seiner strengen Ausprägung heutzutage nicht mehr anhängen kann: Die verwandte Unterscheidung zwischen Erklären und Verstehen, zwischen nomothetischer und idiographischer Forschungsarbeit, ließ sich nicht durchgängig beibehalten. Die Wertfreiheit der Naturwissenschaften beispielsweise wird gegenwärtig von niemandem mehr postuliert. Jedoch wurde und wird mit diesen Begriffen eine Problematik angesprochen, die in der Psychologie, in ihrer Geschichte gleichermaßen wie in ihrer Gegenwart, eine große Rolle gespielt hat: Muß sie auf naturwissenschaftliche Weise konzipiert und betrieben werden oder muß sie ihr Objekt nach Art der Geisteswissenschaften untersuchen?

Wilhelm Wundt, der als Grundleger des naturwissenschaftlichen Ansatzes in der Psychologie gilt, behauptete in seinen Tagen, die Psychologie müsse pluralistisch sein. Die Psychologie kann das Experiment als Hilfsmittel nur dann verwenden, wenn sie ’psychische Elementarprozesse’ erforschen will; wenn sie jedoch höhere psychische Prozesse zu untersuchen trachtet, muß sie sich zur Orientierung anderen Wissenschaftszweigen zuwenden. Wundts eigener Vorschlag ging dahin, die Geschichte zu Rate zu ziehen. Seit seinen Tagen verläuft durch die Psychologie eine Kluft, welche von niemandem gewollt war und die verschiedenste Theoretiker immer wieder zu überbrücken suchten. Vielleicht muß sogar eingeräumt werden, daß sich heutzutage vieles im Bereich der psychologischen Theoriebildung außerhalb der sogenannten Psychologischen Institute westlicher Universitäten befindet (6). Im Bemühen um Wissenschaftlichkeit und Prestige hat sich nämlich der Hauptstrom der Psychologie vor allem auf den einen Pol des Wundtschen Forschungsprogrammes versteift: Man naturalisiert das Forschungsobjekt; die Vorgehensweise wird von Entsubjektivierung und Dekontextualisierung gekennzeichnet. Natürlich hat die Erforschung der relativ konstanten psychophysischen Konstitution ihren legitimen Ort. Für den allergrößten und am ehesten spezifischen Teil des menschlichen Funktionierens gilt jedoch, daß er von dieser Konstitution weder determiniert, noch aus dieser heraus begriffen werden kann. Kulturpsychologen wie Vygotsky haben bereits vor Jahrzehnten darauf hingewiesen, daß höhere psychische Funktionen doppelt entstehen: zunächst kulturell, und dann ­ im Anschluß an deren Aneignung ­ individuell. (7) Alle konkreten, zur psychischen Wirklichkeit gehörenden Phänomene werden von kulturell vorgegebenen Rahmen bestimmt. Alles Erkennen, Erfahren, Handeln, Wünschen und Phantasieren kann nur aus historisch-kultureller Gegebenheit und Vermittlung begriffen werden. Emotionen zum Beispiel sind keine irrationalen Eruptionen oder rein natürliche oder unabwendbare Reaktionen. Im Gegensatz zu dem, was man allgemein annimmt, werden sie viel mehr von Überzeugungen, Bewertungen und Wünschen geprägt, deren Inhalt nicht von Natur aus gegeben ist, sondern durch Systeme bestimmter Überzeugungen, Werte und Sitten einzelner Kulturgemeinschaften bestimmt werden. Emotionen sind soziokulturell determinierte Erfahrungsmuster und Ausdrucksweisen, die erworben und im Anschluß in spezifisch sozialen Situationen eingesetzt werden. (8)

Die unterschiedlichen verhaltensbezogenen physiologischen und kognitiven Reaktionen, die zum Syndrom, das eine bestimmte Emotion ist, gehören, sind in und aus sich selber nicht notwendigerweise emotional. Letztendlich gründen Emotionen auf den gleichen physiologischen Prozessen, welche auch allem übrigen Verhalten zugrunde liegen. Was jedoch ein Syndrom spezifisch emotional sein läßt, ist die Art und Weise, wie verschiedene Responses innerhalb eines bestimmten Kontextes organisiert und interpretiert werden. Emotionen folgen ­ kurz gesagt ­ kulturell (vor-)gegebenen Paradigmen: Es sind sozial konstruierte Syndrome, zeitliche Sozialrollen, die auch eine Einschätzung der Situation durch die Person einschließen und die als Passionen und nicht als Aktionen interpretiert werden. (9) Darüberhinaus zeigt sich im Verlauf des sogenannten ’Zivilisationsprozesses’ (10), der sich für die westliche Gesellschaft beschreiben läßt, daß bestimmte Emotionen nicht nur reguliert, sondern auch kreiert wurden. (11)

Kurzum, menschliche Subjektivität steht in ihrer Gänze immer unter spezifischen kulturhistorischen Konditionen: Es gibt kein bedeutungsvolles Handeln, das nicht kulturell konstituiert wäre. Es muß aus seinem kulturellen Rahmen heraus verstanden werden ­ und zwar dann nicht nur, um herauszufinden, wie das vermeintlich Gleiche sich in immer wieder neuen Kontexten artikuliert (,kultureller Varianz’), sondern auch, um herauszufinden, wie ein eigenartiger kultureller Kontext das spezifische Handeln, Erkennen und Erfahren ermöglichte.

Darum ist Psychologie genau wie Geschichte, Anthropologie und Linguistik in hohem Maße eine interpretative Wissenschaft: Sie richtet ihr Augenmerk auf Bedeutungen und sucht die Regeln, aufgrund derer Bedeutung in einer kulturellen Situation zustandekommt. Eine Psychologie, die so etwas spezifisch Menschliches und gänzlich kulturell Bestimmtes wie Spiritualität untersuchen will, wird darum gut daran tun, sich an den unterschiedlichen hermeneutischen Psychologien zu orientieren und wird beispielsweise den Narrativismus zu Rate ziehen, mit dessen Hilfe zur Zeit versucht wird, die Beziehung zwischen Kultur und Subjekt zu erforschen. So richtet die seit kurzem sich entwickelnde Narrative Psychologie ihre Aufmerksamkeit auf die Rolle, die vorhandene tonangebende Geschichten in der Konstruktion und Artikulation von Identität spielen. Sie weist darauf hin, daß Menschen entsprechend narrativer Strukturen denken, handeln, fühlen und phantasieren und ihr Leben verschieden Geschichten gemäß gestalten. (12) Manche gehen dabei sogar so weit ­ seien sie hierbei von Ricoeur inspiriert oder nicht ­, das ’Selbst’, jenes Objekt vieler Diskussionen in Anthropologie und Psychologie, als eine ’Erzählung’ zu betrachten. (13)

Selbstverständlich geht es nicht darum, zu leugnen, daß leibliche, psychophysische Gegebenheiten in menschlicher Subjektivität eine Rolle spielen, im Gegenteil. In der historisch-hermeneutischen Psychologie, wie sie sich zur Zeit ausbildet, wird dem Leib, der der Mensch ist, ausgiebig Aufmerksamkeit geschenkt. Das Leibliche wird hier in der Nachfolge so unterschiedlicher Denker wie Gehlen, Portmann, aber auch Lacan als ein Ganzes von Potentialitäten verstanden, welche einer Ergänzung durch kulturelle Versorgung und Regulierung bedürfen, um zum Grundmaterial zu werden, aus dem das Psychische entstehen kann. Außerdem wird hier ­ in der Tradition von Merleau-Ponty ­ darauf hingewiesen, daß der zu einer bestimmten Lebensform gehörende und durch die entsprechenden Lebenspraktiken geformte Leib auch eine eigene Intentionalität aufweist. (14)

Man darf die hier angerissene kulturpsychologische Perspektive nicht unterschätzen; es ist noch schwer genug, diese in ihren Konsequenzen zu durchdenken, da sie gegen eine Vielzahl von Auffassungen spricht, die in den vergangenen Jahrhunderten im Westen zum Allgemeingut geworden sind. Kulturpsychologie stellt nicht nur die These auf, daß menschliches Handeln, Erkennen und Erfahren in verschiedenen Kulturen jeweils wechselnde Formen annimmt. Der Betrachtungswinkel ist radikaler und betont, daß menschliche Subjektivität als Ganzes kulturell konstituiert wird.

