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Ausgabe:

Februar/1999

Spalte:

174–177

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Landmesser, Christof, Eckstein, Hans-Joachim u. Hermann Lichtenberger [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Jesus Christus als die Mitte der Schrift. Studien zur Hermeneutik des Evangeliums.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1997. XII, 995 S. gr.8 = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft, 86. Lw. DM 298,-. ISBN 3-11-015388-2.

Rezensent:

Roland Bergmeier

"Im Anschluß an die Theologie Martin Luthers sieht Otfried Hofius sein exegetisches Schaffen bestimmt durch die Überzeugung: ’Jesus Christus ist die Mitte der Schrift’." Mit diesen Worten führen die Herausgeber in den vorliegenden Studienband ein, der Hofius zu seinem 60. Geburtstag "in Freundschaft, Dankbarkeit und Verehrung gewidmet" ist. 32 Diskussionsbeiträge aus verschiedenen Fachbereichen der theologischen Wissenschaft sind darin in ökumenischer Gemeinschaft um "Mitte" und "Widersprüchlichkeit der Schrift" (320) versammelt, geordnet nach den Überschriften: I. Erkenntnis und Gewißheit (1), II. Diskussion um die Mitte (171), III. Exegetische Perspektiven (321), IV. Wirkungen des Evangeliums (791). Stellen- und Namenregister sowie Verzeichnis der Autorinnen und Autoren schließen den Band ab. Ein Sachregister zu Themen wie Biblische Theologie, Christologie, Evangelium, Gesetz u. a. m. wäre hilfreich gewesen, um die Fülle des Materials effektiver zu erschließen. Die auswählende Besprechung, die im folgenden allein möglich ist, kann nur versuchen, Schwerpunktthemen anzusprechen und unterschiedliche Beiträge miteinander ins Gespräch zu bringen, um so die exegetische und theologische Diskussion um die Mitte der Schrift im Sinne des Jubilars zu fördern.

Der reformatorische Ansatz in Schriftauslegung und Theologie bildet einen ersten Schwerpunkt.

Im Sommer 1994 hatten O. Hofius, C. Landmesser und E. Jüngel gemeinsam ein Seminar "Theologie als Schriftauslegung: Probleme gegenwärtiger Hermeneutik - auf der Grundlage von M. Luther, De servo arbitrio ..." (73) veranstaltet. Gleichsam im Nachgang versucht Jüngel (73-99) die Wendung Luthers "... unum aliquid assecutus, omnia assecutus ..." zu klären: "Eines begriffen, alles begriffen ..., nämlich in Gott" (74). Wichtig sei dabei die Unterscheidung zwischen dem Ganzen und allem, was dazu gehöre. Wohl brauche Theologie nicht alles zu wissen, wer aber "Skopus und Fundament erfaßt, der hat das Ganze erfaßt," nämlich die Rechtfertigung allein durch den Glauben an Christus (93). So hat es denn seinen guten Grund, daß der Hofius gewidmete Band zu Schriftverständnis und Schriftauslegung widerhallt von Aufsätzen, die Luthers Beitrag zur Hermeneutik förmlich thematisieren oder zumindest ansprechen: E. Herms, Äußere und innere Klarheit des Wortes Gottes bei Paulus, Luther und Schleiermacher (3-72); H. M. Müller, "Evangelium latuit in lege". Luthers Kreuzespredigt als Schlüssel seiner Bibelhermeneutik (101-126); M. Weinrich, Die Anfechtung des Glaubens (127-158). Müller und Weinrich beleuchten die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, grundlegend für rechte Theologie, in je verschiedener Reihenfolge. M. Welkers Frage nach dem Verhältnis von "Wort und Geist" (159-169) findet ihre je eigentümliche Fortsetzung in I. D. Karavidopoulos’ Beitrag "The Interpretation of the New Testament in the Orthodox Church" (249-262), aber auch bei P. Stuhlmacher, Der Kanon und seine Auslegung (263-290), der Luthers Ausspruch: "Gott wil dir seinen Geist nicht geben on das eusserliche wort, ..." auch heute energisch allen Versuchen entgegenhalten will, "den Heiligen Geist anders als durch das Medium der Schrift erfahren ... zu wollen" (281). Das gleiche Diktum behandelt der Beitrag ’Lust am Wort’ von O. Bayer (793-804) im originären Kontext der zweiten Regel des Theologiestudiums, die Luther in Ps 119 findet (795, 801 f.).

