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Ausgabe:

April/1997

Spalte:

381–384

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Thiemann, Ronald

Titel/Untertitel:

Religion in Public Life: A Dilemma for Democracy.

Verlag:

Washington: Georgetown University Press 1996. 186 S. 8°. ISBN 0-87840-609-3.

Rezensent:

Wolfgang Vögele

Ronald Thiemann, Dekan an Harvard Divinity School und lutherischer Theologe, hat mit seinem 1996 erschienenen Buch "Religion in Public Life" auch in der breiteren politischen Öffentlichkeit Aufsehen erregt. Dafür gibt es mehrere Gründe: In keinem anderen Industriestaat bekennen sich so viele Menschen zu einer Religion und praktizieren sie auch. Für viele Politiker haben ihre religiösen Überzeugungen Einfluß auf ihr politisches Handeln. Von anderen wird das als Problem gesehen. Eine ganze Reihe von Entscheidungen des obersten Bundesgerichts, des Supreme Court zum Verhältnis von Religion und Staaten waren und sind höchst umstritten. Der politische Einfluß der konservativen Christen, vor allem in Gestalt der "Christian Coalition", nimmt zu.

Th.s Reflexionen stehen für den Versuch, den Ort von Religion in einer demokratischen Gesellschaft zu bestimmen, ohne konservative oder liberale Einseitigkeiten mit zu vollziehen. Seine Analysen haben eine historische, eine juristische, eine philosophische und eine theologische Dimension.

Auf der historischen Ebene wendet sich Th. der Gründungszeit der Vereinigten Staaten zu. Das Ziel der Gründungsväter war es, zum einen für jeden einzelnen freie Religionsausübung zu sichern und zum andern die Vorrangstellung einer bestimmten Religion im öffentlichen Leben zu verhindern (19). Das zeigt Th. insbesondere an der politischen Philosophie James Madisons, der maßgeblich zur Entstehung der Verfassung und der Bill of Rights mit beigetragen hat (19 ff.). Nach Th. wollte Madison die Religionen aus dem Kampf der unterschiedlichen (politischen) Parteien heraushalten. Die religiösen Überzeugungen des einzelnen waren in jedem Fall schutzwürdig; der politische Einfluß größerer religiöser Gruppen jedoch war Madison verdächtig (24). Aus diesem Argument resultierte das Erste Amendment der Bill of Rights. Dieses schützte zwar die freie Religionsausübung, bot aber keine Regelung dafür, um dem oft religiös inspirierten Beitrag einer politischen Moral einen angemessenen Sitz im politischen Leben zuzuweisen (26). In anderen Worten: Die Gründungsväter definierten die Rolle von Religion in der Politik nur negativ, sie wollten deren Gefahren abwenden, aber sie sagten nichts über die positive Rolle von Religion in der politischen Kultur (27). Aus diesem Dilemma heraus entwickelte sich die spezifisch amerikanische Version der Civil Religion, die Th. als "nonchristological theism" (31) bezeichnet. Als im 20. Jh. die protestantischen Denominationen an Einfluß verloren, wirkte das auch auf die Civil Religion zurück. Für sie besteht kein Konsens mehr, und darum ist sie auch nicht mehr fähig, von einer Mehrheit der Bevölkerung anerkannte und tragfähige "common principles for personal and public morality" (35) bereit zu stellen. Damit entsteht in der politischen Kultur eine Leerstelle.

Um sie zu füllen, greift Th. erneut auf Madison zurück. Aus Madisons politischer Philosophie entwickelt Th. drei Grundwerte, an denen sich die Gesellschaft orientiert: Freiheit, Gleichheit und Toleranz (73). Alle drei ergeben sich aus dem Recht auf Religionsfreiheit, denn nach Madison hat jeder die Pflicht, seinem Gewissen folgend dem Schöpfer Verehrung ("homage") entgegenzubringen (79). Th.s Konzentration auf Madison ruft jedoch auch Rückfragen hervor: Wieso werden andere politikphilosophische Theorien der Gründungszeit nicht berücksichtigt, z. B. Washingtons moralisch-religiöser Republikanismus oder Jeffersons deistische Theorie der natürlichen Rechte aus der Unabhängigkeitserklärung?