Beim Anthropologen Clifford Geertz, der großen Einfluß auf die Kulturpsychologie hat, findet sich diese Perspektive im folgenden Aphorismus wieder: "There is no such thing as human nature independent of culture". (15) Die Konsequenzen dieses Gesichtspunktes bestehen unter anderem darin, daß sich die Psychologie viel stärker als bisher bemühen muß, herauszufinden und zu verstehen, wie der Mensch durch seine Kultur zu dem geworden ist, der er ist. Eine Psychologie, die den Menschen nicht in Analogie zum Mechanismus untersucht, sondern sich darum bemüht, die schier unendliche Plastizität menschlicher Subjektivität zu verstehen, stellt Fragen zur Wirkung von Kultur. Sie will herausfinden, wie sich eine bestimmte Kultur inkarniert, sich des Subjektes bemächtigt und seine (zweite (16)) Natur bildet.

Anders ausgedrückt: Immer, wenn man eine konkrete Spiritualität psychologisch zu untersuchen versucht, wird man diese in ein spezifisches (sub)kulturelles Segment einordnen müssen, das durch eine spezifische Art der Anrede und der Behandlung den Rahmen für individuelle Erfahrung und Ausdruck dargereicht hat. Im Gegensatz zum in den Naturwissenschaften üblichen Verfahren wird man, ganz gleich welche Form sinnvollen Lebens man psychologisch zu erforschen versucht, die Subjekte so gut wie möglich in ihrer alltäglichen Wirklichkeit betrachten müssen (17). Wenn man beispielsweise etwas von der spezifischen Spiritualität eines Gläubigen mystisch-pietistischer Prägung oder eines kirchenfremden Beters verstehen will, wird man diesem keinen Persönlichkeitstest abnehmen, um so den größten gemeinsamen Nenner zur übrigen Bevölkerung herauszuarbeiten. Man wird eher herauszufinden versuchen, wie seine kulturhistorisch gewurzelte Lebensform sein psychisches Funktionieren, auch in spiritueller Hinsicht, ausgeformt hat. Die in zeitgenössischer Forschung gangbaren Techniken wie Experiment, Test und Fragebogen stehen hierzu im Widerspruch und werden innerhalb der Kulturpsychologie zugunsten sogenannter erfahrungsnaher Methoden wie offenes Interview, teilnehmender Beobachtung und Selbstkonfrontationsmethode (18) aufgegeben. Kulturpsychologie hat ein anderes Wissenschaftsverständnis: "The search for stable patterns and long-range predictions in human psychological phenomena would probably not be the proper goal of the science. The role of the psychologist as a knowledgeable person would be to help in understanding, reading and interpreting behavioural episodes within the culture, and informing people about the potentialities of action within the range of possibilities in the culture. Thus the researcher would be a coparticipant in the joint construction of reality, rather than an authority to control and predict the future of a person" (19).

Die Historizität des Subjektes

Eine hermeneutische Psychologie beachtet, daß sie dem Subjekt immer an der Nahtstelle zwischen kulturellem Bedeutungsganzen und Körperlichkeit begegnet. In der Regel trifft sie den Menschen dort an, wo er bereits einen bestimmten Abschnitt zurückgelegt hat. Wenn sie Reisende danach fragt, wer sie sind, nach ihrer Identität, dann fragt sie nach ihrer Geschichte, nach dem Entwicklungsprozeß, den die Einzelnen durchgemacht haben, um die zu werden, die sie sind. Die Beziehung des Menschen zur Kultur ist schließlich keine natürliche, sondern eine historische. Eine hermeneutische Psychologie wird fortwährend mit Historizität konfrontiert ­ zum einen, weil der Mensch durch eine Kultur, die sich an einem bestimmten historischen Zeitpunkt ihrer Entwicklung befindet, gebildet wird und zum anderen, weil jedes Individuum das Ergebnis eines Werdens, einer Geschichte innerhalb eines partikularistischen kulturhistorischen Kontextes ist. Um als Mensch zu leben und kein Kaspar Hauser zu werden, muß sich das Individuum mehr oder weniger harmonisch in eine spezifische Kultur eingliedern. Auch in Forschungsarbeiten mit zeitgenössischen Subjekten ist es von bleibender Bedeutung, diesen historischen Charakter der Beziehung zwischen Kultur und Leib, die jeder Mensch repräsentiert, zu konzeptualisieren. Man kann hierbei sowohl die Kultur als auch den individuellen Leib als Ausgangspunkt nehmen. So haben strukturalistisch inspirierte Kulturpsychologen versucht zu verstehen, auf welche Weise sich die Kultur des individuellen Subjektes bemächtigt. In der Geschichte, die jeder (durch-) macht, wird die Sozialisation durch soziale Definitionen in Gang gesetzt, die bereits existierten, bevor das Individuum geboren wurde und die ihm seinen Platz zuweisen innerhalb der menschlich-kulturellen Ordnung, in welche sich das Subjekt später, ich-sagend, eingliedern wird. Diese Definitionen werden kontinuiert, verstärkt und bestätigt durch eine übereinstimmende (soziale) Begegnung des Individuums, sie werden transformiert zu einer Quasi-Natürlichkeit. Der Habitus (20), der also als Produkt einer Geschichte entsteht, produziert in der Folge selbst wieder Geschichte ­ und zwar in Übereinstimmung mit jenen Schemata, die durch die Geschichte hervorgebracht worden sind. Auf diese Art wird die aktive Präsenz vergangener Erfahrungen garantiert, die in Form von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata festgelegt ist. Die in dieser Weise gegenwärtige Vergangenheit gewährleistet, daß jemand zum Träger der Kultur wird, die ihn hervorgebracht hat.

Die auf Freud zurückgehende Psychoanalyse ist natürlich ein anderes, vielleicht bekannteres Beispiel der Konzeptualisierung der Beziehung zwischen Kultur und Individuum, die beim Leib ihren Ausgangspunkt nimmt. Ihre Überlegungen zu den Schicksalen des Triebes, dieses Grenzbegriffes zwischen Seele und Leib, liefern wichtige Beiträge, indem sie die Aufmerksamkeit auf die allerfrühesten Erfahrungen des Menschenkindes lenkt. Sie erinnert daran, daß unsere Subjektivität in all ihren Manifestationen unvermeidlich auch die Spuren verletzbarer Momente in der individuellen Lebensgeschichte trägt sowie die Spuren eines Spannungsverhältnisses mit möglichem Scheitern, das auf extreme Weise in den verschiedenen Formen von Pathologie zum Ausdruck kommen kann. Bei jeder Handlung und Erfahrung ist deswegen die Frage nach dem Sitz in der individuellen Lebenserzählung notwendig, in der Lebensgeschichte der betreffenden Person. (21) In der Psychotherapie und anderen praktischen Psychologien, die im Gegensatz zur akademischen Psychologie nie ohne hermeneutischen Einschlag waren (22), versteht man daher unter ’Sinn’ in der Regel die individuelle Bedeutung, die nur aus der Geschichte des Individuums verstanden werden kann. So umschrieb Freud den Sinn eines psychischen Prozesses als "die Absicht, der er dient, und seine Stellung in einer psychischen Reihe. Für die meisten unserer Untersuchungen können wir ’Sinn’ auch durch ’Absicht’, ’Tendenz’ ersetzen" (23), das heißt, durch Termini, die einen intentionalen Bezug zum Ausdruck bringen.

