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Ausgabe:

April/1997

Spalte:

371–373

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Jaeschke, Walter [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Philosophie und Literatur im Vormärz. Der Streit um die Romantik (1820–1854).

Verlag:

Hamburg: Meiner 1995. X, 272 S. u. X, 454 S. (Quellenband) gr.8° = Philosophisch-literarische Streitsachen, 4 u. 4,1. Pp. DM 98,­ u. 168,­. ISBN 3-7873-1000-2 u. 3-7873-1001-0.

Rezensent:

Jochen Hörisch

Die nicht nur literarisch-theologisch relevanten Gedenkjahre häufen sich im Sog der bevorstehenden Jahrtausendwende. Heines 200. Geburtstag (1997), der 150. Jahrestag der 48er Revolution (1998), Goethes 250. Geburtstag (1999) und Nietzsches 100. Todestag im Jahr 2000 ­ um nur diese signifikanten Daten zu nennen ­ ergeben auch für Zeitgenossen, die nicht für Zahlenmystik anfällig sind, ein eigentümlich dichtes geistes- und mentalitätsgeschichtliches Webmuster. Zur Konturierung solcher aussagekräftigen Webmuster möchte der vierte Band der von Walter Jaeschke hg. Reihe "Philosophisch-literarische Streitsachen" beitragen. Er handelt nach wohlkomponierten Bänden, die in wohlkomponierter Folge dem Frühidealismus und der Frühromantik (Bd. 1: 1795-1805), den transzendentalphilosophischen Diskussionen um die Möglichkeit der prima philosophia (Bd. 2: 1799-1807) und dem Streit um die Göttlichen Dinge (Bd. 3: 1799-1812) gewidmet waren, von dem Streit um die Romantik in der Zeit ihres vormärzlichen Altern (1820-1854). Gemeinsam liegt diesen Bänden das berechtigte Erstaunen darüber zugrunde, wie stark die intellektuelle Prägekraft der ungemein produktiven Debatten um und kurz nach 1800 bis heute ist. Ganze Fakultäten heutiger Universitäten könnten schließen, wenn die zwischen 1795 und 1845 erschienenen Titel nicht wären.

Die einzelnen Beiträge des jüngsten Reihenbandes gelten den wichtigsten Paradigmata des Streites um die Gültigkeit und Triftigkeit romantischer Diagnosen, Modelle und Reflexionen. "Auseinandersetzungen um den Philosophiebegriff im Vormärz" rekonstruiert Andás Gedö. Er knüpft an das bekannte Diktum von Friedrich Gentz aus dem Jahr 1793 an: "Der Philosoph formt Systeme, der Pöbel schmiedet Mordgewehre daraus." Eine Diagnose, die in anderer Bewertung auch bei F. Schlegel, Heine, Marx u. a. zu finden ist. Die französische Revolution und die Transzendentalphilosophie sind danach Parallelaktionen (Schlegel); was ist die Hinrichtung des französischen Königs gegen Kants Destruktion (des) Gottes(beweises) (Heine); die Kritik der Waffen muß die Waffen der Kritik ersetzen (Marx): lauter modische "Ansätze der Antiphilosophie" (Gedö), die nach Gedö vergessen machen, daß eben die revolutionär überwunden geglaubte Philosophie um 1800 ihre Strahlkraft bis in die ausschlaggebenden Denkfiguren des 20. Jh.s hinein entfaltet.

Ähnlich abgeklärt ist Helmut Bocks Beitrag "Vom Ende der ’klassischen Kunstperiode’". Er zeigt auf oder eher: Er zählt einige Beispiele dafür auf, wie innerhalb der goethezeitlichen Formation selbst die Grenzen der humanistisch-philosophischen Kategorien bedacht wurden. Ob Goethe oder Hegel ­ daß es Eisenbahnen und soziale Spannungen gab, ist beiden und vielen anderen mehr nicht entgangen. Ob diese Beobachtungen die Stimmigkeit ihrer und anderer goethezeitlicher "Weltbilder" erschüttern konnte ­ diese Gretchenfrage läßt der Beitrag, die wie der vorangehende weitgehend in den Kategorien der Epoche denkt, die er doch analysieren will, unbeantwortet.