Auf der juristischen Ebene beschäftigt sich Th. vor allem mit der Rechtsprechung des amerikanischen Supreme Court. Dieser Teil ist vielleicht für deutsche Leser am schwierigsten zu verstehen, setzt er doch eine gewisse Vertrautheit mit den Besonderheiten des amerikanischen Rechtssystems voraus. Doch spätestens seit dem umstrittenen Kruzifix-Urteil des Bundesverfassungsgerichts lohnt ein Vergleich: Die Positionen strikter oder wohlwollender Neutralität, der Streit um den Grad der Trennung zwischen Staat und Kirche werden in den Vereinigten Staaten genauso diskutiert wie in der Bundesrepublik ­ unter den Bedingungen unterschiedlicher Rechtssysteme. Th. zeigt: Der Neutralitätsbegriff ist vieldeutig, er läßt sich nicht auf eine einfache Interpretation festlegen, und er entspricht nicht der Religiosität des amerikanischen Volkes (65).

Dasselbe gilt nach Th. für den Begriff der Anpassung ("accommodation"), der dem Neutralitätsbegriff entgegengesetzt ist. In der Rechtssprechung des Supreme Court spiegelt sich das erwähnte Dilemma der Gründungsväter. Wer strikte Neutralität will, ignoriert die historisch gewachsenen Berührungspunkte zwischen Staat und Kirche. Wer accommodation will, ignoriert den Pluralismus der amerikanischen Gesellschaft. Für die Rechtssprechung zu den Religionsklauseln des Ersten Amendments schlägt Th. vier Prinzipien vor: 1. Religionsfreiheit ist ein zu schützendes fundamentales, in der Verfassung niedergelegtes Recht. Freie Religionsausübung muß gesichert werden. 2. Alle Religionsgemeinschaften müssen gleich behandelt werden. 3. Regelungen, die offensichtlich Religionen an ihrer öffentlichen Wirksamkeit behindern, weil sie nach dem Grundsatz strikter Neutralität konzipiert wurden, müssen überdacht werden. 4. Religionsgemeinschaften, die nur Minderheiten unter den Religionen bilden, müssen besonders geschützt werden (167).

Auf der philosophischen Ebene geht Th. auf die Auseinandersetzung zwischen Liberalen und Kommunitaristen ein. Am liberalen Philosophen John Rawls kritisiert Th., daß sein Modell gerechten Zusammenlebens ideale Bedingungen voraussetzt, welche den historischen Wachstumsprozeß einer Gesellschaft ignorieren (87). Weil demokratische Gesellschaften nicht idealen, sondern historischen Bedingungen gehorchen, sind sie fehlbar. Und weil sie fehlbar sind, bedarf es potentiell in solchen Gesellschaften des Rückgriffs auf höhere Maßstäbe von Gerechtigkeit, die oft religiöse Argumente zur Voraussetzung haben (89 f.). Daraus folgt eine weitere Kritik an einem Kernpunkt liberaler Philosophie: Die Unterscheidung zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre greift nicht mehr. Für die liberale Philosophie ist die Privatsphäre der Raum freier Entscheidung des einzelnen, die Öffentlichkeit dagegen der Raum der staatlichen Handlungen (151), in dem differente Interessen vermittelt werden müssen. Vor allem dieser Begriff von Öffentlichkeit ist für Th. verkürzt, weil er Öffentlichkeit zu sehr mit staatlichem Handeln identifiziert. Dadurch werden die Handlungen der verschiedenen "nongovernmental communities and associations" (96) nicht angemessen wahrgenommen. Entscheidend an diesen ist, daß sie zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre vermitteln.

Thiemann sucht einen Mittelweg zwischen den "modernen Liberalen", für die allein die Entscheidungsfreiheit des einzelnen im Mittelpunkt steht, und den Kommunitaristen, denen er ein Sektierertum vorwirft, das den Pluralismus einer freien und demokratischen Gesellschaft unterläuft. Den Kommunitarismus akzeptiert Thiemann nur als Kritik an den extremen Liberalen. Er selber hält sich an die von ihm so genannten "revisionistischen Liberalen". Nach ihnen muß die Freiheit des einzelnen grundsätzlich geschützt werden.