Ob man in einem solchen immer historisierenden Ansatz nun von der Kultur oder vom Leib ausgeht, ist ein Akzentunterschied. Letztendlich will man in der Psychologie etwas begreifen, was an der Nahtstelle beider Bereiche Form annahm. Darum ist es für das psychologische Verständnis des bedeutungsvollen Handelns und Erfahrens nötig, eine doppelte Perspektive anzuwenden: die einer durch eine Kulturgemeinschaft allgemein geteilten Bedeutung und die einer persönlichen Bedeutung, die ausschließlich aus der individuellen Lebensgeschichte heraus verstanden werden kann. Selbst die Deviation kann so ­ (im Sinne von Lorenzer (24)) als Symbol verstanden ­ auf ihren Sinn befragt werden, da es sein kann, daß genau in der Abweichung von der umgebenden Ordnung der zugrunde liegende psychische Konflikt offenbar wird. Die Betonung liegt hierbei auf ’sein kann’, da nicht jede Deviation auf eine Geisteskrankheit weist und zum anderen das (scheinbare) Fehlen des Konfliktes nicht notwendigerweise auf psychische Gesundheit deuten muß. Vorab wissen die Psychologen über Gesundheit und Krankheit eines Individuums nichts zu sagen; zu diesbezüglichen Feststellungen werden sie erst dann übergehen, nachdem sie ein konkretes Individuum vor dem Hintergrund seiner Kultur und Lebensgeschichte untersucht haben.

Hermeneutische Psychologie ist darum eine historisierende Wissenschaft. Auch in ihrer konkreten Arbeitsweise ähneln hermeneutische Psychologen und Historiker sich oft: Sie richten ihre Aufmerksamkeit vorzugsweise auf das Konkrete und Spezifische, auf das Individuelle und Qualitative. In seiner Erörterung des sogenannten ’Indikationsparadigmas’ ordnet Ginzburg (25) sowohl Psychologen als Historiker genauso der ars individualisandi zu wie Sherlock Holmes. Psychologie und Geschichte haben jedoch nicht nur eine oftmals übereinstimmende Arbeitsweise, sie können auch inhaltlich konvergieren. Auf einige der Arten, wie dies geschehen kann, wird des weiteren noch einzugehen sein. Hierbei bleiben mögliche Verbindungen wie die einer Psychologie der Geschichte und der Geschichte der Psychologie unbesprochen. Eine Psychologie der Geschichte wäre ein problematisches Unterfangen: Genausowenig, wie sie die Religion oder Kultur zu erklären vermag, scheint die Psychologie ’die Geschichte’ als solche zum Objekt der Forschung machen zu können. Die Psychologie erklärt die Geschichte ja nicht, eher ist es umgekehrt. Die Geschichte der Psychologie liegt als Thema für die Begegung zwischen Psychologie und historischer Wissenschaft auf der Hand, ist jedoch zu einem völlig eigenen Fachgebiet (tatsächlich Teil der Wissenschaftsgeschichte) ausgewachsen, worauf hier nicht näher eingegangen werden soll.

Varianten einer diachronen Kulturpsychologie

Auf die synchrone Variante einer Kulturpsychologie werde ich hier nicht weiter eingehen und statt dessen versuchen, das Obenstehende anhand der diachronen Variante der Kulturpsychologie noch näher zu erläutern. Es soll kurz auf die Historische Psychologie eingegangen werden, auf die Psychologische Geschichtsschreibung und auf die sogenannte "Psychohistory". Alle drei Formen befinden sich in jenem Gebiet, in dem Psychologie und Geschichtsschreibung einander überlappen. Historische Psychologie ist vor allem noch eine Angelegenheit von Psychologen, psychologische Geschichtsschreibung von Historikern, während Psychohistory eine Art natürliche Mittellage zwischen beiden einnimmt. Historische Psychologie ist keine "alte Psychologie": Letztere gehört zur Geschichte der Psychologie. Historische Psychologie ist eine moderne Psychologie, die entsteht, wenn die kulturpsychologische Perspektive nicht synchron oder "cross-cultural", sondern diachron ausgebreitet wird; sie ist ein auf der Hand liegender Teil der Kulturpsychologie. Wie Personen sich ihren jeweils unterschiedlichen Kulturen nach unterscheiden, so unterscheidet ihre Subjektivität sich auch nach historischen Abschnitten innerhalb ein- und derselben Kultur. In der Psychologie scheint man jedoch im allgemeinen immer noch von davon auszugehen, daß Menschen ’eigentlich’ oder ’wesentlich’ immer und überall dieselben waren. Jedoch hat inzwischen eine ausreichende Zahl von Untersuchungen ergeben, daß diese Annahme in Frage zu stellen ist. In der Historischen Psychologie wurde zur Genüge aufgezeigt, daß ­ selbst, wenn man innerhalb einer Kultur bleibt ­ solche Phänomene wie Kognition, Emotion, Persönlichkeit, Identität und Geisteskrankheit, welche so gerne von Psychologen untersucht werden, historisch bestimmt sind (26). Und dies nicht nur im trivialen Sinne, daß Menschen früher etwas anderes dachten, wünschten oder fühlten als heute, sondern auch im grundsätzlicheren Sinne, daß sie früher auf eine andere Weise dachten, wünschten oder fühlten. Der Lebenslauf, die kognitive Entwicklung, das Gedächtnis ­ es war und funktionierte früher anders (27). Für eine Psychologie, die sich nur insofern als wissenschaftlich betrachtet, als sie unveränderliche Gesetze zu entdecken versucht, ist dies schwer zu akzeptieren. Für sie ist kulturell und historisch bestimmte Variabilität in menschlichem Handeln und Erfahren eigentlich nur störend, ein Meßfehler, der in der (statistischen) Analyse kompensiert werden muß. Sie hat Angst vor der Konsequenz, die Gergen aus diesen Überlegungen für sein eigenes Fachgebiet zog: Seiner Ansicht nach ist Sozialpsychologie eine Geschichtsschreibung der Gegenwart, eine Erfassung, wie etwas zum Zeitpunkt der Untersuchung ist. (28) Die Tatsachen, mit denen sie arbeitet, sind historisch und lassen keine Generalisierung zu. Die Historische Psychologie gemahnt deswegen zu Relativierung und Bescheidenheit: Sie fragt, ob die zeitgenössischen psychologischen Begriffe überhaupt in anderen Kontexten als jenen, in welchen sie entwickelt wurden, angewandt werden dürfen.

Kennzeichnend für die Historische Psychologie ist, daß sie ihren Ausgangspunkt in der zeitgenössischen Psychologie hat. Es gibt sie in einer milden und in einer kritischen Variante: Die milde Variante meint, durch historische Forschungsarbeit zu einer additionalen Validierung (zeitgenössischer) psychologischer Erkenntnisse beitragen zu können (29). Demgegenüber weist die kritische Variante ständig auf die beschränkte Gültigkeit solcher Erkenntnis. Wie eine Laus im Pelz der etablierten Psychologie versucht sie, das kritische Bewußtsein zu schüren, die Psychologie als akademische Unternehmung sei ein gleichermaßen historisches Produkt wie das Objekt, deren Wissenschaft sie sein möchte. Ihr Blickwinkel weist die Geschichtsschreibung der Psychologie darauf hin, daß sie nicht eine Geschichte der Entdeckungen, sondern der Konstruierung psychologischer Objekte schreibt.

