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Ausgabe:

April/1997

Spalte:

387–389

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Bauer-Tornack, Günther

Titel/Untertitel:

Sozialgestalt und Recht der Kirche. Eine Untersuchung zum Verhältnis von Karl Barth und Erik Wolf.

Verlag:

New York-Bern-Frankfurt/M.-Berlin-Wien-Paris: Lang 1996. 478 S. 8° = Europäische Hochschulschriften. Reihe XXIII:Theologie, 542. Kart. DM 118,­. ISBN 3-631-48531-X.

Rezensent:

Hans Martin Müller

Das Verhältnis von geglaubter und erscheinender Kirche, von der Kirche in ihrer dogmatischen und in ihrer sozialen Gestalt, war eines der großen Themen der kirchenrechtlichen und ekklesiologischen Auseinandersetzung im 19. Jh., die noch weitgehend unter konfessionellen Gesichtspunkten geführt wurde. Darauf haben die nach dem Erlöschen des landesherrlichen Kirchenregiments 1918 entstandenen Kirchenverfassungen in Deutschland jedoch kaum zurückgegriffen. Sie lehnten sich weithin an die staatliche Verfassungsentwicklung an und ließen theologische Rücksichten meist nur in ihren Präambeln erkennen. Erst der Kirchenkampf zeigte, wie unzureichend ein auf positivistischer Grundlage erarbeitetes Kirchenrecht der geschichtlichen Lage Rechnung tragen konnte. Die Barmer Bekenntnissynode stellte demgegenüber die Bindung des Kirchenrechts an das Bekenntnis heraus und gab ihm durch die Theologische Erklärung ein Fundament, das zwar nicht unangefochten blieb, aber die Kirchenrechtsentwicklung nach 1945 zunächst bestimmte.

Begleitet wurde diese Arbeit durch eine Reihe von kirchenrechtlichen Standardwerken, unter denen Erik Wolfs "Ordnung der Kirche; Lehr- und Handbuch des Kirchenrechts auf ökumenischer Basis" (1960/61) einen hervorragenden Platz einnimmt. Inzwischen ist diese Entwicklung in der kirchenrechtlichen, vor allem synodalen Praxis nahezu vergessen und zu einem Gegenstand kirchenrechtshistorischer Untersuchung geworden. Eine solche stellt trotz ihres systematisch-theologischen Anspruchs auch die vorliegende Arbeit (Heidelberger theologische Dissertation von 1992) dar.

Der Vf. kennzeichnet zunächst das Problem unter einem forschungsgeschichtlichen Blickwinkel und gibt sodann einen kurzen Überblick über die Behandlung seines Themas in der evangelischen Ekklesiologie von Sohm bis Barmen. Er stellt die in ihrer Zeit befreiende Wirkung der Sohmschen These heraus, vermerkt aber kritisch die unaufgelöste Spannung zwischen einem doppelten Kirchenbegriff und einem einheitlichen Rechtsbegriff, der einem unangebrachten Pragmatismus in der kirchenrechtlichen Praxis Vorschub geleistet habe. Nach dem 1. Weltkrieg habe G. Holstein versucht, die Spannung mit Hilfe eines einheitlichen, genossenschaftlichen Kirchenbegriffs und eines funktionalen Rechtsbegriffs aufzulösen, sei aber letztlich an einem theologischen Defizit gescheitert: "Das theologische Defizit liegt konkret in den Problemen der Ordnungstheologie, der mangelnden christologischen Konzentration in der Begründung von Recht und Kirche, der fehlenden Verknüpfung von Taufe und allgemeinem Priestertum." (108) Dieses Defizit mußte das Barmer Bekenntnis ausgleichen. Dies sei mit Hilfe eines "prophetischen Überschusses" geschehen, dessen "theoretischer Einholung" der Vf. sich mit seiner Arbeit zuwenden will (143-147). Er wirft dabei zunächst einen kurzen Blick auf die Rezeptionsgeschichte von Barmen III, wobei seine mangelnde Sensibilität für die darin zutage tretende konfessionelle Kontroverse auffällt.

Diese ist aber nicht der eigentliche Gegenstand der Untersuchung, die sich in der Hauptsache (3. Kapitel, 157-386) mit dem Verhältnis der Barthschen Ekklesiologie zur Kirchenrechtstheorie von Erik Wolf beschäftigen will, sich also innerhalb der reformierten Bekenntnistradition bewegt. Für Wolf war diese jedoch nicht von Anfang an maßgebend, sondern wahrscheinlich durch Barth erst nach 1945 vermittelt. B.-T. verschweigt nicht, daß Wolf trotz seiner Zugehörigkeit zur Bekennenden Kirche bis in die dreißiger Jahre hinein eine wohl ’völkisch’ zu nennende Staatsauffassung vertrat, sich "distanziert-apologetisch" (223 u. ö.) zum Barmer Bekenntnis verhielt und erst spät eine Wendung zur christologischen Kirchen- und Rechtsbegründung vollzog. Jedoch liegt hier noch vieles "im Dunkeln" (224), das auch der Vf. nicht aufzuhellen vermag. Auch Karl Barth hat erst unter dem Eindruck des Kirchenkampfes zu den "sozialen Implikationen der Rechtfertigungslehre" (W. Huber) gefunden. Die Verfassung der Kirche als ’hörende Gemeinde’ und der "Auftrag der Kirche für die Welt" (263) sind nach B.-T. dabei die Leitgedanken. Kritisch merkt er an, daß Barth der "Gefahr der Äquivokation" nicht immer entgeht und auch die Benennung von "relativen Kontinuitäten" schuldig bleibt, "an denen die jeweils konkrete Sozial- und Rechtsgestalt der Kirche theologisch orientiert werden kann" (266).