Aber das bedeutet nicht, daß Gesellschaften den Diskurs darüber nicht führen, was für eine Gesellschaft als ganze gut ist und was nicht. So kann ein Konsens erreicht werden, dessen Bedeutung allerdings limitiert ist, weil der Konsens immer einen Kompromiß darstellt zwischen den Freiheitsrechten des einzelnen, die nicht bevormundet werden dürfen, sowie den Konsens- und Solidaritätsbedürfnissen einer demokratischen Gesellschaft. Diese dürfen nicht vernachlässigt werden, weil sonst die Gesellschaft zerfällt.

Th. unterscheidet darum eine liberale ­ an der Entscheidung des einzelnen orientierte und eine bürgerliche ­ an der Solidarität des Zusammenlebens orientierte ­ Freiheit. Die entscheidende Aufgabe politischer Philosophie ist es, ein Gleichgewicht zwischen bürgerlicher und persönlicher Freiheit herzustellen, zwischen einem individuellen und einem assoziativen Pluralismus (111). Für dieses Gleichgewicht spielen die schon erwähnten freiwilligen Vereinigungen (voluntary associations) eine wichtige Rolle in Th.s Konzept, weil sie zwischen beiden Formen von Freiheit, zwischen Interessen des einzelnen und des Gemeinwohls vermitteln (112). Die Gegensätze zwischen einzelnen und Gruppen auszutragen, dafür bietet die (politische) Öffentlichkeit ein Forum, in dem kein einzelner, aber auch keine Institution eine neutrale Position einnehmen kann.

Auf der theologischen Ebene fragt Th. nach dem Ort von Religionen und Kirchen in einer pluralistischen Gesellschaft. Er kritisiert eine Definition von Religion, die Glauben auf eine private und individuelle Wertüberzeugung reduziert. Dem gegenüber betont er die soziale Dimension des Glaubens. Danach ist Glaube eine Art von Überzeugung, die die Identität einer Gemeinschaft bestimmt, ihre Mythen, Erzählungen, Rituale, ihre Dogmatik (132).Diese Überzeugungen des Glaubens kennzeichnet Th. als "background beliefs" (133). Sie sind zwar relativ stabil, aber dennoch ­ das zeigt die Religionsgeschichte ­ Veränderungen unterworfen. Und sie spielen auch in das politische Leben hinein (134). Jede Gemeinschaft oder soziale Organisation lebt von solch einer Hintergrundüberzeugung (134); darin unterscheiden sich Religionen nicht von Gewerkschaften oder anderen Verbänden. Vor dieser ­ gemeinsamen ­ Hintergrundüberzeugung erst bilden sich Glaube, Verhalten und Moral des einzelnen. Mit diesen Hintergrundüberzeugungen können Religionen wie andere Verbände dazu beitragen, gesellschaftliche Überzeugungen, Werte, Vorstellungen über das Gemeinwohl zu formen (135).

Dieser Dialog über Werte und Ziele setzt die Fähigkeit voraus, mit einem ’unvollständigen Konsens’ zu leben, Widersprüche auszuhalten und Respekt gegenüber anderen Meinungen zu üben (136). Das Recht auf eine abweichende Meinung, auch gegenüber Konsensen, bleibt in einer pluralistischen Gesellschaft immer erhalten (138). Damit definiert Th. drei Kriterien eines öffentlichen Dialogs über Werte: 1. Öffentlichkeit ("public accessibility") oder Plausibilität; 2. gegenseitigen Respekt; 3. das Recht auf Dissens gegenüber Mehrheitsmeinungen (139 f.). Religiös-moralische Argumente können all diese drei Kriterien erfüllen und sind darum im politischen Diskurs zugelassen. Im Gegensatz zu den Liberalen meint Th., das Kriterium, ein Argument im öffentlichen Diskurs nicht zuzulassen, seien nicht seine Religiosität oder seine religiösen Voraussetzungen, sondern seine Übereinstimmung mit den Grundwerten der Verfassungsdemokratie. Und selbst im Fall der Nichtübereinstimmung sollten solche Argumente wegen der Meinungs- und Redefreiheit zugelassen werden. Statt solche Argumente auszugrenzen, plädiert Th. umgekehrt dafür, unter den Bürgern das Bewußtsein demokratischer Werte zu stärken (156).