Verwandtschaftlich klar verbunden, aber doch anders, ist die bereits etwas in die Tage gekommene psychologische Geschichtsschreibung oder auch Mentalitätsgeschichte (30). Indem sie sich im allgemeinen wenig um die Systematik und Nomenklatur jedweder Psychologie des 20. Jh.s bemüht, richten Historiker wie Huizinga, Ariës, Fèvbre, Le Roy Ladurie und Le Goff ihr Augenmerk auf psychologisch relevante Phänomene wie Angst, Haß, Geruch sowie Hör- und Wahrnehmungsvermögen (31). Sie beschreiben und analysieren, wie diese Phänomene in früheren Zeiten im Blick auf Form und Inhalt anderer Art waren und wie sie sich im Laufe der Jahrhunderte gewandelt haben. Würden diese Autoren bei Psychologen mehr Beachtung finden, sie würden ständig an den hodiozentrischen Charakter zeitgenössischer Forschung erinnern. Diese psychologische Geschichtsschreibung ist eine wichtige Inspirationsquelle der historischen Psychologie gewesen. Da Religionspsychologie Teil der allgemeinen Psychologie ist, ist verständlich, daß es keine historische Religionspsychologie gibt: Schließlich ist das theoretische und methodische Instrumentarium der Religionspsychologie das der Psychologie im allgemeinen. Anders als in den zur Zeit allgemein als veraltet und überholt angesehenen Auffassungen der sogenannten ’religiösen Psychologie’ gibt es weder spezifisch religiöse psychische Funktionen, noch spezifisch religionspsychologische Begriffe oder Methoden (32). Eine religionspsychologische Geschichtsschreibung besteht nichtsdestotrotz, wenn auch kaum unter dieser Bezeichnung: Es gibt ausgezeichnete Studien über psychologische Aspekte spiritueller und religiöser Themen in der Vergangenheit (33).

Über die sogenannte Psychohistory, die dritte und am ehesten als interdisziplinär zu bezeichnende Form einer möglichen Beziehung zwischen Psychologie und Geschichte, auf welche ich die Aufmerksamkeit lenken möchte, bestehen eine Reihe von Vorurteilen und Mißverständnissen, natürlich nicht zuletzt wegen mancher schlechter Beispiele und aufgrund des prätentiösen Auftretens eines Exponenten wie DeMause (34). Sich bei einer Würdigung hierauf zu konzentrieren, scheint kaum fair. Wir wollen versuchen, ein paar dieser Mißverständnisse zurechtzurücken. Allgemein gesagt läßt sich Psychohistory als systematische Anwendung wissenschaftlicher Psychologie in historischer Forschung beschreiben. In all ihrer Bescheidenheit weist diese Umschreibung nichtsdestotrotz auf einen möglichen Vorteil der psychohistorischen Arbeitsweise: Schließlich bedient sich jeder, der sich der Vergangenheit zuwendet, immer ­ und erst recht, wenn man entsprechende Themen in Augenschein nimmt ­ der einen oder anderen Psychologie. Anstatt dies undurchdacht zu tun oder unreflektiert den "von Hause aus" mitgebrachten Common Sense anzuwenden, wird innerhalb der Psychohistory der Versuch unternommen, dies in überlegter Art und Weise zu tun. Obgleich keine Garantie gegen Fehler, ist ein derart bewußter Versuch doch einem unreflektierten psychologischen Dilettantismus vorzuziehen. Genau wie die Disziplinen Soziologie und Wirtschaftswissenschaft mit der Geschichtsschreibung integriert werden können (35) und eine zusätzliche Perspektive ergeben, kann dies auch mit der Psychologie geschehen. Hier gilt wieder, daß Psychohistory mit Religionspsychologie das gleiche Los teilt: Man wirft ihnen Reduktionismus vor ­ sie träten an, Geschichte, bzw. Religion aus der Psychologie heraus zu erklären. Nun denn, diese Vorstellung ist natürlich nicht richtig; wir haben sie oben bereits abgewiesen. Im Gegensatz zu dem, was auch noch vor kurzem in einem psychologischen Fachblatt zu lesen war, ist Psychohistory nicht "the most extreme representative of the assumption that much of culture is shaped by the psychodynamics of the individual psyche" (36). Weit davon entfernt, reduktionistisch zu sein, darf die Psychohistory, wie sie beispielsweise von Erikson vorgestellt wird, als vorbildlich angesehen werden in ihrem Bemühen, die individuelle Verflechtung des triebhaften Leibes und der symbolischen Ordnung herauszuarbeiten. Eine gute Psychobiographie bedarf einer dreifachen Buchführung; das untersuchte Individuum muß auf drei komplementären Ebenen begriffen werden. Erstens: Der Leib und alles, was mit diesem konstitutionell gegeben ist; zweitens: Das Ego als idiosynkratische Synthese von Erfahrung; drittens: Die sozialen Verbände, innerhalb derer sich die individuelle Lebensgeschichte vollzieht und deren Ethos und Mythos das Subjekt bilden und die ­ im Falle herausragender Individuen ­ vom Subjekt geprägt werden.

Psychohistory muß sich im übrigen keinesfalls auf das Genre der Biographie und den Einsatz der Psychoanalyse beschränken. Dies sind weitere irrtümliche Vorstellungen, die es zu korrigieren gilt. Es hat keine logischen Gründe, daß biographische und psychoanalytische Studien noch immer den Löwenanteil der psychohistorischen Produktion stellen. Wohl muß man anerkennen, daß die Psychoanalyse mit ihren Reflexionen zum Deutungsprozeß in der Therapie ein wertvolles Instrumentarium bereitstellt, mit dem sich auch die interpretative Arbeit des Historikers analysieren läßt (37). Doch die Zahl der Studien, in denen der Versuch unternommen wird, mit unterschiedlichen Formen der Psychologie auch andere als ausschließlich biographisch angelegte Untersuchungen vorzunehmen, wächst. Auf zweierlei Art, sowohl heuristisch als auch hermeneutisch, kann man beispielsweise sowohl die Persönlichkeitslehre als auch die Sozial- oder Entwicklungspsychologie in historische Forschung einbeziehen. Die in diesen Zweigen der Psychologie entwickelten Einsichten können den Historiker auf bestimmte Themen hinweisen, die andernfalls un- oder unterbeleuchtet blieben. An zweiter Stelle können psychologische Themen oder Gesichtspunkte zusätzliche Möglichkeiten zur Interpretation von Quellen liefern. Ungeachtet der Beschränkungen der akademischen Psychologie ist wohl kaum zu leugnen, daß diese Untersuchungen zu ’Motivation und Emotion’, zu ’sozialer Interaktion’, zu ’Entscheidungsverhalten’, zu ’menschlicher Entwicklung’ und zum Thema ’Lebenslauf’ Erkenntnisse aufzuweisen haben, welche ­ bei aller Beschränktheit ­ die Ebene des Common Sense überschreiten. Vernachlässigen zu wollen, daß dergleichen und viele andere psychologisch benennbare Prozesse in der Geschichte von Gruppen, Organisationen und Institutionen ­ auch auf spirituellem Gebiet ­ eine Rolle spielen und gespielt haben, ähnelt der bisweilen vorgebrachten generellen Diskreditierung der historischen Wissenschaft, als habe diese zu dem über die Vergangenheit ohnehin schon Bekannten keine Erkenntnisse hinzuzufügen.