Spezifischer informiert die Abhandlung von Joachim Mehlhausen über "Theologie und Kirche in der Zeit des Vormärz". Sie stellt eindringlich heraus, wie stark der religiös-theologische Bodensatz der damaligen Debatten war. Görres oder Schleiermacher, David F. Strauß oder Bruno Bauer markieren in Extremen die möglichen Denkfiguren der Zeit mitsamt ihren polittheologischen Implikationen. Es ging eben nicht nur darum, ob z. B. Bruno Bauer, der u. a. dem "Urevangelisten" Markus den Chronistenstatus abgesprochen und dafür zum Philosophen promoviert hatte, einen theologischen Lehrstuhl bekam oder nicht. Es ging vielmehr um die enge Verknüpfung von Weltbildern, Leitsemantiken und Macht ­ wie Bauers Bruder Edgar erfahren mußte, der 1843/44 in einer brillanten Schrift über den "Fall Bruno Bauer" geschrieben hatte: "Die Kirche ist die schwache Stelle des Staates. An ihr wird seine Mangelhaftigkeit klar. Der Staat ist die schwache Stelle der Kirche. An ihm beweist sich, daß die kirchliche Gemeinschaft nicht hinreicht, den Menschen zu befriedigen." Heute würde man dies als Einsicht in die Paradoxien bezeichnen, die sich ergeben, wenn Gesellschaften funktionale Ausdifferenzierung mit Macht verhindern. Damals erhielt Edgar Bauer vier Jahre Festungshaft. Nach 1848, so Mehlhausens wissenssoziologisch fundierte These, hat "die protestantische Theologie... ihre so vielfach anregende und bereichernde Stellvertreterfunktion" für politisch-soziale-mentale Debatten überhaupt verloren.

Der "Rechtsphilosophie zwischen Restauration und Revolution" wendet sich Hermann Klenner zu. Er unterscheidet vier staatsrechtliche, im geharnischten Streit miteinander liegende und doch mitsamt an romantische Denkimpulse anknüpfende Positionen: 1. von Hallers in jedem Sinne reaktionäre Rechtsphilosophie, 2. die liberale Rechtsphilosophie Aretins, Rotecks, Welckers u. a., 3. Friedrich Julius Stahl konservativ-monarchistisches Rechtsdenken und 4. die radikale Rechtsphilosophie von L. Feuerbach. A. Ruge, K. Marx u.a ­ ein gescheiter Lexikonartikel, keine "Streitsache".

"Die Verabschiedung der Romantik in Heines ’Romantischer Schule’" thematisiert Renate Francke. Spannender, weil spezifischer und strittiger, ist Volkmar Hansens Beitrag über die "Reformation der Liebe" bei F. Schlegel, Schleiermacher und Karl Gutzkow. Gutzkows Neuausgabe von Schleiermachers "Vertrauten Briefen über die Lucinde" 36 Jahre nach ihrem ersten Erscheinen ist in der Tat ein epochensymptomatischer Rückgriff auf frühromantische Emphase. Gutzkows Vorrede schließt mit der theologischen Wende panerotischer Konzepte: "Ach! hätte auch die Welt nie von Gott gewußt, / sie würde glücklicher seyn."

Weniger konturiert sind die folgenden Beiträge, die kenntnisreich, aber streitunlustig die Halleschen Jahrbücher charakterisieren (Norbert Oellers), Marxens Epikur-Rehabilitierung als Überwindung des Hegelianismus verstehen (Bernhard Lypp), die tiefambivalente Reaktion des ehemaligen 89-er-Enthusiasten Schelling auf die 48-er Revolution schildern (Martin Schraven), neue Unmittelbarkeit als Stichwort der nachhegelischen Philosophie eruieren (Andreas Arndt) und an die weitgehend vergessene spätidealistische Metaphysik I. H. Fichtes erinnern (Gunter Scholtz).

Auffallend ist bei der Lektüre, wie sehr und wie selbstverständlich die sog. Geisteswissenschaften den Streit um die angemessenen Kategorien von Analyse, Diagnose und Reflexion eben nicht nur referieren, sondern fortsetzen ­ zumeist eben in den Kategorien der damaligen Epoche. Der Versuchung, sich bei der Analyse einer Epochenschwelle etwa auf Kategorien der Systemtheorie oder der historischen Semantik einzulassen, sind die Beiträge leider nicht erlegen. Selbst die philologisch sich doch stets anbietende Möglichkeit, übersehene, verdrängte oder vergessene Texte wiederzubeleben (der Rez. nutzt die Gelegenheit, paradigmatisch auf die Schriften Alfred Meißners zu verweisen) wurde weder vom Herausgeber noch von den Beiträgern ergriffen. Denn auch der Quellenband bringt ausschließlich Texte, die nicht nur Spezialisten nicht ganz unbekannt sind (von Schlegels "Signatur des Zeitalters" über Heines "Romantische Schule" bis hin zu Stahls Vortrag "Was ist die Revolution?"). Dennoch lohnt die zusammenhängende Lektüre, weil die Zusammenstellung bekannter Texte unterschiedlicher Autoren, nach dem Wort des Hg.s, "das gedankliche Umfeld" der einzelnen Texte erhellt.

"Streitsachen": So lautet der Obertitel der Reihe. Gelehrt und kenntnisreich sind die Einzelbeiträge gewiß. Wo aber bleibt der Streit? Allenfalls werden alte "Streitsachen" rekonstruiert. Ein veritabler Streit aber setzt zumindest voraus, daß man das, worum man streitet, gemeinsam im Fokus hat. Das aber ist nicht der Fall: über ein streitfähig konturiertes gemeinsames Romantik-, Vormärz- oder Linkshegelianismuskonzept sucht man vergebens. Was hätten, um an die einleitenden Bemerkungen anzuknüpfen, so streitlustige Geister wie Heine oder Nietzsche dazu gesagt?