Das Recht auf Dissens ist besonders wichtig, weil auch gesellschaftliche Konsense besonders von alternativen moralischen, religiösen oder philosophischen Konzepten über das Gute vorangebracht werden. Das gilt in der amerikanischen Geschichte zum Beispiel für die Bürgerrechtsbewegung Martin Luther Kings und für die Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei (170) im 19. Jh.

Für die christlichen Kirchen bedeutet diese Verteidigung der Religion im öffentlichen Diskurs ein neues Nachdenken über den eigenen Absolutismus, die nicht mit einer Anpassungsstrategie an die gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen zu verwechseln ist. Das hat für Th. theologische Gründe, denn der christliche Glaube wird von ihm als Geschenk Gottes, nicht als menschliche Leistung aufgefaßt. Damit können andere Wege zu Gott nicht mit Notwendigkeit ausgeschlossen werden (163).

Seine eigene Absicht beschreibt Th. darum so: Er will keine theologische Apologie des Pluralismus schreiben, sondern die Vereinbarkeit zwischen den Wahrheitsansprüchen seiner eigenen Konfession und dem gesellschaftlichen Pluralismus analysieren (164). Für das Christentum gilt, daß die demokratischen Werte Gleichheit und gegenseitiger Respekt mit zwei Werten einhergehen, die Th. aus dem Prinzip der Nächstenliebe entwickelt: Fairness und "concern for the vulnerable" (158). An anderer Stelle spricht Thiemann auch von einer Option für die Armen, die aus dem Prinzip der Nächstenliebe abgeleitet werden kann (169). Als (gelungene) Beispiele für die Partizipation einer Kirche am öffentlichen Diskurs nennt Th. die Hirtenbriefe der katholischen Bischöfe der USA zu den Themen Wirtschaft und nukleare Abrüstung (161). Diese Beispiele sind für Th. jedoch Ausnahmen. Er beklagt, daß sich die Kirchen entweder in sektiererischen Abgrenzungs- oder in anpassenden Reproduktionsstrategien verlieren (161). Letztere spiegeln nur gesellschaftliche Meinungen wider und wiederholen sie.

Th.s Reflexionen überzeugen durch Sorgfalt, Genauigkeit und Behutsamkeit. Im Kontext der amerikanischen Diskussion sind sie das genaue Gegenteil zu den vielen, oft aggressiven und unsachlichen Polemiken zum Thema, die oft die öffentliche Diskussion beherrschen. Th.s Überlegungen sind fast vollständig auf die Situation in den Vereinigten Staaten zugeschnitten. Darum eignet es sich für denjenigen, der eine Einführung in das Thema Religion und Gesellschaft in den USA sucht. Die wahre Herausforderung von Th.s Buch aber liegt woanders, nämlich in einem Vergleich der unterschiedlichen politischen Kulturen der Bundesrepublik und der USA und dem jeweils unterschiedlichen Ort der Kirchen in beiden Ländern. Dieser Vergleich könnte in zweierlei Hinsicht fruchtbar werden: 1. Er könnte eine differenzierende Abhilfe bieten vor der oft allzu kruden und einlinigen, aber derzeit beliebten Übertragung des amerikanischen Kommunitarismus auf deutsche Verhältnisse. 2. Er könnte weiter Aufschluß geben über die Rolle der Kirchen in der Bundesrepublik, die ­ unter den Bedingungen einer zunehmend pluralistischen Kultur ­ als Verbände unter anderen Verbänden verstanden werden müssen, als Teile der Zivilgesellschaft, die sich aus ihrer Abhängigkeit von alten Privilegien befreit haben. Das wäre die Aufgabe einer komparativen öffentlichen Theologie.