Auf der anderen Seite ist aber Bescheidenheit tatsächlich angebracht und darf nicht Fèbvres kritische Frage vergessen werden: Was könnte eine im und am 20. Jh. entwickelte Psychologie zur Erforschung der Vergangenheit beitragen? Wie bereits oben dargelegt, ist dies eine Frage, die die historisch-psychologische Forschung auf den Plan ruft. Zwischen Psychohistory und historischer Psychologie besteht, da beide von der Historizität des Psychischen ausgehen, eine spannungsreiche Beziehung, aus der die Psychohistory in jedem Fall ihren Vorteil ziehen kann. Die Historische Psychologie kann die Psychohistory fortwährend methodologisch an die Grenzen ihrer Kompetenz erinnern. Die Psychohistory kann den (Mentalitäts-)Historiker vor einem unreflektierten Anwenden oder Ausgehen von einer anachronistischen Psychologie der Allgemeinplätze bewahren. Entsprechend kann die Historische Psychologie die Psychohistory davor behüten, platte zeitgenössische, zwar wissenschaftlich entwickelte, aber allzu oft lediglich beschränkt gültige psychologische Kategorien auf Phänomene der Vergangenheit aufzukleben. Historische Psychologie fordert hermeneutische Reflexion. Außerdem bleibt die Mentalitätsgeschichte für die Psychohistory insofern bedeutsam, als sie die Aufmerksamkeit auf solche Themen wie Volkskultur und den einfachen Menschen lenkt. Warum schließlich sollte man ausschließlich die Lebensgeschichten mächtiger und edler Leute untersuchen? Warum nur religiöse Profis? Werden unter diesen etwa so viele Mystiker gefunden? Vor dem Hintergrund der spirituellen Entwicklung könnten beispielsweise Ego-Dokumente aus der Psychiatrie unter Umständen genauso spannend oder gar interessanter sein als die Lebensberichte derer, die in einer gleichermaßen totalen Institution (Goffman) wie einem Kloster leben. Und andererseits sind die Erfahrungen und Verhaltensweisen vieler, die nicht als Patienten, sondern als sogenannte ’Helden der Spiritualität’ bekannt sind, oft dermaßen bizarr, daß sie gleichsam von selbst die schwierigen, aber spannenden Fragen bezüglich der Demarkationslinie zwischen geistiger Gesundheit und Ungesundheit hervorrufen. Was soll man beispielsweise von der Freßsucht halten, die von Zeit zu Zeit Rama Krischna überkam, von Franz von Assisi, der danach verlangte, die Aussätzigen zu küssen, von Margareta Ebner, die einem kupfernen Jesuskind die Brust gab und von den Reklusen, Frauen, die sich auf rituelle Art einmauern ließen ­ manche für Jahrzehnte? Ehrfürchtige Bewunderung scheint gleichermaßen fehl am Platz zu sein wie eine voreilige Pathologisierung. Es wäre lehrreicher, zu versuchen, etwas vom Zusammenhang zwischen Lebensgeschichte, Pathologie und spiritueller Kreativität zu verstehen.

Religionspsychologie und Psychohistory

Aus psychohistorischer Sicht wurden bereits verschiedentlich Versuche gestartet, Spiritualität zu untersuchen. Zwischen Religionspsychologie und Psychohistory gibt es gar eine frappierende historische Verwandtschaft. Stanley Hall, einer der Väter der heutigen Religionspsychologie und sowohl Gründer als auch Herausgeber der ersten Fachzeitschrift in diesem Bereich versuchte, eine psychohistorische Studie über Jesus Christus zu erarbeiten, ein Versuch, der keine Schule machte. Durchweg läßt man jedoch die Psychohistory bei Freuds Studie über Leonardo da Vinci beginnen. (38) Und es dürfte bekannt sein, daß Freud darüber hinaus als Vater der psychoanalytischen Religionspsychologie gilt. Die Phase stetigen Wachstums in der sich zunehmend moderner und professioneller präsentierenden Psychohistory beginnt mit einer Studie, die gleichzeitig auch wieder zu einem der meistgelesenen Klassiker der Religionspsychologie wurde: Mit Young man Luther von Erik Erikson aus dem Jahre 1958 (39). Zwischen Religionspsychologie und Psychohistory scheint eine Art Seelenverwandtschaft zu bestehen: Große und Kleine der Religionspsychologie haben psychohistorische Beiträge geliefert, man denke nur an Pfisters Studien über Zinzendorf und über Sadhu Sundar Singh (40), an die Arbeit von Sundén (41), seiner Schüler (42) und anderer skandinavischer Kollegen (43), und an die vielen psychologischen Studien über Augustinus (44). Als Beispiele psychohistorischer Religionspsychologie, die sich nicht auf das Studium eines Individuums beschränkt, lassen sich Freud, Pfister und Carroll nennen (45), während Festinger und andere versuchten, auch andere Methoden als allein das psychoanalytische Instrumentarium einzusetzen (46).

Um nur einen Hinweis zu geben auf die Art von Studien, welche eine psychohistorische Religionspsychologie ergibt: Vergote (47) differenzierte zwischen der Durchbohrungsvision der Theresa und anderen erotischen mystischen Vorstellungen, indem er Übereinstimmungen und Unterschiede zur Sublimierung bzw. zur Perversion meinte feststellen zu können. Meissner (48) versuchte in seiner Studie über Ignatius die psychischen Prozesse zu schildern, welche diesen narzißtischen und masochistisch orientierten Mann zu einem Heiligen transformierten. So wurde bereits viel Arbeit verrichtet, aber noch zahlreiche spirituelle Phänomene und Persönlichkeiten harren eines Ansatzes, der unter Zuhilfenahme der Psychologie die historische Forschung bereichert. Man denke ­ um nur einige Beispiele zu nennen ­ an die Täufer in Münster, an die psychischen Epidemien in manchem Nonnenkloster. Könnte die Psychologie nicht auch unter Umständen behilflich sein bei einer Analyse der vielen Kirchenspaltungen? Könnte sie nicht auch einen Beitrag zu einem besseren Verständnis der Spiritualität während der Blütezeit des römisch-katholischen Gemeinschaftslebens in den Niederlanden dieses Jahrhunderts leisten? Könnte sie nicht dabei behilflich sein, Huizingas Gemälde der modernen Devoten mit einer neuen Leinwand auszustatten? Oder bei einer Analyse des Aufstiegs und Niederganges einer Kultfigur wie Eugen Drewermann? Zu viele Themen, um mit beschränkten finanziellen Mitteln tatsächlich forschen zu können.

Wissenschaftlicher Grenzverkehr

In dem interdisziplinären Unterfangen, das die Psychohistory zu sein hat, sind der Historiker und der Psychologe gleichermaßen auf einander angewiesen. Wenn die Psychohistory zur Untersuchung von Spiritualität eingesetzt werden soll, muß der interdisziplinäre Charakter noch etwas ausgeweitet werden. Interdisziplinarität ist zwar ein abgegriffener Slogan, innerhalb der zeitgenössischen Psychologie hört man jedoch wenig hierzu. Dennoch fehlt sie auch nicht in jenen Formen der Psychologie, die sich in Analogie zu den Naturwissenschaften herausbilden: Man arbeitet hier mit Fachleuten wie Physiologen, Informatikern, Statistikern zusammen. Wie bereits ausgeführt, hat die einseitige Konzentration auf den Menschen als ’Natur’ zur merkwürdigen Folge gehabt, daß das Studium menschlichen Handelns in solch interessanten Bereichen wie Kunst, Moral und Liebe oft außerhalb der Bollwerke der etablierten Psychologie landete oder hier ausschließlich noch in einer ausgemergelten Form dahinvegetiert ­ eine etwas paradoxe Situation angesichts dessen, daß doch für eine Humanwissenschaft wie die Psychologie alles Menschliche Objekt der Forschung sein sollte ­ also außer zeitgenössischen weißen Studenten an westlichen Universitäten auch Landarbeiter in Zimbabwe und die Kaiser von Rom? Im Prinzip ja, obleich durchaus verschiedene Probleme auftauchen, wenn man diese Idee tatsächlich in die Praxis umsetzen will. Man halte sich jedoch vor Augen, daß zum einen die Infiltration der Psychologie in Anwendungsbereichen wie Gesundheitspflege und der Arbeit in Organisationen und zum anderen die nur behelfsmäßige Fortexistenz von Bereichen wie Psychologie der Kunst, des Sportes oder der Politik lediglich kontingente Tatsachen sind, die nichts mit Prinzipien oder einer Systematik zu tun haben, sondern alles mit historischen, soziologischen und wirtschaftlichen Strukturen. Da alles menschliche Handeln und Erfahren der Psychologie zugänglich ist, wenn auch nicht immer in gleichem Maße, bedeutet dies jedoch außerdem gleichzeitig, daß es viel mehr Psychologie gibt und geben müßte, als in unseren psychologischen Laboratorien getrieben wird.