An dieser Stelle versucht Erik Wolf die Barthschen Ansätze für ein auf die geschichtliche Wirklichkeit bezogenes Kirchenrecht fruchtbar zu machen. Barth hat dies dankbar anerkannt, trotzdem gerät er mit seinem Verständnis von Kirchenrecht als beispielgebendes Dienstrecht nicht in die Abhängigkeit von Wolf; vielmehr ist dieser "ein aufmerksamer Schüler seines Meisters Barth, der ihm aber stets voraus bleibt" (297). Diese von der Hauptlinie der Fachdiskussion abweichende These weiß der Vf. einleuchtend aus den Quellen zu belegen. Dabei übersieht er nicht, daß das Thema Kirchenrecht bei Barth immer "am Rande seines Arbeitsfeldes" gelegen hat und seine "kirchenrechtlichen Antworten" "Nebenprodukte der ekklesiologischen Besinnung" geblieben sind (327).

So stand vor Wolf die Aufgabe, "das ’institutionelle Defizit’ der Ekklesiologie Barths" auszugleichen, was ihm jedoch nicht gelang: "Es ist nicht deutlich, wie sich Christokratie und Bruderschaft miteinander konstitutionell in Verbindung bringen lassen" (342 f.). B.-T. wählt das unterschiedliche Geschichtsverständnis von Barth und Wolf als einleuchtendes Beispiel für die an dieser entscheidenden Stelle mißlingende Zusammenarbeit beider. Wolf habe im Interesse eines an der geschichtlichen Realität orientierten Rechtsverständnisses Eschaton und Geschichte letzten Endes voneinander geschieden, Barth sehe dagegen "das Reich Gottes als bestimmende eschatologische Kraft für die Gegenwart, welche dann zur Geschichte wird" (357). In der Auseinandersetzung mit W. Steinmüller rügt B.-T. dessen Konzentration der Verhältnisbestimmung zwischen Barth und Wolf auf die Dialektik von Institution und Ereignis und verweist auf die schließlich mangelhafte Rezeption Barths durch Wolf. Während der Jurist sich an normsetzenden Urbildern (Jüngergemeinde, biblische Weisung) orientiert, die er weithin kritisch und weniger aufbauend einsetzt, kommt es Barth auf "die Freiheit zu neuem Hören, zu besseren Formen, zu tieferer Erkenntnis oder zu verantwortlicherem Reden und Handeln" (386) an. Damit ist seine eschatologisch qualifizierte Konzeption der "Sohms und Holsteins überlegen, die wie die Wolfs primär historisch und damit eben nicht zuerst theologisch normiert sind" (386). Wie sich eine von der Historie verabschiedende Theologie anders als kritisch auf die volkskirchliche Wirklichkeit zu beziehen vermag, mit der es der Jurist nun einmal zu tun hat, bleibt allerdings eine offene Frage.

Sie wenigstens ansatzweise zu beantworten, bemüht sich der Vf. im letzten Kapitel (397-442) und muß dabei über Barth hinausgehen; denn eine "konsequente theologische Argumentation von der christologischen Begründung der Ekklesiologie bis zu den konkreten Organisations- und Handlungsformen der Gemeinde durchzuhalten, ist Barth nicht gelungen" (W. Huber; 415, Anm. 45). Weil der Vf. Barth aber theologieimmanent interpretieren und weiterführen will, kommt es auch bei ihm zu keinem befriedigenden Ergebnis. Die von ihm entwickelten Grundsätze für die Gestaltung menschlichen Rechts werden zwar an die Heilige Schrift als "mater et magistra" und an die in der Versöhnung geschenkte Freiheit gebunden; deren Näherbestimmungen erweisen sie jedoch als Schimären. Denn was ist von einer Schriftbindung zu halten, die sich als "eine Frage geistlicher Erkenntnis und nicht als eine Frage der Philologie oder historischer Exaktheit" (421, Hervorh. des Rez.) versteht? Und inwiefern ist die "im Zusammenhang mit der Freiheit Gottes" stehende "geschenkte Freiheit des Menschen" (422) rechtlichen Normierungsfragen zugänglich? Die im letzten Kapitel angebotenen Lösungen erweisen sich somit eher als eine Neufassung der im darstellenden Teil vorgeführten Aporien. Ihre eindrückliche Beschreibung ist das eigentliche Verdienst dieser gründlichen Arbeit.