Grundfragen einer Biblischen Theologie sind die Fragen nach einem möglichen Gesamtverständnis der biblischen Botschaft, nach dem theologischen Verhältnis von AT und NT, nach der Mitte der Schrift, ein zweiter Schwerpunkt des Hofius gewidmeten Bandes. Nicht auf dem Weg nach innen, weil eingewickelt gleichsam in die Windeln des biblischen Worts, wird Christus, die Mitte der Schrift, gesucht, sondern extern: I. U. Dalferth, Die Mitte ist außen (173-198), H.-J. Hermisson, Jesus Christus als externe Mitte des Alten Testaments (199-233), H. Weder, Die Externität der Mitte (291-320).

Hermisson zufolge ist Jesus Christus die Mitte des NT (228) und als solcher die externe Mitte des AT (232 f.). Aber nach Dalferth gilt für alle biblischen Texte, "daß ihre Mitte außen ist: Jesus Christus bezeichnet keinen Text, sondern das Außerhalb der Texte, auf das sich der Glaube richtet und auf das hin er die Texte des Alten und Neuen Testaments auslegt" (191). Diese Externität bezeichnet zugleich und ausdrücklich ein Prinzip der Sachkritik der biblischen Schriften (190), wie dann auch Weders hermeneutische Überlegungen zum Problem mit Blick auf das NT in extenso erörtern. "Die Frage nach der Mitte der Schrift", so Dalferth, stellt sich nicht von den Texten der Bibel her (178) und "gilt nicht der Sinnmitte einer Textsammlung" (186). Demgegenüber hat die Bibel nach Stuhlmacher einen "hermeneutischen Eigenanspruch" (266): Als geisterfülltes Gotteswort wolle sie in dem Geist interpretiert werden, in dem sie verfaßt worden sei (265), und die verschiedenen Stimmen im biblischen Kanon seien auf die Sinnmitte der Schrift hin und von ihr her zu ordnen (289). Entsprechend meint auch G. Kittel, "Wer ist der?" (519-542), es gelte den in der Schrift selbst enthaltenen geistlichen Sinn zu erschließen, also die Tiefendimensionen der Texte wahrzunehmen, statt mit Lüdemann etwa nur historisch-kritisch ins volle Grab zu steigen (541). Stuhlmacher wird hier gerne zustimmen: Barths berühmter Ausspruch "Kritischer müßten mir die Historisch-Kritischen sein!" sei heute so akut wie 1921 (283). H. Weder indes erinnert an Barths "vielfach mißverstandenen Ruf", um dann fortzufahren: "So groß die Vorbehalte sein mögen, die Barth gegenüber jeder Sachkritik am Neuen Testament hat, so sehr legt sein Rückruf zur Sache gerade den Grund für einen sachkritischen Umgang mit den neutestamentlichen Texten" (301).

Vom immer wieder neu zu klärenden Verhältnis von AT und NT als fundamental bibeltheologischem Problem handelt H. Hübner, Ein neuer textus receptus und sein Problem (235-247): Die Differenz von Vetus Testamentum per se und Vetus Testamentum in Novo receptum sei im NT selbst grundgelegt, denn "die neutestamentlichen Autoren verstanden ja bereits Israels Heilige Schrift in ihrer Ganzheit als die Christus verheißende Heilige Schrift der christlichen Kirche" (238). Aber Paulus sah das wohl noch anders, vgl. Röm 9,4. Überdies macht Stuhlmacher auf die eigenständige Bedeutung der LXX als Heilige Schrift der Christen aufmerksam (272 ff.), und W. H. Schmidt, Hoffnung auf einen armen König (689-709), argumentiert, der Rückbezug bedürfe der Entfaltung in der Begegnung der Auslegung beider Testamente, also eines gegenseitigen, füreinander aufgeschlossenen Hörens (706).