Eine Psychologie, die über Spiritualität arbeiten will, wird in der Regel ­ zu Recht oder zu Unrecht ­ zur Religionspsychologie gerechnet. Auch für diese gilt, daß sie heutzutage nahezu aus den psychologischen Instituten verdrängt worden ist, obgleich sie so alt ist wie die Psychologie selbst. Und obschon sich alle Gründer und Größen der institutionalisierten Psychologie auch mit Religion beschäftigt haben, findet man Religionspsychologie in der Regel nur an theologischen oder religionswissenschaftlichen Fakultäten. Neben bestimmten Nachteilen birgt diese Lokalisierung jedoch auch positive Aspekte. Natürlich gilt aus enzyklopädischer Sicht, daß es sich bei Religionspsychologie um Psychologie handelt ­ dies klingt wie eine Tautologie. Gemeint jedoch ist, daß ihr wissenschaftliches Statut analog ist zu anderen Fachdisziplinen, die sich der Erforschung der Religion verpflichten. So, wie die Kirchengeschichte ihrer Methode nach zur historischen Wissenschaft zählt, wie die Religionsphilosophie primär Philosophie sein muß und wie der Exeget vor allem ein Sprachkundler ist, so muß mutatis mutandis die Religionspsychologie auf ihre Weise ausgeübt werden und zwar aus der Psychologie heraus. Gerade jetzt, wo Strömungen wie der Sozialkonstruktivismus, die narrative und die rhetorische Psychologie sich eher als fruchtbringende Instrumentarien andienen als vieles, was die Psychologie in den vergangenen Jahrzehnten zu bieten hatte, wird die Religionspsychologie sich darum an der hermeneutischen Psychologie im allgemeinen orientieren und das Gespräch und die Zusammenarbeit suchen müssen. Letzteres vor allem, um den Blick auf ihr formales Objekt rein zu halten.

Was ihr materiales Objekt betrifft, befindet sie sich durch ihre Lokalisierung in einer einigermaßen bevorzugten Lage, zumindest noch vorläufig. Ist es doch an vielen Universitäten so, daß für das Studium eines so wichtigen Kulturphänomenes wie der Religion Spezialisten aus verschiedenen Fachgebieten in einer eigenen Fakultät untergebracht sind. In solch einer Fakultät sollte die Religionspsychologie ein selbstverständlicher und notwendiger Gesprächspartner sein. Schließlich ist Religiosität eine Angelegenheit von Menschen und sie kann darum in all ihren Elementen von der Psychologie untersucht werden. Dabei soll allerdings sofort dem Mißverständnis begegnet werden, die Religionspsychologie trete mit dem Anspruch auf, sie würde das Phänomen Religion erklären. Versuche, ein Phänomen ganz eigener Ordnung wie die Religion ­ zum Bereich gehörend, der von Popper als ’Welt Drei’ bezeichnet wurde ­ in all seiner Multidimensionalität aus einer beschränkten fachwissenschaftlichen Perspektive wie der Psychologie erklären zu wollen, müssen als ungenügend durchdacht abgewiesen werden.

Die zur Zeit vorherrschende verengte Auffassung, entsprechend derer die Psychologie sich ausschließlich auf die Variablen manipulierten Verhaltens von Subjekten im Hier und Jetzt konzentriert, hat oft auch die Platzanweisung für die Religionspsychologie festgelegt. Man nimmt dann an ­ sei es aus kirchenpolitischen Gründen, oder nicht ­, daß die Psychologie bei der Entwicklung adäquater zeitgemäßer Formen der Katechese, der geistlichen Führung, der Seelsorge u. a. helfen könne. Ohne dies negieren zu wollen oder zu können, meine ich jedoch, einen für die Psychologie eigenständigeren Standort zu sehen. Religionspsychologie ist keine Hilfswissenschaft, beispielsweise für die Praktische Theologie. Zwar hat die Religionspsychologie inzwischen in nahezu allen Theologischen Fakultäten in den Niederlanden Eingang gefunden, aber an sehr vielen Punkten bedarf es noch der Entwicklung von Gespräch und Zusammenarbeit. Solch ein Gespräch liegt auf der Hand, wenn man einmal akzeptiert, daß Lessings ’garstiger breiter Graben’ nicht nur historischer, sondern auch psychologischer Natur ist. Anders formuliert: Daß die Hermeneutik außer kulturhistorisch auch, oder gerade darum auch, psychologisch orientiert und informiert sein muß.

Der Beitrag der Religionspsychologie an einer Theologischen Fakultät könnte von daher vielleicht umfassender sein als bisweilen angenommen. Die Texte, welche von Exegeten untersucht werden, sind menschliche Produkte: Gemacht von Menschen, gemeint für Menschen und gelesen von ­ größtenteils ­ völlig unvorhergesehenen Menschen. Eine humanwissenschaftliche Perspektive zu Prozessen von Texterstellung, Lesen, Interiorisieren, Erklären und Leben wird die Exegese erschweren, aber auch bereichern. Solch eine Exegese braucht nicht gleich Formen und Absichten wie bei Drewermann anzunehmen, wie z. B. Arbeiten von Theißen und Raguse zeigen. (49)

Wenn sich ­ um eine völlig andere Querverbindung anzusprechen ­ ein Systematischer Theologe mit Religionskritik beschäftigt, wie kann dieser dann um die Religionspsychologie herumkommen? Nicht nur die kritische psychoanalytische Variante, auch anfänglich freundlicher (50) oder gar apologetisch eingesetzte Formen der Religionspsychologie (derer so unterschiedliche Autoren wie Batson und Fowler verdächtigt werden können (51)), tragen oft intrinsisch ein religionskritisches Element in sich. Wenn man sich das weite Feld von Religion und Psychopathologie oder geistiger Gesundheit vor Augen führt, wie sollte dann eine zeitgenössische theologische Anthropologie überhaupt ohne Gespräch oder Konfrontation mit humanwissenschaftlichen Einsichten möglich sein (52)? Denker über Religion haben in unserem Jh. einen Blick bekommen für die fundamentale Bedeutung von Symbolen, Metaphern und für den interaktionellen Charakter religiöser Erkenntnis. Psychoanalytiker in der Tradition von Winnicott weisen parallel dazu darauf hin, daß das relationale Gebiet des menschlichen Erkennens, wie alle transitionalen Prozesse, die Echos der ersten interpersonalen Erfahrungen des Kleinkindes heraushören läßt ­ eine wichtige Ergänzung, die es von der Religionsphilosophie noch zu durchdenken gilt. Auf jedem dieser und vieler anderer Berührungsfelder könnte man sich in religionspsychologischer Forschung bewegen (vgl. beispielsweise die Arbeiten von Tillich, Ricoeur, Pohier). Jedoch kann man, wie bereits aufgezeigt, sich auch für einen eher historisierenden Ansatz aussprechen.

