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Ausgabe:

April/1997

Spalte:

373 f

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Mendelssohn, Harald von

Titel/Untertitel:

Sören Kierkegaard. Ein Genie in einer Kleinstadt.

Verlag:

Stuttgart: Klett-Cotta 1995. 305 S. 8°. DM 58,­. ISBN 3-608-91666-0.

Rezensent:

Michael Heymel

Die Idee ist durchaus reizvoll: den Schriftsteller und Philosophen Kierkegaard (K.) einmal im Milieu seiner Heimatstadt Kopenhagen darzustellen, sozusagen den ’Sitz im Leben’ seiner Gedanken aufzusuchen und den Denker in Beziehung zu seiner zeitgenössischen Umwelt zu setzen. K. selbst notiert in seinem Tagebuch, es sei "ein Unglück, ein Genie in einer Kleinstadt zu sein." Der Titel des Buches nimmt darauf Bezug. Doch so vielversprechend die Grundidee ist, den Erfinder der subjektiven Wahrheit beim Wort zu nehmen und nach der Wahrheit seines Lebens zu fragen: Die Art und Weise, wie der Autor K. darstellt, hinterläßt einen zwiespältigen Eindruck. Harald von Mendelssohn, ein aus Kopenhagen stammender und lange dort lebender Journalist, nähert sich seinem Gegenstand mit kritischer Distanz und dem erklärten Interesse, einen dänischen "Nationalheiligen" (11, 15, 37) zu entmythologisieren. Ob K. das wirklich ist? Schon zu Beginn wecken Äußerungen wie diese den Verdacht, daß der Autor zu pauschalen Urteilen neigt, die sich bei differenzierter Betrachtung nicht halten lassen. Am besten gelungen sind ihm diejenigen Teile des Buches, in denen er die Kleinstadt Kopenhagen, ihr Dorf-Milieu und ihre intellektuelle Szene schildert. Auch über einen bekannten Zeitgenossen und Antipoden K.s, den Märchenerzähler Hans Christian Andersen, der im Unterschied zu K. vom Publikum verwöhnt wurde, erfährt man dabei manches interessante biographische Detail.

Die Person K.s, seine Familiensituation, die Beziehung zum Vater und zur Verlobten Regine Olsen beschreibt der Vf. nüchtern ohne Idealisierung und Beschönigung. Lebendig werden die kirchliche Situation in Kopenhagen und die für K. prägenden Gestalten der Kirche dargestellt. Der Autor charakterisiert K. als "Störenfried" und "eine der meistgehaßten Persönlichkeiten Dänemarks" (37); als Schüler sei er "für seine Lehrer eine wahre Nervensäge (gewesen)" (89). K. habe "sich in der Rolle des Aufmüpfigen" (90) gefallen. Beängstigend gebildet, mit großem rhetorischen und satirischen Talent, sei er stets in der Rolle des Außenseiters geblieben. Der Vf. sieht genau K.s Neigung, den Märtyrer zu spielen, überhaupt kraft einer erstaunlichen Einbildungkraft sein Leben wie ein Schauspieler zu inszenieren: "K. spielte in seinem Leben viele Rollen, und seine Bühne war die Welt Kopenhagens... Den Rollen, die er spielte, entsprachen die zahlreichen Pseudonyme, unter denen er seine Bücher veröffentlichte. Und manchmal spielte er sich selbst, ohne seine Tarnung ganz aufzugeben" (119). Seinem Charakter sei K. trotz vieler Rollen treu geblieben: "Er war eine Bremse, genau wie Sokrates in Athen..." (119). Jede Gelegenheit habe ihn veranlaßt, den Bogen zu überspannen.

Mendelssohn sucht zu erklären, wie K. die Bürger Kopenhagens "zunächst dazu brachte, sich zu wundern, dann über ihn zu lachen und ihn am Ende zu hassen" (127). Er benennt auch die unsympathischen, abstoßenden Züge des Dänen: den Widerspruch zwischen seinen religiösen Forderungen und seinem großbürgerlichen Lebenswandel, seinen Fanatismus, den ungezügelten polemischen Geist, die Freude daran, mit den Ge-fühlen anderer zu spielen und sein Gegenüber lächerlich zu machen, seine "tiefe Misogynie" (167), ja lebensfeindliche Haltung. Zwar sei K. unbestritten "der beste dänische Prosa-Autor seiner Generation" (127), doch neige er zu Weitschweifigkeit und zum dialektischen Spiel mit Begriffen.

Das alles ist scharf beobachtet, und der Autor kann sich dafür auf die dänische Literatur über K. stützen. Doch es finden sich auch wiederholt pauschale Urteile, die K.s Denken nicht ge-recht werden. K. war gewiß kein "Mystiker" (12, 142), und seine Theologie als "religiösen Egoismus" (143) zu bezeichnen, heißt, sie zu verzerren. Ist es Egoismus, das Verhältnis des Einzelnen zu Gott über alles zu stellen? Wenn der Vf. behauptet, der Einzelne im Sinne K.s suspendiere "die Moral und damit alle Verbindlichkeit, die ein Zusammenleben von Menschen ermöglicht" (11), so ist damit K.s Kategorie des Einzelnen miß-verstanden. Daß K. wie Paulus einen Glauben ohne gute Werke predige und "einer Verachtung der Ethik" (248) das Wort rede, läßt sich weder an K.s Schriften noch an den Briefen des Apostels belegen.

Der Autor hat, von einer Ausnahme (Th. W. Adorno) abgesehen, die philosophische und theologische Fachliteratur ignoriert. Das mag erklären, weshalb er die Gedanken K.s referiert und auf biographische Motive zurückführt, ohne irgendwo gründlicher auf sie einzugehen. So bleibt der Versuch, die Person K. aus ihren Lebensverhältnissen zu erklären, am Äußeren haften. Das Religiöse, auf das K. in seinen Schriften aufmerksam machen will, läßt sich aber von außen nicht wirklich erfassen. Es erschöpft sich nicht darin, eine Rolle zu spielen. Um es zu verstehen, muß einer sich selbst im Verhältnis zu Gott verstehen.