Stuhlmacher seinerseits unterschätzt mit seinen Ausführungen zu Gesetz und Propheten (268) die Bedeutung, die der Tora dem Beitrag C. Burchards, Glaubensgerechtigkeit als Weisung der Tora bei Paulus (341-362) zufolge, in der Theologie des Paulus zukommt: Paulus nehme in Röm 10,6-13 die Propheten "als das, was sie nach jüdischem Verständnis auch sind: als bevollmächtigte Ausleger der Tora" (361). Aber die Einschätzung dessen, was dem Gesetz an Gewicht und Bedeutung zukommt, gehört wohl zur Phalanx der Streitthemen neutestamentlicher Exegese und Theologie. In je gegenläufiger, wenn auch nicht konträrer Interpretation legen Burchard und F. Lang, Erwägungen zu Gesetz und Verheißung in Römer 10,4-13 (579-602), den umstrittenen Passus Röm 10,4-13 aus. Nach Burchard ist telos nomu Subjekt in einem Satz mit Christus im Prädikat: "V. 5-13 erläutern, was die Tora (und einige Propheten) über Gesetzes- und Glaubensgerechtigkeit und Christus sagt, nicht was Christus für die Tora bedeutet" (357). Für Lang ist in Röm 10,4 Christus das Subjekt, und zwar so, daß hier wie in 3,21 f. sowohl ein "Bruch" als auch eine Verbindung zum Ausdruck komme (581): In Christus komme das Verdammungsurteil des Gesetzes an sein Ende, seine Verheißung aber zum Ziel (601 f.).

Konträr zu Burchard steht Weders Auslegung von Röm 10,6-8: In Antithese zur Gesetzlichkeit, die mich auf meine Gottlosigkeit oder Gottverlassenheit festlegt, gehe die Glaubensgerechtigkeit davon aus, daß das Wort, das mich dem Leben zuspricht, uns nahe sei (315 f.). Aber das ist wohl schon nicht mehr paulinisch. Burchard zufolge ist der Ertrag nach V. 6-8, fern von Gesetzlichkeit, "daß die Tora bestätigt, daß Christus nicht mehr ersehnt werden muß, sondern in Gestalt des von den Toten Auferweckten und Erhöhten gekommen ist, ..." (360 f.).

Noch einmal anders, in die Nähe von Weders Anliegen führend, deutet M. Hengel, Präexistenz bei Paulus? (479-518): Christus, der das Ende des Gesetzes ist, übernimmt die göttlichen Prädikate der Weisheit und die Schöpfungsmittlerschaft anstelle der Tora. "Gottes ewige Liebe kann sich so nicht mehr auf den nomos beziehen, der richtet und tötet, sondern auf den, durch den er rettet" (509).

Gegenläufige Auslegung begegnet noch einmal im Vergleich der Beiträge von H.-J. Eckstein, Die Weisung Jesu Christi und die Tora des Mose nach dem Matthäusevangelium (379-709), und D. Schellong, Christus fidus interpres Legis (659-687). In den Antithesen setze sich Jesus kritisch mit Mose auseinander. "Was immer in Gesetz und Propheten gefordert wird, ist grundsätzlich an der didache Jesu Christi (Mt 7,28; 22,33) zu prüfen", so Eckstein 402 f. Nein, erklärt Schellong mit Calvin, Christus korrigiert nicht das Gebot des Mose, sondern legt Tora und Propheten treulich aus, so daß ihr Skopus herauskommt (679).

"Hermeneutik ist die wissenschaftliche Bearbeitung von Beziehungen zwischen einer Sache, die verstanden werden soll, und einem Menschen, der sie verstehen will" (Weder 314). Aber als Frage nach den Beziehungen der Heutigen zum biblischen Text erscheint sie im gesamten Band als eher randständiges Problem. Ansprechend formuliert Weder, "daß der Mensch Jesus von Nazareth seine eigentliche Klarheit erst in der Christologie gewinnt" (315). Andererseits macht Hengel zu Recht darauf aufmerksam, daß in den Anfängen der Begegnung des Christentums mit den Gebildeten der Spätantike "- gerade umgekehrt wie heute - die Menschlichkeit und das Leiden des ’Gottgleichen’ problematisch" wurden (489). "Gerade umgekehrt wie heute" bestätigt K. E. Nipkow, Konfirmanden - Kirche - Jesus Christus (907-930): Die Hochschätzung für Jesus, der nur als ein Mensch wie wir den Menschen zugänglich werde, verbinde sich bei den aus dem Berufsschulbereich Befragten "mit der Abwehr von vergöttlichenden Umschreibungen, die Jesus als den Christus in eine, so scheint es den jungen Menschen, unzugängliche Übernatürlichkeit entrücken" (925). Diesem Problem möchte Kittel sich stellen, indem sie als Aufgabe erkennt, darüber Auskunft geben zu können, was die Botschaft der Bibel mit dem Leben der Menschen, also heutiger Lebens- und Welterfahrung, zu tun hat (521).