Wenn die Religionspsychologie also psychohistorische Arbeit liefern möchte, bedarf sie des Gespräches mit der Psychologie, um ihr theoretisches Instrumentarium sauber zu halten und zu verbessern. Außerdem kann sie den Historiker nicht missen, um einen empirisch verantwortlichen Umgang mit den Quellen zu erlernen und um die Andersartigkeit historischer Geschehnisse und Prozesse nicht aus dem Auge zu verlieren. Außerdem bedarf sie des Gespräches mit Theologen und Fachleuten im Bereich spiritueller Traditionen, um davor bewahrt zu werden, ihr Forschungsobjekt zu reduzieren und um sich die Bedeutung spiritueller Lebensformen ausdeuten zu lassen, welche ­ manchmal ­ ein Menschenleben als sinnvoll erscheinen lassen können. Sie bedarf der Sozialwissenschaften, um nüchtern, kritisch und argwöhnisch zu bleiben. Diese interdisziplinäre Aufgabenstellung hat jedoch eine gefährliche zentrifugale Kraftwirkung, an der die Religionspsychologie zugrundezugehen droht, wie es bereits einmal zu Beginn unseres Jahrhunderts geschah. Sie läuft Gefahr, sich in verschiedenste andere Dinge zu verlieren und nie zu der zu werden, die sie sein sollte. Vielleicht ist sie mehr eine ideale Möglichkeit als eine realisierte Tatsache. Religionspsychologie wird sich deswegen im Interesse ihres eigenen Überlebens beschränken und konzentrieren müssen. Jedoch darf sie sich nie isolieren. Um eines adäquaten Verständnisses ihres Objektes willen muß sie die traditionellen Trennlinien zwischen den Fakultäten überschreiten und sich auf verschiedene Wissenschaften einlassen; nur das hält frisch und beugt der Berufsdeformation vor.

Fussnoten:

(1) E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (Hrsg. E. Stroeker), Hamburg 1977 (Original veröffentl. 1936).
(2) J. van Heerden, Wees blij dat het leven geen zin heeft, Amsterdam 1990; K. Soudijn,"De zin van het leven" [Rezension B. Bettelheim, De uiterste grens: essays over de holocaust, psychoanalyse, opvoeding en kunst]’, Psychologie en Maatschappij 16 (1992), 469-470.
(3) S. Freud, Briefe 1873-1939 (Hrsg. E. Freud & L. Freud), Frankfurt am Main 19682, 452.
(4) P. Vroon, Wolfsklem: De evolutie van het menselijk gedrag, Baarn 1992.
(5) Vgl. C. Sanders & J. F. H. van Rappard, Tussen ontwerp en werkelijkheid: een visie op de psychologie, Meppel 1982.
(6) Man denke an die Kunstpsychologie, an die Literaturpsychologie, an den größten Teil der Psychoanalyse und an viele andere Beispiele.
(7) L. S. Vygotsky, Mind in society: the development of higher psychological processes (Hrsg. u. übers. M. Cole), Cambridge (Mass.) 1978.
(8) C. Armon-Jones, "The thesis of constructionism", in: R. Harré (Hrsg.), The social construction of emotions, Oxford 1986, 32-56.
(9) J. R. Averill,"The social construction of emotion: with special reference to love", in: K. J. Gergen & K. E. Davis (Hrsg.), The social construction of the person, New York 1985, 89-109.
(10) N. Elias, Über den Prozeß der Zivilisation: soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Frankfurt am Main 1976.
(11) Vgl. M. Foucault, Discipline, toezicht en straf: de geboorte van de gevangenis, Groningen 1989 (Original veröffentl. 1975); und E. Badinter, De mythe van de moederliefde: geschiedenis van een gevoel (Übers. V. Huijbregts), Utrecht 1983 (Original veröffentl. 1980).
(12) Vgl. T. R. Sarbin (Hrsg.), Narrative psychology: the storied nature of human conduct, New York 1986.
(13) R. Schafer, The analytic attitude, New York 1983; Retelling a life. Narration and dialogue in psychoanalysis. New York: Basic Books, 1992.
(14) Vgl. W. L. van Merwe & P. P. Voestermans, "Wittgenstein’s legacy and the challenge to psychology"’, Theory & Psychology 5 (1995), 27-48.
(15) C. Geertz, The interpretation of cultures, New York 1973, 49.
(16) Vgl. Th. de Boer, Grondslagen van een kritische psychologie, Baarn 1980.
(17) P. P. L. A. Voestermans, "Cultuurpsychologie: van cultuur in de psychologie naar psychologie in ’cultuur’", Nederlands Tijdschrift voor de Psychologie 47 (1992), 151- 162.
(18) H. J. M. Hermans & E. Hermans-Jansen, Self-narratives: The construction of meaning in psychotherapy, New York, 1995.
(19) G. Misra & K. J. Gergen, "On the place of culture in psychological science", International Journal of Psychology 28 (1993), 225-243, 237.
(20) P. Bourdieu, Le sens pratique, Paris 1980.
(21) Vgl. unter anderem: G. Jüttemann & H. Thomae, Biographie und Psychologie, Berlin 1987.
(22) Vgl. P. .J. van Strien, Praktijk als wetenschap: methodologie van het sociaalwetenschappelijk handelen, Assen 1986.
(23) S. Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Gesammelte Werke: chronologisch geordnet, Band XI (Hrsg. A. Freud u. a.), London 1940 (Original herausg. 1917), 33.
(24) A. Lorenzer, Sprachspiel und Interaktionsformen: Vorträge und Aufsätze zu Psychoanalyse, Sprache und Praxis, Frankfurt am Main 1977.
(25) C. Ginzburg, Omweg als methode: essays over verborgen geschiedenis, kunst en maatschappelijke herinnering (Übers. A. van Rest), Nijmegen 1988 (Original veröffentl. 1986).
(26) H. F. M. Peeters, Mensen veranderen: een historisch-psychologische verhandeling (Akademische Rede Tilburg), Meppel 1974; H. F. M. Peeters, "Mentaliteitsgeschiedenis en psychologie"’, Nederlands Tijdschrift voor de Psychologie 48 (1993), 195-204; G. J. M. Hutschemaekers, Neurosen in Nederland: vijfentachtig jaar psychische en maatschappelijk onbehagen, Nijmegen 1990.
(27) E. Olbrich, "De levensloop in de moderne tijd: historische perspectieven en levenslooppsychologie", in: H. F. M. Peeters & F. J. Mönks (Hrsg.), De menselijke levensloop in historisch perspectief, Assen/Maastricht 1986, 84-100; D. Ingleby & S. Nossent (1986),"Cognitieve ontwikkeling en historische psychologie", in: H. F. M. Peeters & F .J. Mönks (Hrsg.), De menselijke levensloop in historisch perspectief, Assen/Maastricht 1986, 122-138; B. Huls "’Historische veranderingen in geheugenprocessen bij kinderen", in: H. .F. M. Peeters & F. J. Mönks (Hrsg.), De menselijke levensloop in historisch perspectief, Assen/Maastricht 1986, 139-153; M. Sonntag (Hrsg.), Von der Machbarkeit des Psychischen, Pfaffenweiler 1990; M. J. Carruthers, The book of memory: a study of memory in medieval culture, Cambridge 1990; M. Sonntag & G. Jüttemann (Hrsg.), Individuum und Geschichte. Beiträge zur Diskussion um eine ’historische Psychologie’. Heidelberg, Asanger, 1993.
(28)K. J. Gergen,"Social psychology as history", in: Journal of Personality an Social Psychology 26 (1973), 309-320.
(29) Vgl. W. Runyan, Life histories and psychobiography: explorations in theory and method, New York 1982; und: Psychology and historical interpretation, New York 1988.
(30) M. Vovelle, Mentaliteitsgeschiedenis: essays over leef- en beeldwereld (Übers. P. Klinkenberg), Nijmegen 1985 (Original veröffentl. 1982).
(31) Vgl. G. Anders, Die Antiquiertheit des Menschen: über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 1956; Ph. Ariës & A. Béjin, Sexualités occidentales, Paris 1984; A. Corbin, Pestdamp en bloesemgeur: een geschiedenis van de reuk (Übers. K. van Dorsselaer), Nijmegen 1986 (Original veröffentl. 1982); J. Delumeau, La peur en Occident (XIVe-XVIIIe siècles): une cité assiégée, Paris 1982; D. Kamper (Hrsg.), Über die Wünsche: ein Versuch zur Archäologie der Subjektivität, München/Wien 1977; D. M. Lowe, History of bourgeois perception, Chicago 1982; W. Schivelbusch, The railway journey: trains and travel in the 19th century (Übers. A. Hollo), New York 1979.
(32) Ein Titel wie der des noch vor kurzem herausgegebenen Wörterbuchs der Religonspsychologie (S. R. Dunde, Gütersloh 1993) ist in dieser Hinsicht ein anachronistisches Mißverständnis.
(33) Man denke an Arbeiten wie die von L Fèbvre, Le problème de l’incroyance au XVIe siècle: la religion de Rabelais, Paris 1962 (Original veröffentl. 1942); K. Thomas, Religion and decline of magic: studies in popular beliefs in 16th and 17th century England, London 1971; J. Demos,"Shame and guilt in early New England", in: C. Z. Stearns & P. N: Stearns (Hrsg.) Emotion and social change: toward a new conversion in America from Puritan conscience to Victorian neurosis, Middletown (Conn.) 1983; C. L. Cohen, God’s caress: the psychology of puritan religious experience, New York 1986.
(34) L. DeMause, Foundations of psychohistory, New York 1982.
(35) Vgl. beispielsweise P. Burke, Sociology and history, London 1980; W. W. Rostow (1960). The stages of economic growth. A non-communist manifesto. London: Cambridge Univ. Press; P. Bairoch (1988). Cities and economic development: from the dawn of history to the present. London: Mansell; P. Bairoch (1993). Economics and world history. Myth and paradoxes. New York: Harvester Wheatsheaf.
(36) H. Gadlin, "Lacan explicated [Bericht J. Scott Lee, Jacques Lacan]", Contemporary Psychology 37 (1992), S. 888.
(37) H. Röckelein (Hrsg.), Biographie als Geschichte, Tübingen 1993.
(38) S. Freud, "Eine Kindheitserinnerung des Leonardo Da Vinci", in: Freud-Studienausgabe, Band X: Bildende Kunst und Literatur (Hrsg. A. Mitscherlich, A. Richard & J. Stachey), Frankfurt 1982, S. 87-159 (Original veröffentl. 1910).
(39) E. H. Erikson, Young man Luther: A study in psychoanalysis and history, New York 1958.
(40) O. Pfister, Die Frömmigkeit des Grafen Ludwig von Zinzendorf: ein psychoanalytischer Beitrag zur Kenntnis der religiösen Sublimierungsprozesse und zur Erklärung des Pietismus, Leipzig 1910; und: Die Legende Sundar Singhs: eine auf Enthüllungen protestantischer Augenzeugen in Indien gegründete religionspsychologische Untersuchung, Bern 1926.
(41) H. Sundén, Die Religion und die Rollen: eine psychologische Untersuchung, Berlin 1966 (Original veröffentl. 1959) und: "Saint Augustine and the Psalter in the light of role-psychology", Journal for the Scientific Study of Religion 26 (1987), 375-382.
(42) T. Källstad, John Wesley and the bible: a psychological study, Uppsala 1974; T. Källstad, Psychological studies on religious man, Stockholm 1978; T. Källstad, Levande mystik: en psykologisk undersökning av Ruth Dahlens religiösa upplevelser [Living mysticism: a psychological study of Ruth Dahléns religious experiences], Delsbo 1987; O. Wikström, ’Kristusbilden i Kristinebergsgruvan: historiska och religionspsykologiska aspekter’ [The vision of Christ in a cave), Kyrkohistorisk Årsskrift 80 (1980), 99-112; N. G. Holm, Joels Gud: en religionspsykologisk studie [Joel’s God: a psychobiographical study], Åbo 1987.
(43) A. Geels, Mystikerna Hjalmar Ekström 1885-1962 [Hjalmar Ekström, the mystic, 1885-1962], Malmö 1980 (Doktorarbeit); A. Geels, Skapande mystik: en psykologisk studie av Violet Tengbergs religiösa visioner och konstnärliga skapande [Creative mysticism: a psychological study of Violet Tengberg’s religious visions and artistic creations], Löberöd 1989; H. Åkerberg, Omvändsele och kamp: en empirisk religionspsykologisk undersökning av den unge Nathan Söderbloms religiösa utveckling 1866-1894 [The conversion of Nathan Söderblom: a psychological study], Lund 1975 (Doktorarbeit); H. Åkerberg,"Attempts to escape: a psychological study on the autobiographical notes of Herbert Tingsten 1971-1972", in: T. Källstad (Hrsg.), Psychological studies on religious man, Stockholm 1978, 71-92; H. Åkerberg, Tillvaron och religionen: psykologiska studier kring personlighet och mystik [Psychological studies on personality and mysticism], Lund 1985; D. Hoffman, Der Weg zur Reife: eine religionspsychologische Untersuchung der religiösen Entwicklung Gerhard Tersteegens, Lund 1982.
(44) D. Capps & J. E. Dittes (Hrsg.), The hunger of the heart: reflections on the Confessions of Augustine, West Lafayette (IN) 1990.
(45) S. Freud, Totem und Tabu: einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, Frankfurt 1964 (Original veröffentl. 1913); O. Pfister, Das Christentum und die Angst: eine religionspsychologische, historische und religionshygienische Untersuchung, Zürich 1944; M.. P. Carroll, The cult of the Virgin Mary: pschological origins, Princeton 1986.
(46) L. Festinger, H. W. Riecken & S. Schachter, When prophecy fails, New York 1964 (Original veröffentl. 1956).
(47) A. Vergote, Bekentenis en begeerte in de religie, Antwerpen 1978.
(48) W. W. Meissner, Ignatius of Loyola: the psychology of a saint, New Haven 1992.
(49) G. Theißen, Psychologische Aspekte paulinischer Theologie, Göttingen 1983; H. Raguse, Psychoanalyse und biblische Interpretation: eine Auseinandersetzung mit Eugen Drewermanns Auslegung der Johannes-Apokalypse, Stuttgart 1993.
(50) Wie von G. W. Allport, vgl. sein The inividual and his religion: a psychological interpretation, New York 1950.
(51) C. D. Batson, P. Schoenrade & W. L. Ventis, Religion and the individual: a social-psychological perspective, New York 1993; J. W. Fowler, Stages of faith: the psychology of human development and the quest for meaning, San Francisco 1981.
(52) Vgl. für ein Beispiel, welches hierbei im Blick auf die Psychologie sehr kritisch ist: G. Schneider-Flume, Die Identität des Sünders: eine Auseinandersetzung theologischer Antropologie mit dem Konzept der psychosozialen Identität Erich H. Eriksons, Göttingen 1985.<